Einleitung
Graduierte Kompressionsstrümpfe werden als universelle Behandlungsmethode für die meisten venösen Erkrankungen verschrieben. Dazu zählen Krampfadern und refluxbedingte Hautveränderungen (einschließlich Geschwüre), Schwellungen durch venöse Stauungen (Abb. 1) sowie das durch Reflux und Obstruktion verursachte postthrombotische Syndrom 1. Graduierte Kompressionsstrümpfe sind jedoch auch ohne vorliegende Venenerkrankung zur Verringerung von Beschwerden und Ödemen beim Stehen und Sitzen indiziert 2. Sie bieten Komfort bei der Ausübung von Sport und können die Regeneration verbessern 3. Auch bei der Prävention von Hautveränderungen können sie wirksam sein (Abb. 2).
Die chronische venöse Insuffizienz (CVI) ist ein hämodynamischer Begriff, der sich auf die Venenfunktion, sprich den Abfluss, bezieht. Das Abflusssystem der Beine transportiert das Blut gegen die Schwerkraft nach oben. Die vier Haupterkrankungen, die diesen Abfluss verhindern, sind: Reflux, Obstruktion, Tonusverlust und schwache Muskelpumpe. Ein mangelnder Abfluss muss jedoch nicht unbedingt pathologischer Natur sein. In der Tat ist die physiologische venöse Insuffizienz (beschäftigungsbedingtes Ödem) ein allgegenwärtiges Phänomen. Längeres Stehen über einen bestimmten Zeitraum verursacht bei jedem Menschen ein Ödem sowie in den meisten Fällen Venenbeschwerden, unabhängig davon, ob eine venöse Erkrankung vorliegt oder nicht 4.
Ziel dieser Studie war es, die elastischen In-vivo-Eigenschaften graduierter Kompressionsstrümpfe an gesunden Beinen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit (1) beim Verhindern von Schwellungen in den Beinen, (2) beim Auflösen venöser Stauungen und (3) bei der Verbesserung der Wadenmuskelpumpe zu untersuchen. Diese Arbeit war Teil einer detaillierten hämodynamischen Studie zur Untersuchung der Drainagemerkmale graduierter Kompressionsstrümpfe an den Beinen von Patienten und gesunden Freiwilligen 5.
Methodik
Studienaufbau
Es handelt sich um eine monozentrische Studie, die an 12 gesunden Freiwilligen ohne klinischen Nachweis einer Venenerkrankung durchgeführt wurde. Mittels Luft-Plethysmographie (APG, ACI Medical LLC, San Marcos, Kalifornien, USA) wurde die In-vivo-Wirkungsweise eines medizinischen Unterschenkel-Kompressionsstrumpfes (VenoTrain, Bauerfeind AG, Zeulenroda, Deutschland) der Kompressionsklasse 1 (CCL 1, 18–21 mmHg) und der Kompressionsklasse 2 (CCL 2, 23–32 mmHg) untersucht. Beim APG-Test kommt eine mit einem Drucksensor ausgestattete Manschette zum Einsatz, die am Unterschenkel angelegt wird. Sie dient dazu, die Volumenänderung (ml) sowie die Volumenänderungsrate (ml/s) bei Provokationsmanövern, Haltungsänderungen und Kompressionsanwendungen aufzuzeichnen 6. Die Probanden übten eine Selbstkontrolle aus, indem sie die Messungen ohne und anschließend mit den zwei Klassen von Kompressionsstrümpfen verglichen. Die Studie wurde von der Ethikkommission genehmigt (REC-Referenz, 13/LO1863).
Druckstufe mit maximaler Volumenzunahme (IPMIV)
Bei diesem Test liegt der Proband auf dem Rücken, wobei die Ferse auf einem Schaumstoffblock abgestützt ist, um Platz für die Unterschenkelsensormanschette zu schaffen 7. Am Oberschenkel wurde eine 18 cm breite Kompressionsmanschette (konturierte Oberschenkelmanschette CC17, Hokanson®, D. E. Hokanson, Inc., Bellevue, Washington, USA) angelegt und an eine Druckluftpumpe (VenaPulse®, ACI Medical LLC, San Marcos, Kalifornien, USA) angeschlossen. Die Druckluftpumpe verfügt über einen bedarfsgesteuerten, raschen Füll- bzw. Ablassmechanismus, um den vom Bediener frei wählbaren Luftdruck einzustellen. Die Oberschenkelmanschette wird in 10-mmHg-Schritten stufenweise aufgepumpt. Bei jedem folgenden Aufpumpvorgang wird die Zunahme des Unterschenkelvolumens mit dem Schreiber (Abb. 3) aufgezeichnet. Der inkrementelle Druck der Oberschenkelmanschette, der die maximale Volumenzunahme bewirkt, wird als IPMIV-Parameter (IPMIV= incremental pressure causing the maximum increase in volume) in die Tabelle eingetragen. Er steht für den Druck, bei dem der Kompressionsstrumpf nachgibt und sich am stärksten ausdehnt. Zu diesem Zeitpunkt kann der Kompressionsstrumpf die Erweiterung des Unterschenkels nicht länger kontrollieren.
Abflussfraktion („outflow fraction“, OF)
Dieser Test wird bei einem Fülldruck der Oberschenkelmanschette von 80 mmHg bei stabilem Plateau durchgeführt 8. Das plötzliche Ablassen des Luftdrucks in der Oberschenkelmanschette führt dazu, dass das im Unterschenkel gestaute Venenblut in die Oberschenkelvenen strömt und den zuvor von der Oberschenkelmanschette komprimierten blutleeren Raum füllt. Diese Verringerung des Unterschenkelvolumens ist am Schreiber als Abflusskurve sichtbar (Abb. 3). Das in einer Sekunde abfließende Blutvolumen geteilt durch die Gesamtänderung des Unterschenkelvolumens von 0 auf 80 mmHg wird in der Tabelle als OF-Parameter eingetragen und in Prozent (%) ausgedrückt. Dieser Wert gibt die Kraft an, mit der der Kompressionsstrumpf die venöse Stauung vom Unter- in den Oberschenkel ableitet. Ohne angelegten Kompressionsstrumpf dient er als Maß für den Venentonus und die elastischen Rückstelleigenschaften der Venen. Das Funktionsprinzip von Kompressionsstrümpfen basiert auf der Erhöhung des Venentonus.
Auswurffraktion („ejection fraction“, EF)
Bei diesem Test stehen beide Füße mit gleichmäßiger Gewichtsverteilung flach auf dem Boden, und die Beine sind leicht gespreizt, um Platz für die Sensormanschette am Unterschenkel zu schaffen. Der Proband wird gebeten, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und wieder in die Ausgangsposition zurückzukehren. Das Volumen sinkt mit einer einzigen Pumpbewegung ab (Auswurfvolumen, EV). Das Auswurfvolumen geteilt durch die Volumenänderung, die nach der Verlagerung des Beins aus einer erhöhten Position in den Stand erzielt wird (funktionell venöses Volumen – „working venous volume“, wVV), wird in der Tabelle als EF-Parameter eingetragen. Dies ist die Standardmethode zur Funktionsmessung der Wadenmuskelpumpe.
Ergebnisse
Durchschnittsalter [Interquartilbereich], wVV, IPMIV, OF und EF waren wie folgt:
- 30 [26–44] Jahre
- 80,2 [66,9–138,5] ml
- 20 [20– 30] mmHg
- 43,1 [37,8–50,1] %
- 51,9 [48,9–54,3] %
Die Kompressionsstrümpfe hatten eine deutliche Erhöhung des IPMIV- und OF-Parameters zur Folge, ergaben jedoch beim EF-Wert keinen Unterschied (Abb. 4).
Diskussion
Der Wirkmechanismus graduierter Kompressionsstrümpfe wurde bislang nicht klar definiert. Bekannt ist, dass sie die Heilung von Venengeschwüren und eine Besserung der Symptome bewirken. Des Weiteren wurden eine Linderung von Lipodermatosklerose und eine Verringerung von Hyperpigmentierung beobachtet. Doch wie wirken Kompressionsstrümpfe der Schwerkraft entgegen? Es sind vier Wirkmechanismen erkennbar: (1) Verringerung des transmuralen Drucks, (2) Verringerung des Gliedmaßenvolumens, (3) Erhöhung der elastischen Rückstellfunktion der Venen und (4) Verhinderung von Flüssigkeitsansammlungen.
Das kardiovaskuläre System ist eine Ansammlung von Druckleitungen, die von der Herz- und der Venenpumpe gespeist werden, auf Mikrozirkulationsebene jedoch „undicht“ sind. Der durch die externe Kompression erzeugte Gegendruck minimiert diese Undichtigkeit durch Verringerung des transmuralen Druckgradienten entlang der Gefäßwände. Auf diese Weise wird die Bildung von Ödemen reduziert, womit Mechanismus (1) erfüllt ist.
Die Kompression verringert das Venenvolumen und die venöse Wandspannung. Dadurch wird die maximale Venendilatation verhindert. Eine länger andauernde Venendilatation führt im Laufe der Zeit zu einer Zunahme des Venenvolumens, da es zu einem Abbau der Kollagenfasern kommt. Interessanterweise wirkt sich die Kompression unter Umständen nicht auf die Verringerung des hydrostatischen Venendrucks in gesunden Beinen aus, die sich inaktiv in sitzender bzw. stehender Position befinden. Unter der Annahme, dass eine hohe venöse Wandspannung für die bei Venenerkrankungen auftretenden Gewebeschäden verantwortlich ist, spielt die Kompression eine signifikante Rolle bei der Verringerung der Wandspannung, womit Mechanismus (2) erfüllt ist.
Die Rolle von Venentonus und ‑elastizität wird selten als venöser Rückflussmechanismus in Betracht gezogen. Der Arterientonus spielt bei der Blutdruckregulierung sowie bei arteriellen Erkrankungen eine maßgebliche Rolle. Es wäre nicht allzu überraschend, wenn dem Venentonus bei der Regulierung des venösen Abflusses eine ähnliche Bedeutung zukäme. Mit zunehmendem Alter sowie beim postthrombotischen Syndrom verringern sich Venentonus und Venenelastizität, was mit einem vermehrten Auftreten venöser Erkrankungen einhergeht. Zudem tragen pharmakologische Wirkstoffe zur Verbesserung des Venentonus, sogenannte Phlebotonika, bei vielen Patienten zur Linderung der Symptome bei. Diese Arbeit hat gezeigt, dass graduierte Kompressionsstrümpfe die Ausbreitung venöser Stauungen verhindern und die Rückstelleigenschaften der Venen verbessern, womit Mechanismus (3) erfüllt ist.
Das extrazelluläre Flüssigkeitskompartiment umgibt die Zellen und ist anfällig für die Wirkung der Schwerkraft. Wie bei einem zum Trocknen aufgehängten nassen Handtuch sammelt sich die Gewebeflüssigkeit im untersten Teil an. Eine Funktion graduierter Kompressionsstrümpfe besteht darin, der schwerkraftbedingten Flüssigkeitsansammlung durch ein Druckgefälle entgegenzuwirken, das vom Knöchel aufwärts schrittweise abnimmt. Dadurch wird die Ausbreitung von Schwellungen im untersten Teil des Beins gehemmt, womit Mechanismus (4) erfüllt ist.
Die Funktion der Venenpumpe wird traditionell anhand des EF-Parameters gemessen, der nach erfolgtem Zehenspitzenstand-Manöver mit dem APG-Gerät ermittelt wird. Dieser ergibt sich aus der Volumenverringerung des Unterschenkels geteilt durch die Volumenänderung des Unterschenkels, die nach der Verlagerung des Beins aus einer erhöhten Position in den Stand erzielt wird (funktionell venöses Volumen, wVV). Die Kompression kann durch das verringerte Volumen in stehender/ sitzender Position den wVV-Wert reduzieren. Bei gesunden Beinen mit guter Abflussfunktion kann dies mit einer größeren Entleerung bei erhöhter Lagerung unter Umständen nicht erreicht werden. Folglich kann sich der wVV-Wert verringern. Die Kompression verringert jedoch auch die maximale Kapazität der Pumpkammer der Muskelpumpe. Eine volle Pumpkammer ist für ein hohes Auswurfvolumen (EV) zwingend erforderlich. Folglich bewirkt dieKompression ein verringertes Auswurfvolumen (EV). Laut Definition hat eine gleichmäßige Verringerung des wVV- und des EV-Werts keinen Einfluss auf die Auswurffraktion (EF).
Ein unveränderter EF-Parameter nach Anlegen eines Kompressionsstrumpfes ist kein Hinweis darauf, dass graduierte Kompressionsstrümpfe keine Pumpwirkung haben. Dies liegt daran, dass der EF-Parameter als Messparameter eventuell nicht optimal ist. Die elastischen Rückstelleigenschaften des Strumpfes sind unter Umständen von größerer Bedeutung als eine Ausdehnung der Pumpkammer während der Diastole des Wadenmuskels und ein venöser Auswurf während der Systole. In dieser Arbeit wurden die elastischen In-vivo-Eigenschaften eines Kompressionsstrumpfes anhand des IPMIV- und des OF-Parameters gemessen, wobei durch die Kompression ein deutlicher Anstieg dieser Werte verzeichnet wurde. Die bei der Bewegung des Beins ausgeübte Massagewirkung des Strumpfes ist, was die Steigerung des venösen Rückflusses betrifft, vermutlich eine geeignetere Hypothese. Des Weiteren konnte kürzlich gezeigt werden, dass ein Gewichtsverlagerungsmanöver eine deutlich größere Pumpwirkung als ein Zehenspitzenstand-Manöver erzielt, was das Zehenspitzenstand-Manöver als Testmethode nicht ideal erscheinen lässt 9. Klar ist, dass Kompressionsstrümpfe die Ansammlung venösen Blutes im Unterschenkel (Pooling) unterbinden und dass akkumuliertes Blut durch die elastischen Rückstelleigenschaften des Strumpfes leichter nach oben transportiert wird.
Fazit
Die Wirksamkeit graduierter Kompressionsstrümpfe hinsichtlich einer verbesserten Drainage der Beine bei gesunden Probanden kann mittels Luft-Plethysmographie objektiv gemessen und quantifiziert werden. Es wurden vier Wirkmechanismen identifiziert, die alle auf den elastischen Eigenschaften der Kompressionsstrümpfe beruhen.
Danksagungen
Der Hauptautor ist Gewinner des 7. Bauerfeind Phlebology Award, der alle zwei Jahre in Zusammenarbeit mit der International Union of Phlebology vergeben wird. Wir bedanken uns bei ACI Medical für die Bereitstellung des APG-Geräts sowie bei den gesunden Freiwilligen, die ihre Zeit in diese Studie investiert haben.
Für die Autoren:
Dr. Christopher R. Lattimer
Josef Pflug Vascular Laboratory
7th Floor, Ealing Hospital
Uxbridge Road
Southall, Middlesex, UB1 3HW
Großbritannien
c.lattimer09@imperial.ac.uk
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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