Im gemeinsamen Interview nehmen Alf Reuter (Präsident des BIV-OT), Jens Sellhorn (Geschäftsführer Rehavital), Dr. Axel Friehoff (Leiter Vertragsmanagement & Kassenverträge Egroh), Ben Bake (Vorstandsvorsitzender Sanitätshaus Aktuell) und Thomas Piel (Geschäftsführer Reha- Service-Ring) Stellung zur Zusammenarbeit und den Zielen des Bündnisses.
OT: Im Verbund setzen sich BIV-OT und vier maßgliche Leistungserbringergemeinschaften gemeinsam für die Interessen der Branche ein. Was war der Auslöser dieses Entschlusses?
Jens Sellhorn: Offen gesagt hat dazu vor allem der Generationswechsel bei den Akteuren maßgeblich beigetragen. Kurz nach meiner Ernennung zum Geschäftsführer bin ich meinerseits auf unsere Marktbegleiter und den BIVOT zugegangen, da es mich schon seit Jahren stört, über ein „Wir“ im Markt zu reden, ohne dass etwas Konkretes passiert ist. Wir sind uns von Anfang an mit einer hohen, gegenseitigen Wertschätzung begegnet und haben dabei das eigene Ego zurückgestellt. Der wirtschaftliche Druck und die Veränderungsdynamik sind mittlerweile so hoch, dass es gar nicht anders ging, aus den losen Kontakten eine, wenn man es so sagen kann, verschworene Gemeinschaft zu machen. Wir setzen den Wettbewerb ja nicht aus, es gibt aber viele übergeordnete, gemeinsame Themen.
Zudem müssen wir im Sinne unserer Branche endlich unser Durchsetzungsvermögen gegenüber der Politik erhöhen. Dies geht nur gemeinsam. Niemand von uns hat etwas davon, wenn die Politik zu einem Thema vier verschiedene Positionspapiere auf dem Tisch liegen hat. Wir müssen mit einer Stimme sprechen. Dies wird der Schlüssel sein, um der Politik auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Unser Ziel ist es, so gut wie es nur geht, gegenüber den politischen Akteuren sowohl geschlossen als auch entschlossen aufzutreten. Klar ist auch, dass ein gemeinsames Agieren viele Abstimmungsrunden bedeutet und ja, auch Kompromisse gehören dazu. Wir sind aber davon überzeugt, dass sich diese Mühe lohnen wird und wir so vor allem durchsetzungsfähiger werden, was uns im Hinblick auf unsere aktuellen Herausforderungen, verbunden mit dem „Superwahljahr“ 2021, enorm wichtig ist. Denn, wir brauchen in Deutschland mehr Wertschätzung und bessere Rahmenbedingungen für unsere Branche! Dafür setzen wir uns alle zusammen mit Herzblut ein.
OT: Eine zentrale Forderung ist die ausnahmslose Systemrelevanz der Leistungserbringer medizinisch-notwendiger Versorgungen. Warum wird dies in der Politik nicht grundsätzlich anerkannt?
Alf Reuter: Die Politik erkennt die Systemrelevanz unserer Betriebe durchaus an! Es ist ein großer Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit in dem Bündnis – das zunächst noch nicht unter dem Motto „Wir versorgen Deutschland“ stand. Erst durch unsere gemeinsame politische Arbeit konnten wir die Sanitätshäuser aus der Schublade „Tankstellen und Drogerien“ rausholen. Jetzt werden wir als medizinisch relevantes Personal, das die Versorgung im Gesundheitswesen elementar stützt, auch von der Ständigen Impfkommission mit der höchsten Priorität anerkannt. Auch in Sachen persönlicher Schutzausrüstung (PSA) sind wir uns mit der Politik einig: Ebenso wie Ärzte, Kliniken, Apotheken und Physiotherapeuten sollen auch wir den Mehraufwand an PSA natürlich vergütet bekommen. Das geht klar aus dem Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) hervor. Angesichts der Vielzahl der verschiedenen Versorgungsbereiche hat der Gesetzgeber allerdings eine Pauschalregelung abgelehnt. Die Höhe der Vergütung wurde daher in die Hände der Krankenkassen und Leistungserbringer gelegt. Was die Umsetzung anbelangt, gibt es meines Wissens im Moment keinen einzigen Politiker, der sich nicht über die – um es höflich zu sagen – sehr verhaltene Vorgehensweise der Krankenkassen wundert. Worum es uns in der Forderung im Dossier geht: Diese Einsichten dürfen keine Eintagsfliegen bleiben. Es hat sich während Corona gezeigt, welche Bedeutung der Hilfsmittelversorgung zukommt und daher muss sie auch entsprechend in allen Strukturen abgebildet werden. Da ist noch einiges an Nachjustierung nötig. Aber wir sind da in enger Abstimmung mit der Politik.
OT: Die Pandemie wird Deutschland weiterhin beschäftigen. Über das GPVG bekommt die Hilfsmittelbranche nun über den § 127 (Verhandlungsverträge) finanzielle Unterstützung bei der persönlichen Schutzausrüstung (PSA). Gleichzeitig wird ein anderer Weg als bei Zahnärzten oder Heilmittelerbringer bestritten. Nachvollziehbar?
Ben Bake: Man könnte auch sagen: Vielen Dank für nichts! Wir dürfen jetzt mit über 100 Krankenkassen einzeln über eine mögliche PSA/Hygienepauschale verhandeln? Das kann es doch nicht sein. Haben wir im ersten Lockdown nicht eindrucksvoll bewiesen, welche Rolle wir als Hilfsmittelerbringer in der ambulanten Versorgung spielen? Ohne die Sanitätshäuser und Homecare-Unternehmen hätten viele Patienten im Krankenhaus verbleiben müssen. Wir fordern eine einheitliche krankenkassenübergreifende Pauschale für die PSA pro Patientenkontakt mit einer unbürokratischen Abrechnungsposition genauso wie sie die Ärzte, Zahnärzte und Heilmittelerbringer haben!
OT: Inwieweit sorgt der § 127 in der Praxis überhaupt für spürbare Entlastung?
Thomas Piel: Der im Mai 2019 „renovierte“ § 127 verfeinert Versorgungsprozesse und macht Abläufe klarer. Spürbare Entlastung findet man nur langsam durch neue und marktgerechte Vertragsanpassungen wie Digitalisierungsthemen in Verträgen (z. B. Tracking oder Videochat). Ein Vorteil ist ganz klar die Abschaffung der Ausschreibung. Der Markt kann wieder verhandeln und Möglichkeiten ausschöpfen, zu Vor- und Nachteilen aller Seiten. Das Ziel, durch die Änderungen eine Verwaltungsvereinfachung zu erreichen, ist leider nicht gelungen. Die Verhandlungen sind immer noch durch traditionelles Denken bestimmt. Leider fehlt auf allen Seiten der Mut zu Veränderungen und deutlichen Signalen wie z. B. in die Richtung „Weg mit dem Papierkram, hin zum nutzerorientierten Patienten Hier gilt es aufzupassen, dass der „freie“ Markt den „Fachhandel“-Markt in den kommenden Jahren nicht ablöst, wenn das nicht erwünscht ist.
OT: Wie kann hier nachgebessert werden?
Axel Friehoff: Der Gesetzgeber hat am 1. Januar 2021 mit dem § 127 Abs. 1 S. 2 SGB V den Leistungserbringern und ihren Verbänden das Recht eingeräumt, mit den Kostenträgern über eine Erstattung der Kosten für persönliche Schutzausrüstung zu verhandeln. Leider zeigen die Krankenkassen – bis auf Ausnahmen – bisher wenig Bereitschaft zu Verhandlungen. Der GKV-Spitzenverband wiederum sieht sich nicht ermächtigt, die Verhandlungen für seine Mitgliedskassen zu führen. Das und die zeitliche Dringlichkeit machen die Situation sehr problematisch. Denn Verhandlungen mit immer noch über 100 Krankenkassen mit insgesamt Hunderten Verträgen sind kurzfristig nicht realisierbar. So vergeht Woche um Woche ohne eine Lösung für die Leistungserbringer. Deshalb fordern wir das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) auf, den GKV-Spitzenverband zu ermächtigen und zu beauftragen, mit den Hilfsmittel-Leistungserbringern und ihren Verbänden Verhandlungen aufzunehmen und Regelungen für die pandemiebedingt anfallenden Kosten für persönliche Schutzausrüstung zu treffen. Dies könnte beispielsweise durch eine entsprechende Verordnung aus dem BMG geschehen.
OT: Sie weisen als Bündnis ebenso darauf hin, dass tragende Entscheidungen der Gesundheitsbranche im Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA) verhandelt und auf den Weg gebracht werden. Gleichzeitig sind das Handwerk und der Fachhandel hier praktisch nicht vertreten. Mit welcher Begründung und wie lässt sich dieser Zustand ändern?
Sellhorn: Die Antwort hat uns die Politik immer wieder gespiegelt. Leistungserbringer sind verantwortlich für die qualitätsgesicherte Versorgung von Patient:innen mit Hilfsmitteln, daher fordern wir selbstbewusst ein gleichberechtigtes Mitbestimmungsrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss. Insbesondere sollte jedoch die Einbindung von Experten seitens der Leistungserbringer für die seitens des G‑BA verantworteten Entscheidungen bei den „Veranlassten Leistungen“ sichergestellt werden. Es kann nicht weiter hingenommen werden, dass Ärzte, Krankenkassen und Patientenvertreter regelmäßig über Versorgungsleistungen entscheiden, ohne uns als verantwortliche Leistungserbringer mit unserer Kompetenz und in unserer gesetzlich verankerten Verantwortung für die qualitätsgesicherte Versorgung aktiv in den Entscheidungsprozess einzubinden. Ein Anhörungsrecht reicht dafür einfach nicht aus. Übrigens möchte ich an dieser Stelle auch erwähnen, dass wir bei den ambulanten Leistungen der Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bzw. „neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“ ebenfalls beteiligt werden möchten. In diesem Ausschuss wird über die „neuen“ Kassenleistungen entschieden, die ebenfalls die Hilfsmittelbranche betreffen können. Sofern der G‑BA nicht positiv darüber entschieden hat, dürfen diese Leistungen nicht zu Lasten der GKV abgerechnet werden. Daher ist es für uns wichtig, dass über diese positiv entschieden wird. Da sollten wir als Fachexperten ein Wörtchen mitreden. Ein aktuelles Beispiel ist z. B die Vakuumtherapie.
OT: Die Branche hat in der Vergangenheit große Erwartungen in das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) und Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) gesetzt. Dennoch suchen und finden Kostenträger mitunter weiterhin fragwürdige Schlupflöcher für Verträge nach Ausschreibungskriterien. Muss das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) als Rechtsaufsicht mit mehr Befugnissen und Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet werden?
Piel: Durch das BAS haben wir ja schon eine Möglichkeit, Dinge die aus unserer Sicht nicht rechtskonform laufen, anzusprechen. Das BAS macht auch einen guten Job und greift diese Themen zügig auf. Leider liegt das Problem größtenteils im Tagesgeschäft. Hier sollte der Gesetzgeber einschreiten! Helfen würde z. B. ein frühzeitiger wirtschaftlicher Schutzmechanismus im Gesetz. Nach Erfüllung einer Dienstleistung sollte jedem Leistungserbringer auch die vereinbarte Vergütung zustehen. Dass diese Diskussion überhaupt geführt werden muss, ist schon obsolet und geht aus meiner Sicht weit über die Prüfverpflichtung der Kostenträger hinaus. Allein der daraus resultierende Mehraufwand verteuert den Prozess der Leistungserbringung für alle Beteiligten.
OT: Welches Projekt im Kontext der Hilfsmittelversorgung sollte eine künftige Bundesregierung mit Aufnahme ihrer Amtsgeschäfte nach den kommenden Wahlen priorisiert und mit welchem Ziel verfolgen?
Bake: Das sind im Wesentlichen vier Projekte, die wir als Bündnis hier sehen: Hilfsmittelleistungserbringer sollen offiziell als systemrelevant anerkannt werden und ihre Mitbestimmung und Anhörung bei den sie betreffenden gesetzlichen Rahmenbedingungen klar definiert sein. Dazu kommt die effektive und valide Digitalisierung: Wir fordern eine frühzeitige Einbindung der Hilfsmittelerbringer, damit Digitalisierung im Gesundheitswesen kein Stückwerk wird und wirklich zu der administrativen Erleichterung und Prozessoptimierung führt, die wir von ihr erwarten. Wichtig ist für uns ein Lese- und Schreibzugriff auf die relevanten Versicherteninformationen in der elektronischen Patientenakte (ePA) sowie die Erstattung der notwendigen Investitionskosten für Hard- und Softwareausrüstung, um sowohl in den Geschäftsräumen wie auch im wohnortnahen häuslichen Umfeld mit digitaler Unterstützung Versorgungen durchführen zu können. Des Weiteren erwarten wir die konsequente Umsetzung des gesetzlich verankerten Makelverbots bei allen digitalen Prozessen.
Friehoff: Darüber hinaus gilt es, Insellösungen zu verhindern. Bei einigen Pilotprojekten werden bereits Parallelstrukturen zur Gematik aufgebaut. Das muss gesetzlich unterbunden werden. Eine eindeutige gesetzliche Klarstellung ist wie eben gesagt ebenfalls erforderlich hinsichtlich des Makelverbots gemäß § 33 Absatz 6 SGB V, genauso auch bezüglich der Verantwortung und Kompetenz der Leistungserbringer gemäß § 7 Absatz 3 der Hilfsmittelrichtlinie. Außerdem müssen die Beteiligungsrechte des Gesundheitshandwerks und der handelsorientierten Leistungserbringer gemäß § 126 SGB V in der Versorgungsplanung und ‑gestaltung erweitert werden. Reine „Anhörungsrechte“ sind bei der fortlaufenden Anpassung des Leistungsrechtes, wie etwa der Aktualisierung des Hilfsmittelverzeichnisses, der Festlegung von Festbeträgen/Zuschüssen, bei krisenbedingten Anpassungen der Hilfsmittelrichtlinie oder der Erarbeitung von allgemeinen Richtlinien nach bisheriger Erfahrung nicht ausreichend.
OT: Das veröffentlichte Dossier mit den politischen Ansprüchen Ihres Interessenverbundes soll kein einmaliger Akt gewesen sein. Was planen Sie für die Zukunft?
Reuter: Wer im politischen Raum aktiv sein will, der muss vor allem eines sein: verbindlich, verlässlich und greifbar. Die Politik muss wissen, mit wem sie es zu tun hat und wir müssen ein verlässlicher Ansprechpartner sein. In unserem Verständnis bedeutet die Interessensvertretung, dass wir dauerhaft die Qualität der politischen Entscheidungen verbessern und damit auch unsere Expertise einbringen wollen. Um das zu erreichen, sind erst einmal ganz banale Dinge zu regeln: Wir brauchen eine E‑Mail-Adresse, einen Sitz in Berlin, eine Rufnummer und einen verlässlichen Abstimmungsprozess. Das, was wir untereinander abstimmen, muss nicht nur von allen verstanden, sondern auch aktiv an die verschiedenen Politiker herangetragen und gelebt werden.
Wir haben aus der Branche inzwischen viele positive Reaktionen erhalten und es haben sich weitere Vertreter der Leistungserbringer bei uns gemeldet. Sie wollen sich dem Bündnis anschließen und unsere Forderungen aktiv unterstützen. Auch damit beschäftigen wir uns bereits und entwerfen Modelle. Bei allem dürfen wir auch das nicht vergessen: Wir müssen unsere Mitglieder mitnehmen können. Sie müssen sehen, warum nur dieses gemeinsame Vorgehen die Verbesserung des Versorgungsalltags bringt. All das gehen wir jetzt an. Zusammen und Schritt für Schritt.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
Der nächste Live-Videotalk „Gesundheitspolitik im O Ton” des Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“ findet am 10. April 2021 von 13.30 bis 15.30 Uhr statt.
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