Einführung
Vor etwa 20 Jahren wurde die Korsett-Therapie durch die raschen Erfolge der operativen Skoliosebehandlung an die Grenze zur Pseudomedizin gedrängt. Die damaligen Ergebnisse der internationalen Literatur reichten bis zur völligen Ablehnung der Korsettbehandlung – unter Veröffentlichung vorgeblich wissenschaftlicher Beweise für deren Wirkungslosigkeit. Nur durch eine konsequente und intensive Fortführung der wissenschaftlichen Arbeit ist es gelungen, die Datenlage sukzessive zu verbessern.
Anhand der gelisteten Veröffentlichungen in PubMed (Abb. 1) wird deutlich, wie konsequent hier gearbeitet wurde. Auch durch Eingrenzung der Stichwörter kommt es zu keiner Verschiebung des Trends zur Erkenntniszunahme. Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass in den ersten Jahren zwischen 1995 und 1999 noch einzelne Beiträge gelistet sind, die die Effektivität der Korsettbehandlung verneinen. Einen nicht zu vernachlässigenden Effekt brachte auch die Gründung einer eigenen Zeitschrift („Scoliosis”) der Gruppe SOSORT, die sich speziell der konservativen Skoliosebehandlung widmet. Da sich auch die SRS mit ihrem wissenschaftlichen Know-how sachlich dem Thema zuwandte, konnten Beweisführungen auf ungeahntem wissenschaftlichem Niveau erzielt werden – diese werden im folgenden Abschnitt dargelegt.
Entwicklung der wissenschaftlichen Literatur
1995 waren es Alf L. Nachemson und Lars-Erik Peterson, die mit ihrer wissenschaftlichen Studie 1 die Korsettbehandlung vor dem wissenschaftlichen Untergang bewahrt haben. In ihrer prospektiven Studie konnte gezeigt werden, dass sich der Therapieerfolg bei Korsettbehandlung signifikant vom natürlichen Progredienzverlauf bei der idiopathischen Skoliose unterscheidet (Abb. 2). Dies mag heute wenig überraschen, war damals aber konträr zur Auffassung vieler renommierter Orthopäden.
2005 und somit erst 10 Jahre später konnten unter diesen Voraussetzungen auch die wissenschaftlichen Kriterien der SRS etabliert werden 2.
2008, also weitere 3 Jahre später, wurden die klinischen Kriterien für die Korsettbehandlung durch die Vereinigung SOSORT (Vereinigung konservativ tätiger Orthopäden) festgelegt. Sie bilden bis heute die aktuelle Grundlage für die Behandlungsempfehlung. Ein Krümmungsausmaß von 20° (25°) bis 50° Cobb-Winkel und ein noch zu erwartendes Wachstum von 2 Jahren stellt eine klare Korsett-Indikation dar; die Randbedingungen bleiben aber weiter in der Diskussion. Die Krümmungsform und damit die Korrigierbarkeit im Korsett werden damit zur zentralen Frage 3.
2013 wird durch einen Beitrag im New England Journal of Medicine die Korsettbehandlung auf eine neue Stufe der Akzeptanz gestellt. Dass überhaupt ein Beitrag zum Thema Korsettbehandlung in dem genannten Journal akzeptiert wird, weist auf die hohe Qualität der Arbeit hin; es handelt sich um eine prospektiv randomisierte Multicenterstudie. Vereinfacht dargestellt wurden Patienten mit einer Korsettbehandlung nach strenger Indikation per Zufallsprinzip einer Vergleichsgruppe ohne Korsett gegenübergestellt. Als Therapieversagen wurde ein Cobb-Winkel von 50° festgelegt, der gleichzeitig eine Grenze zur Operationsindikation bildet. Damit konnte in der Behandlungsgruppe eine Erfolgsrate von 72 % im Vergleich zur Beobachtungsgruppe von 48 % gezeigt werden. Zusätzlich wird eine signifikant positive Korrelation zwischen Korsetttragedauer und Endergebnis ermittelt. Die umfassende Literaturauswertung durch die Verfasser verdeutlicht, welch hoher Aufwand – bis hin zu ethischen Überlegungen aufgrund des Vergleichs mit einer unbehandelten Kontrollgruppe – für diese Studie notwendig war 4.
An diesen 4 Beispielen wird augenscheinlich, welch langer Weg bis zur wissenschaftlichen Akzeptanz der Korsettbehandlung nötig war. Die nun folgenden Überlegungen lassen sich anhand der Literatur begründen, wobei wissenschaftliche Nachweise aber teils noch fehlen.
Dies darf somit auch als Aufforderung aufgefasst werden, Behandlungsergebnisse wissenschaftlich zu evaluieren, um von der Gesamtaussage der Wirksamkeit zur individuellen Indikations- und Behandlungsrichtlinie zu kommen. Oberstes Ziel ist es, Patienten mit guten Erfolgsaussichten zu behandeln und Patienten ohne zu erwartenden Behandlungserfolg die Korsett-Therapie zu ersparen.
Korsett-Indikation
Die Korsett-Indikation ist nach den bereits dargelegten wissenschaftlichen Unterlagen zwar klar geregelt. Das wohl wichtigste Problem stellt jedoch die immer wieder viel zu späte Diagnosestellung einer Skoliose dar. Hier gibt es vor allem bei den Schuluntersuchungen Verbesserungsbedarf. Ebenso werden immer wieder Behandlungen ohne ärztliche und radiologische Diagnostik durchgeführt, wodurch sich die Ausgangslage für eine frühzeitige Korsettversorgung verschlechtert.
Bei Diagnosestellung einer Skoliose wird die Progredienzwahrscheinlichkeit zum zentralen Thema; selbige steht im Mittelpunkt der genetischen Tests und liefert eine Entscheidungshilfe für die Korsett-Indikation. Wiederum muss darauf hingewiesen werden, dass sich Patienten mit fehlender oder auch nicht beherrschbarer Progredienz, aber auch mangelnder Compliance für die Korsettbehandlung nicht eignen. Diese „Fehlindikationen” wirken sich negativ auf die Compliance aller Patienten aus und schaden dem Ruf der Behandlungsform. Auch die Operation der Skoliose hat ihre Indikation, ist aber nicht Thema dieses Beitrages. Die Konzentration auf erfolgversprechende Korsett-Indikationen muss demnach das erklärte Ziel sein.
Korsett-Behandlung
Die Beurteilung der Korsettqualität erfolgt anhand des Ergebnisses der Primärkorrektur, wohl wissend, dass das Ergebnis auch wesentlich von der Rigidität der Skoliose selbst geprägt ist. Wird in der Bending-Aufnahme und im Korsett keine ausreichende Korrektur erzielt, ist die Behandlungsindikation zu hinterfragen. Die Frage nach dem geeigneten Korsett-Typ bzw. der Korsettfertigung – ob manuell oder digital – bleibt vorerst weiter offen.
Der Zusammenhang zwischen Korsett-Tragedauer und Korrekturergebnis ist evident. Die Frage nach der optimalen täglichen Tragedauer kann aktuell aber noch nicht sicher beantwortet werden. Ob sich die Korsettanwendung während des Tages oder in der Nacht günstiger auswirkt, ist kaum erforscht. Das Thema der Korsettabschulung ist weder vom Zeitpunkt noch vom Vorgehen in der Literatur eindeutig abzulesen. Ohne Zweifel muss aber dem Erhalt der Wirbelsäulenbeweglichkeit zukünftig mehr Bedeutung beigemessen werden. Die Erfahrung mit der Anschlussdegeneration nach operativer Skolioseversorgung weist in diese Richtung.
Die Compliance der Patienten ist derzeit in aller Munde. Wenn jedoch all die divergierenden Aussagen und Empfehlungen in Betracht gezogen werden, ist ein Mangel an Compliance nicht verwunderlich: „Welchen Empfehlungen soll der Patient folgen?” In nicht wenigen Fällen ist schlechte Compliance ein Spiegelbild der Uneinigkeit der an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen. Dies wird auch durch Studienergebnisse gestützt, bei denen sich Vorteile für die stationäre Behandlung mit „einem” Therapieregime zeigen.
Die physiotherapeutischen Maßnahmen treten ebenfalls immer stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung. Eine Cochrane-Studie liefert einen Überblick zum Stand von 2011 5.
In den SOSORT-Richtlinien von 2011 wird auch auf die Bedeutung der verschiedenen Behandlungsziele eingegangen und damit der Weg zu einer Evaluierung der Behandlungsqualität vorbereitet 6.
Wie viel Physiotherapie ist unter Anleitung notwendig und wie viel an selbstständigem Übungsprogramm kann gefordert werden? Diese Frage ist besonders auch für die Kostenträger von großem Interesse. Eine verallgemeinernde Aussage über die Effektivität ist derzeit noch nicht möglich. Das Behandlungskonzept nach Katharina Schroth bleibt aber weiterhin das Maß der Dinge, siehe zum Beispiel 7.
Evaluierung der Behandlungsqualität
Die Evaluierung der Korsetteffektivität erfolgt fast ausschließlich über den Cobb-Winkel. Dabei ist dieses Maß für die Beurteilung einer dreidimensionalen Fehlstellung zwar unzureichend. Ob jedoch dessen rasche Ablösung durch verfügbare dreidimensionale Röntgenaufnahmen mit nur mehr einem Zehntel der Strahlenbelastung bevorsteht, mag bezweifelt werden – die finanzielle Hürde ist vorerst noch zu hoch. Die rotatorische Komponente und das sagittale Profil lassen sich über die Körperoberfläche gut beurteilen. Entsprechende Messverfahren bieten somit eine gute Alternative und ermöglichen auch eine Beurteilung des kosmetischen Aspektes der Körpersymmetrie. Die gleichzeitige Beurteilung der Wirbelsäulenbeweglichkeit liefert weitere Informationen über die Auswirkungen der Korsettbehandlung.
Messverfahren zur Beurteilung der Patientencompliance stellen einen wichtigen Fortschritt in der Objektivierung der Korsett-Therapie dar; allerdings fehlen Messparameter zur Beurteilung der Qualitätskriterien bei den Behandlern. Damit wird der Eindruck erweckt, dass nur die Patienten ein Compliance-Problem haben, dies ist bei objektiver Betrachtung aber nicht so.
Die Erhebung der Quality-of-Life-Parameter mittels evaluierter Fragebögen liefert wichtige Hinweise zur Differenzierung von Belastungsfaktoren durch die Korsettbehandlung und durch die Skoliose. Diese Erkenntnisse müssen bei der Behandlung in Zukunft Berücksichtigung finden. In den genannten SOSORT-Guidelines von 2011 wird auf die verschiedenen Behandlungsziele speziell eingegangen (Ästhetik, Quality of Life, Behinderung vermeiden, Rückenschmerzen vermindern, psychologisches Wohlbefinden, Progression im Erwachsenenalter verhindern, Atemfunktion verbessern, Krümmungsausmaß verringern).
Das Thema Korsettfertigung, ob durch den Orthopädie-Techniker vor Ort oder durch eine zentrale Fertigung, wird sicherlich in den nächsten Jahren zur Diskussion anregen. Objektive Messergebnisse werden in die eine oder andere Richtung weisen und damit die Zukunft vorgeben.
Zusammenfassung
Weinstein und seine Arbeitsgruppe haben den Druck von uns genommen, eine nicht bewiesene altmodische Behandlungsform zu vertreten. Dies ist aber nicht der Zielpunkt der wissenschaftlichen Arbeit, sondern vielmehr der Startpunkt für eine weitere differenzierte Forschung auf dem Gebiet der Korsettbehandlung.
Für die Autoren:
Dr. Franz Landauer
Landeskrankenhaus Salzburg
Univ. Klinik für Orthopädie der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität
Müllner Hauptstraße 48
A – 5020 Salzburg
f.landauer@salk.at
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Landauer F, Henhapl A. Fortschritte in der Behandlung der idiopathischen Skoliose. Orthopädie Technik, 2014; 65 (4): 36–39
- 2‑Schalen-Orthese mit Kondylenabstützung in Carbontechnik zur orthopädischen Schuhversorgung — 4. Oktober 2024
- Orthopädische Versorgung der neuromuskulären Skoliose: Vorteile von biomechanisch optimierten Rumpforthesen am Beispiel des „neuroBrace“-Systems — 4. Oktober 2024
- Rekonstruktion der ersten „Eisernen Hand“ des fränkischen Reichsritters Gottfried (Götz) von Berlichingen (1480 – 1562) — 4. Oktober 2024
- Nachemson AL, Peterson LE. Effectiveness of treatment with a brace in girls who have adolescent idiopathic scoliosis. A prospective, controlled study based on data from the Brace Study of the Scoliosis Research Society. J Bone Joint Surg Am, 1995; 77 (6): 815–822
- Richards BS, Bernstein RM, D’Amato CR, Thompson GH. Standardization of criteria for adolescent idiopathic scoliosis brace studies: SRS Committee on Bracing and Nonoperative Management. Spine (Phila Pa 1976), 2005; 30 (18): 2068–2075; discussion 2076–2077
- Weiss HR, Negrini S, Rigo M, Kotwicki T, Hawes MC, Grivas TB, Maruyama T, Landauer F. Indications for conservative management of scoliosis (SOSORT guidelines). Stud Health Technol Inform, 2008; 135: 164–170
- Weinstein SL, Dolan LA, Wright JG, Dobbs MB. Effects of bracing in adolescents with idiopathic scoliosis. N Engl J Med, 2013; 369 (16): 1512–1521. doi: 10.1056/NEJ-Moa1307337. Epub 2013 Sep 19
- Romano M, Minozzi S, Zaina F, Saltikov JB, Chockalingam N, Kotwicki T, Hennes AM, Negrini S. Exercises for adolescent idiopathic scoliosis: a Cochrane systematic review. Spine (Phila Pa 1976), 2013; 38 (14): E883-E893
- Negrini S, Aulisa AG, Aulisa L, Circo AB, de Mauroy JC, Durmala J, Grivas TB, Knott P, Kotwicki T, Maruyama T, Minozzi S, O’Brien JP, Papadopoulos D, Rigo M, Rivard CH, Romano M, Wynne JH, Villagrasa M, Weiss HR, Zaina F. 2011 SOSORT guidelines: Orthopaedic and Rehabilitation treatment of idiopathic scoliosis during growth. Scoliosis, 2012; 7 (1): 3
- Weiß HR. Befundgerechte Physiotherapie bei Skoliose. 3. Auflage. München: Pflaum Verlag, 2010