Eine Unterstützung im Rehabilitationsprozess soll das digitale Lernmodul „Rehabilitation after Amputation Teaching Tool“ – kurz RehAmpTT – der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) bieten. Schrittweise führt es die Nutzer:innen durch die Phasen der rehabilitativen Versorgung. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erläutern Dr. phil. Christoph Egen und Dr. med. Jörg Schiller, Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin der MHH, die Hintergründe des vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Projekts.
OT: Nach einer Amputation ist Rehabilitation der Schlüssel, um wieder zurück ins Leben zu finden. Welche Bedeutung kommt dem Lernmodul RehAmpTT hier zu?
Christoph Egen: Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht richtig einschätzen, da das Lernmodul erst seit dem 1. November 2023 zur Verfügung steht und erst langsam durch Vorstellung auf Kongressen, Informieren von Fachverbänden sowie über E‑Mail-Verteiler und persönliche Kontakte bekannt wird. Es kann aber natürlich keine medizinische Rehabilitation ersetzen! Es bietet eine sinnvolle Ergänzung für Betroffene und Familienangehörige sowie für Angehörige medizinischer Fachberufe, die bislang nur wenig oder gar nichts mit der Rehabilitation arm- und/oder beinamputierter Menschen zu tun hatten. Bei der Gestaltung hatten wir unter anderem ein Akutkrankenhaus vor unserem geistigen Auge, das sich nun – aufgrund der hohen Fallzahlen – auch zunehmend um die Rehabilitation kümmern muss und das Tool zur Fortbildung der Mitarbeitenden nutzen könnte.
OT: Erläutern Sie bitte kurz die Inhalte des Lernmoduls.
Jörg Schiller: In einem ersten Schritt muss man sich für den Bereich der oberen oder unteren Extremität entscheiden. Auf einer zweiten Ebene wählt man eine von drei Reha-Phasen, also postoperative Phase, Interimsphase oder Erhaltungsphase aus. In allen Phasen finden sich die Inhalte zu folgenden neun Themengebieten: Aktivitäten des täglichen Lebens; Bewegung, Kraft und Mobilität; Bodymanagement und Coping; Hilfsmittel; Prothese; Schmerz; Schwellung; Stumpfpflege und Wunde. Zum Teil sind dann hier noch weitere Unterbereiche vorhanden, wie zum Beispiel bei „Schmerz“, wo nach der allgemeinen Darstellung der medikamentösen und therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten noch tiefer auf Wund‑, Stumpf- und Phantomschmerz eingegangen wird. Die Inhalte bestehen in der Regel aus einem Pathway, kurzen Texten sowie Bildern und Videos zur Behandlung, Selbstübung und praktischen Tipps, etwa wie man sich einhändig einen Pullover anziehen kann.
OT: Die Plattform enthält also einen Berg an Informationen. Inwiefern gewährleisten der Aufbau und die Benutzerführung, dass sich die Nutzer:innen nicht überfordert fühlen?
Egen: Die Reha-Phasen und Themen sind farblich und durch intuitiv verständliche Icons voneinander zu unterscheiden. Wie Nutzerinnen und Nutzer damit klarkommen, werden wir sicher noch mitbekommen. Eine Testung war aufgrund der kurzen Projektlaufzeit leider nicht möglich.
OT: Wichtig ist bei der Rehabilitation die Zusammenarbeit aller an der Versorgung Beteiligten. Wird das Modul diesem Anspruch gerecht?
Schiller: Das Lernmodul verfolgt einen holistischen Ansatz. Alle Berufsgruppen können sich über die Arbeit der anderen Berufsgruppen informieren. Aber den Anspruch einer Zusammenarbeit am und mit den Patientinnen und Patienten kann ein solches Tool nicht gewährleisten, da dies in der realen Welt passieren muss. Das Tool fördert aber sicher ein fachübergreifendes Verständnis.
OT: Das Modul richtet sich an verschiedene Zielgruppen – auf der einen Seite an das Fachpersonal und auf der anderen Seite an Betroffene und Angehörige. Wie gelingt es alle gleichermaßen anzusprechen? Dominiert die Theorie oder sind die Inhalte auch für den Alltag anwendbar?
Egen: Das ist themenspezifisch: Bei zum Beispiel „Schmerz“ und „Wunde“ dominiert die Ansprache an die Angehörigen medizinischer Fachberufe, bei den „Aktivitäten des täglichen Lebens“ und „Bewegung, Kraft und Mobilität“ in der Erhaltungsphase sind die Patientinnen und Patienten die Adressaten, da es hier um ganz praktische Tipps und Selbstübungen geht. Alle Inhalte sind aber unabhängig von den Adressaten immer mehr praktisch als theoretisch orientiert.
OT: Welche Funktion nimmt das Tool konkret im Versorgungsprozess ein?
Schiller: Das können wir noch nicht abschätzen. Auf dem 32. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium im Februar 2023 in Hannover hatten wir es in einer hybriden Ukraine-Session vorgestellt und stießen auf großes Interesse. Ob das Tool die Erwartungen erfüllt, bleibt abzuwarten.
OT: Im Mittelpunkt jeder Versorgung steht der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen. Wie individuell kann so ein Online-Tool sein?
Egen: Ja, die konkreten Versorgungsbedürfnisse eines amputierten Menschen sind sehr individuell und häufig sehr komplex, sodass auch unser standardisiertes Rehabilitationssystem in Deutschland – zumindest jenseits der DGUV-Versorgungsstrukturen – im Prinzip überfordert ist (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Anm. der Red.). Ein in acht Monaten erstelltes Online-Tool kann nicht auf die vielfältigen Problemlagen eingehen und ob dies auch mit mehr Zeit überhaupt möglich und sinnvoll wäre, ist zu bezweifeln. Und wie gesagt: Das Tool kann die menschliche Zuwendung nicht ersetzen, sondern nur ergänzen!
OT: Die Inhalte entsprechen der klinischen Praxis in Deutschland. Inwiefern sind diese auf das Versorgungssystem in der Ukraine übertragbar?
Schiller: Sehr gut. Das Rehabilitationssystem der Ukraine war vor dem Angriffskrieg vielleicht nicht so aufgestellt wie das deutsche System, aber es ist auch nicht vergleichbar mit einem Rehabilitationssystem in einem Entwicklungsland. Was das System aber sicher überfordert, sind die enormen Fallzahlen. Man vermutet circa 50.000 zusätzliche Arm- und Beinamputationen seit Kriegsbeginn, und ein Ende ist leider nicht in Sicht. Und das sind überwiegend junge Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben. Die rehabilitative Versorgung dieser Patientengruppe wird die Ukraine auch nach einem hoffentlich baldigen Ende des Kriegs sicher noch Jahrzehnte beschäftigen – auch im zivilen Bereich, durch die vielen verminten Landstriche. Während in Deutschland die Zahlen der Beinamputationen glücklicherweise seit Jahrzehnten rückläufig sind und somit auch die Versorgungsroutine abnimmt, so wird sich die Ukraine auf diesem Gebiet zweifelsohne und bedauerlicherweise eine enorme Expertise aneignen.
OT: Die Plattform wurde vor dem Hintergrund des Angriffskriegs auf die Ukraine ins Leben gerufen. Kann sie darüber hinaus auch für Deutschland und andere Länder eine Unterstützung im Versorgungsprozess sein?
Egen: Ja, davon sind wir überzeugt. Auch in Deutschland ist der rehabilitative Versorgungsprozess nach Amputation zumeist von vielen Brüchen und administrativen Hürden gekennzeichnet. Häufig ist auch fehlendes Wissen bei den verschiedenen versorgenden Berufsgruppen im Spiel. Hier bietet das Tool zumindest eine Grundlage. Ein weiteres Anwendungsgebiet des Lernmoduls kann in der Ausbildung von Studierenden der Medizin, aber auch in der Ausbildung von Physio- und Ergotherapeutinnen und ‑therapeuten liegen. Hausärztinnen und Hausärzte wären sicher ebenfalls eine sinnvolle Zielgruppe. Da man über Microsoft Edge die Seiten unabhängig von der im Tool hinterlegten ukrainischen Übersetzung in alle möglichen Sprachen übersetzen kann, kann es prinzipiell auch von allen genutzt werden und aufgrund der zunehmenden kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt, wird es sicher leider auch in anderen Ländern zum Einsatz kommen – sofern es dort eine entsprechende Bekanntheit erlangt. Damit es möglichst viele Personen nutzen können, haben wir es über die Open-Source-Plattform ILIAS gestaltet, sodass es kostenlos verfügbar ist.
OT: Können Sie bereits ein erstes Fazit ziehen?
Schiller: Die bisherigen Rückmeldungen von Expertinnen und Experten sind durchweg positiv. Wie sich die Nutzung dann vor Ort gestaltet, bleibt abzuwarten. Für ein Fazit ist es noch zu früh.
Das Lernmodul RehAmpTT steht online auf deutscher, ukrainischer und englischer Sprache zur Verfügung.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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