Fei­er­stun­de in Ber­lin: 100 Jah­re Verbandsgeschichte

Links und rechts von Kerzen geleitet, führt der Weg durch den erleuchteten Biergarten und schließlich in das imposante Foyer, aus dem der Klang von Jump, Swing und Jive ertönt.

Plötz­lich scheint die Uhr zurück­ge­dreht wor­den zu sein. Spä­tes­tens der Blick hin­ter den sam­te­nen Vor­hang und in das Spie­gel­zelt hin­ein lässt das Nacht­le­ben der 1920er-Jah­re dann voll­ends auf­le­ben. Es war wohl die idea­le Loca­ti­on, um das Jubi­lä­um des Bun­des­in­nungs­ver­bands für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) zu fei­ern, um an Ver­gan­ge­nes zu erin­nern und auf Kom­men­des ein­zu­stim­men. Denn in die­ser Zeit, genau gesagt im Jahr 1923, wur­de der Grund­stein für den heu­ti­gen Ver­band gelegt. Gemein­sam mit zahl­rei­chen Gäs­ten aus Indus­trie, Medi­zin, Poli­tik und Kos­ten­trä­gern stieß der Ver­band am Mon­tag, 13. Novem­ber, in der „Bar jeder Ver­nunft“ in Ber­lin an – auf die zurück­lie­gen­den 100 Jah­re und vor allem auf die nächsten.

Kirs­ten Abel, Spre­che­rin des Prä­si­di­ums, und Mar­ti­na Bia­l­as, Assis­ten­tin der Geschäfts­füh­rung, führ­ten durch den Abend und begrüß­ten als ers­ten Red­ner den „Kapi­tän“, für den stets der Leit­satz „Auf­ge­ben gibt’s nicht“ gel­te und der trotz oft star­ker und schnell wech­seln­der Win­de per­fekt durch die See manö­vrie­re – BIV-OT Prä­si­dent Alf Reu­ter. Und der mach­te deut­lich: 100 Jah­re Ver­bands­ge­schich­te zu fei­ern, heißt vor allem 100 Jah­re gemein­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung zu fei­ern. Getra­gen wer­de die­se von allen im Saal Anwe­sen­den, von Handwerker:innen, Mediziner:innen, Vertreter:innen aus Indus­trie, Poli­tik und Kos­ten­trä­gern. „Wie gut uns die Ver­sor­gung der Men­schen mit medi­zi­ni­schen Hilfs­mit­teln gelingt, dar­an wer­den wir von der Gesell­schaft und jedem ein­zel­nen Pati­en­ten gemes­sen“, beton­te Reu­ter. Doch die gesund­heits­po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen der ver­gan­ge­nen Jah­re, wie Kli­nik­po­li­tik, Öko­no­mi­sie­rung und Büro­kra­tie, stell­ten die Bran­che vor Her­aus­for­de­run­gen. Die Fol­ge: Intrans­pa­renz, Fehl­ver­sor­gun­gen und das Aus­blu­ten der klein- und mit­tel­stän­di­schen Betrie­be. Von zehn offe­nen Meis­ter­stel­len wer­den aktu­ell nur maxi­mal zwei besetzt. Eine Ent­wick­lung, die Reu­ter bang wer­den las­se, bang um jene Men­schen, die auf die best­mög­li­che Ver­sor­gung ange­wie­sen sind. Vor Jah­ren habe das deut­sche Gesund­heits­sys­tem zu den bes­ten der Welt gehört – und genau da will Reu­ter wie­der hin. Er ver­sprach, auch die wei­te­ren 100 Jah­re für die Inter­es­sen und Rech­te der Patient:innen laut­hals zu strei­ten, und ani­mier­te die Gäs­te, ihm dies gleichzutun.

Wer auf die Geschich­te der Ortho­pä­die-Tech­nik zurück­bli­cken möch­te, darf nicht ver­ges­sen, Klaus Ditt­mer zu Wort kom­men zu las­sen. Ein Mann, der viel von der Welt gese­hen hat, infor­miert und unter­stützt, wo er kann, und nicht müde wird, auf die Not­wen­dig­keit des Berufs­stands auf­merk­sam zu machen, kün­dig­te Bia­l­as den Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­ter an. Und der ließ, wie soll­te es anders sein, die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re des Fachs und Ver­bands Revue pas­sie­ren und mach­te dabei deut­lich, dass poli­ti­sche Ereig­nis­se auf kaum ein Hand­werk und sei­ne Ver­ei­ni­gung einen so gro­ßen Ein­fluss hat­ten wie auf die Ortho­pä­die-Tech­nik. Neue Ver­sor­gungs­for­men kom­men auf die Bran­che zu, so Ditt­mer, und wer­den den Patient:innen eine immer grö­ße­re Teil­ha­be ermög­li­chen. Sein Appell an alle Nach­wuchs­kräf­te: „Schau­en Sie nicht nur auf den Bild­schirm! Das Resul­tat einer zufrie­den­stel­len­den Ver­sor­gung sehen Sie im Gesicht des Patienten!“

Ver­sor­gungs­be­darf steigt

Dank­bar für die tele­fo­ni­sche Stand­lei­tung und die kri­ti­sche Neu­tra­li­tät zeig­ten sich die Mode­ra­to­rin­nen über Andre­as Brand­horst. Jeder­zeit ste­he der Lei­ter des Refe­rats „Ver­trags­zahn­ärzt­li­che Ver­sor­gung, Heil­mit­tel­ver­sor­gung, Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung, Ret­tungs­dienst“ des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Gesund­heit dem BIV-OT mit Rat und Tat zur Sei­te. 100 Jah­re – für ihn ein beein­dru­cken­der Zeit­raum und einer, in der die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung und die Ortho­pä­die-Tech­nik enor­me Ent­wick­lun­gen gemacht haben – sowohl hin­sicht­lich der Tech­nik als auch hin­sicht­lich der gesell­schaft­li­chen Bedeu­tung. Aktu­ell gebe es 30 Mil­lio­nen Ver­sor­gungs­fäl­le pro Jahr. Künf­tig wer­de es dabei aber nicht blei­ben. Durch den demo­gra­fi­schen Wan­del, die Zunah­me chro­ni­scher Erkran­kun­gen und den wach­sen­den Anspruch der Gesell­schaft an Teil­ha­be stei­ge der Bedarf wei­ter. „Im Gegen­zug wird die Anzahl der Bei­trags­zah­ler nicht anstei­gen“, ergänz­te er. Zwar kön­ne der Gesetz­ge­ber Rege­lun­gen zwi­schen Kran­ken­kas­sen und Leis­tungs­trä­gern defi­nie­ren, doch kön­ne er die­se nicht im Detail umset­zen. Zu weit ent­fernt sei der Gesetz­ge­ber dafür vom Ver­sor­gungs­all­tag. Was es brau­che, sei­en Hin­wei­se von gesell­schaft­li­chen Akteu­ren, die nicht nur auf die Öko­no­mie, son­dern auch ethi­sche Prin­zi­pi­en ach­ten. Als einen sol­chen habe Brand­horst den BIV-OT ken­nen- und schät­zen gelernt.

Ger­not Kie­fer, Stell­ver­tre­ten­der Vor­stands­vor­sit­zen­der des GKV-Spit­zen­ver­bands, beton­te, dass die Gesell­schaft sich kei­ne archai­sche Arbeits­tei­lung mehr leis­ten kann. Die Vor­stel­lung, dass die Ent­schei­dungs­kom­pe­tenz aus­schließ­lich bei den Ärzt:innen liegt und allen ande­ren Akteu­ren ledig­lich eine Ergän­zungs­funk­ti­on zukommt, sei längst über­holt. Not­wen­dig ist laut Kie­fer eine plu­ra­lis­ti­sche Struk­tur, bei der alle Gesund­heits­be­ru­fe und Gesund­heits­hand­wer­ke die Ver­sor­gung je nach Kom­pe­tenz mit­ge­stal­ten. Sein Wunsch für die kom­men­den Jah­re: Rea­lis­mus und streit­ba­re Gespräche.

Mit Prof. Dr. med. oec. Bern­hard Grei­temann, Ärzt­li­cher Direk­tor der Kli­nik Müns­ter­land am Reha Kli­ni­kum Bad Rothen­fel­de, trat danach ein Red­ner auf die Büh­ne, der, so Bia­l­as und Abel, ein lang­jäh­ri­ger Beglei­ter des BIV-OT und aus gutem Grund in fast jedem Lehr­buch der Tech­ni­schen Ortho­pä­die zu fin­den ist. Ortho­pä­die und Ortho­pä­die-Tech­nik sei­en schon lang eng mit­ein­an­der ver­bun­den und nur zusam­men erfolg­reich, so Grei­temann. Gleich­zei­tig kri­ti­sier­te er, dass in der Fach­arzt­aus­bil­dung kon­ser­va­ti­ve Inhal­te aktu­ell ver­nach­läs­sigt wer­den. Er als Medi­zi­ner sei froh und dank­bar, die Ortho­pä­die-Tech­nik an sei­ner Sei­te zu wis­sen, und glaubt – trotz der Her­aus­for­de­rung, qua­li­fi­zier­tes Per­so­nal zu fin­den – an ihre boo­men­de Zukunft.

Weni­ger Büro­kra­tie für mehr Zeit an den Patient:innen

Kurz­fris­tig ver­hin­dert war Prof. Hans Georg Näder, Eigen­tü­mer und Vor­sit­zen­der des Ver­wal­tungs­rats der Otto­bock SE & Co. KGaA. So nutz­te Kirs­ten Abel die Zeit, spon­tan Stim­men aus dem Saal ein­zu­sam­meln. Jür­gen Gold (Euro­com), nahm dabei die eigens zum Jubi­lä­um gestal­te Bro­schü­re des BIV-OT in die Hand. Auf dem Cover: Men­schen ver­schie­de­nen Alters, Geschlechts, mit unter­schied­li­chen Bedürf­nis­sen und Wün­schen. Die­se Indi­vi­du­en zu ach­ten, genau das macht laut Gold das OT-Hand­werk und die Indus­trie aus. Zudem wünsch­te er dem BIV-OT, dass der Pro­zess der Digi­ta­li­sie­rung in die rich­ti­ge Rich­tung geht und dass der Ver­band die Her­aus­for­de­run­gen, die die Büro­kra­tie mit sich bringt, erfolg­reich bewäl­tigt. Wie bedeut­sam es ist, an einem Strang zu zie­hen, beton­te Wal­ter Micha­el Leu­the (Spor­la­s­tic). Sei­ner Mei­nung nach braucht es eine gemein­sa­me Spra­che gegen­über der Poli­tik und allen ande­ren Akteu­ren. Den Men­schen im Mit­tel­punkt zu bewah­ren, stellt für Tho­mas Gast (Össur) eine Berufs­eh­re dar, für die es sich zu kämp­fen lohnt. Als in sei­ner Form ein­ma­li­ges Güte­sie­gel bezeich­ne­te Oli­ver Jako­bi (Otto­bock) den Bun­des­in­nungs­ver­band. Deutsch­land hebe sich ins­be­son­de­re durch das Fach­wis­sen sowie durch das dua­le Aus­bil­dungs­sys­tem vom Aus­land ab. Dies gel­te es zu bewah­ren. Als Segen nimmt Frank Hep­per (Sprin­ger Aktiv) die Arbeit, die der BIV-OT ver­rich­tet, wahr. Auch künf­tig dür­fe ange­sichts der zahl­rei­chen Her­aus­for­de­run­gen nicht locker gelas­sen wer­den, sich für das Wohl der Patient:innen einzusetzen.

Wün­sche für den Ver­band konn­ten die Gäs­te zudem auf Kärt­chen hin­ter­le­gen. Dar­un­ter zu fin­den waren: groß­zü­gi­ge Kos­ten­trä­ger, glück­li­che Patient:innen, enga­gier­ter Nach­wuchs, Mut, Neu­es zu wagen, immer wäh­ren­de Freu­de am Beruf, poli­ti­sches Durch­set­zungs­ver­mö­gen, Ent­schei­dungs­stär­ke sowie weni­ger Büro­kra­tie für mehr Zeit an den Patient:innen.

Wie es sich für einen Geburts­tag gehört, durf­te eine Tor­te nicht feh­len. Gemein­sam mach­ten Petra Men­kel und Alf Reu­ter den ers­ten Schnitt. Wer hat die Hand oben? Vor­stand oder Prä­si­dent? Auch wenn es anfangs die der Ban­da­gis­ten­meis­te­rin war, so sah es letzt­lich doch nach – gewohn­ter – Gemein­schafts­ar­beit aus. Auf die nächs­ten gemein­sa­men 100 Jahre!

Pia Engel­brecht

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