Einleitung
Bei der orthopädietechnischen Versorgung von Knickfüßen mit rück- und mittelfußstabilisierenden Orthesen kommt es häufig zu Druckstellen im Bereich des Os naviculare, zu medialen Verschwielungen der Großzehe und zu Druckstellen am lateralen Rand der fünften Zehe. Zudem haben die betroffenen Patienten meist ein außenrotiertes Gangbild bezogen auf die Kniemittelstellung, was eine Valgo-Flexionsstellung des Knies und eine Innenrotations- und Adduktionsstellung der Hüfte initiiert.
Somit stellte sich zum einen die Frage, ob es bei der MT1S-Fehlstellung möglich ist, über ein Orthesensystem einen ausreichenden Vorfußhebel unter dem Ballen der großen Zehe aufzubauen, um somit in der mittleren Standphase und während des Abrollvorgangs die mechanisch provozierte Achsabweichung von Hüfte, Knie und Fuß zu verhindern. Zum anderen stellte sich die Frage, ob durch eine Unterstützung unter dem Großzehenballen in der Orthese die mechanisch erzwungene Valgopronationsstellung im Mittel- und Vorfuß verhindert werden kann.
Die Studie
Retrospektiv wurden Patienten mit bilateraler Zerebralparese GMFCS 1 vor und nach 6‑wöchiger Orthesenversorgung mit der MT1S-Orthese (Abb. 1) mittels 2D-Ganganalyse, Pedobarographie und Auswertung des Gelenkstatus nach der Neutral-Null-Methode untersucht. Die untersuchten Patienten waren zwischen 11 und 17 Jahre alt. In die Studie wurden nur Patienten mit mindestens 5° Dorsalextension im oberen Sprunggelenk bei gestrecktem Knie aufgenommen. Die Auswirkung der Vorfußsupination auf den Q‑Winkel und den Fußöffnungswinkel sollte nicht durch eine begleitend vorhandene Achillessehnenverkürzung beeinträchtigt werden. Dorsalextension und Plantarflexion des Großzehengrundgelenks wurden gemessen, um eine achsengerechte Positionierung der großen Zehe in der Orthese berücksichtigen zu können.
Bei Patienten mit MT1S-Fehlstellung fällt auf, dass der erste Strahl des Fußes sowohl im Stand als auch beim Gehen nicht aktiv nach unten gedrückt wird und es somit zu keinem ausreichenden Kraftschluss zwischen der MTB1 und dem Boden in der Mid-Stance-Phase und während der Abrollphase kommt. Wird nun der Rückfuß korrigiert, steht der Mittel- und Vorfuß je nach Ausprägung der Fehlstellung in leichter bis stark ausgeprägter Supinationsstellung, die in der Regel aber passiv korrigierbar ist. Supinationskontrakturen können sich aber im Verlauf ebenso bilden und müssen daher frühzeitig erkannt, beachtet und behandelt werden. Eine unzureichende Funktion oder Ansteuerung des Musculus peroneus longus sowie eine gesteigerte Aktivität des Musculus flexor hallucis longus sind für die sich bildende Supinationsfehlstellung ursächlich. Die Patienten kompensieren diesen fehlenden Kraftschluss unter der MTB1 beim Gehen und im Stand in der Regel über die Plantarflexion der Großzehe. Dieser so gebildete Ersatzstützpunkt ist für das stabilisierende Kräftedreieck des Fußes, nun bestehend aus Ferse, Kleinzehenballen und Endglied der Großzehe, erforderlich, um den Fuß zumindest ansatzweise während der Belastungsphase zu stabilisieren. Diese Kompensation lässt sich über eine deutlich sichtbare Ausbuchtung und Abnutzung auf den Einlagen im Bereich des Endgliedes der Großzehe erkennen. Die plantare Verschwielung der MTB1 fehlt bei diesen Füßen in der Regel komplett; das Fettpolstergewebe ist im Bereich der MTB1 aufgrund der mangelnden Beanspruchung deutlich schwächer ausgebildet als im Bereich des Kleinzehenballens.
Da der über die Großzehe gebildete Ersatzstützpunkt zur Stabilisierung des Fußes während der Abrollphase nicht ausreicht, kommt es während dieser zu einer Valgisierung der Großzehe mit deutlicher Verschwielung am medialen Rand der Großzehe, einer Valgopronationsstellung des Mittel- und Vorfußes und einem dadurch provozierten Rückfußvalgus. Dieser initiiert dann im weiteren Verlauf eine Flexions- und Valgusstellung im Knie und eine Innenrotations- und Adduktionsstellung der Hüfte.
Zusammengefasst weist der MT1S-Knickfuß je nach Ausprägung folgende klinische Anzeichen auf:
- vergrößerter Fußöffnungswinkel im Stand und beim Gehen;
- Rotation der Großzehe nach medial, aus der sich im weiteren Verlauf eine Hallux-valgus-Deformität entwickeln kann;
- ausgeprägter Rückfußvalgus;
- Valgisierung und Flexion des Kniegelenks;
- Innenrotations-/Adduktionsstellung der Hüfte;
- gering ausgebildetes Spitzy-Fettpolster des Großzehengrundgelenks;
- Schwielen an der medialen Großzehe;
- stark ausgebildetes Spitzy-Fettpolster des Kleinzehengrundgelenks;
- Schwielen im Bereich des Os naviculare;
- mäßig bis stark ausgebildete Supinationsstellung des Mittel- und Vorfußes bei Calcaneus-Mittelstellung im entlasteten Zustand;
- bei passiver Korrektur der Supinationsstellung Bildung eines überhöhten Längsgewölbes;
- im weiteren Verlauf Bildung einer Beugekontraktur im Großzehengrundgelenk.
Neben der Klinik steht die Pedobarographie als weitere diagnostische Möglichkeit zur Verfügung. Mittels Pedobarographie lassen sich die Druckverhältnisse beim MT1S-Knickfuß unter dem Großzehenballen, dem Endglied der Großzehe und dem Längsgewölbe in der mittleren Standphase und der Abrollphase deutlich darstellen und vom Knicksenkfuß differenzieren. Dazu wurden Druckmesssohlen mit ca. 900 Messpunkten pro Sohle in die jeweiligen Schuhe eingelegt. Es wurden je zwei Messungen über je 20 Sekunden barfuß in einem Neutralschuh und mit der MT1S-Orthese in einem Orthesenschuh beim Gehen durchgeführt und anschließend einander gegenübergestellt. Die Druckverhältnisse wurden in g/cm² über die Software dargestellt. Auch die an die physiologische Abrollung angenäherte Schwerelinie unter der Verwendung der Orthese ließ sich zur weiteren Überprüfung darstellen.
Ebenso können mittels 2D-Ganganalyse der Q‑Winkel im Knie und der Fußöffnungswinkel gemessen und überprüft werden. Diese Winkel wurden mit einer computergestützten Laufbandanalyse und dem Programm „movecontrol“ ausgewertet. Der Fußöffnungswinkel wurde in der Unterschenkelansicht bezogen auf die Fortbewegungsrichtung gemessen. Als Referenzlinie wurde hierzu eine Linie vom medialen Fersenbein zur medialen Seite des Großzehenballens gewählt und der Winkel zur sagittalen Achse der Ebene gemessen. Dies wurde jeweils mit Orthese und barfuß durchgeführt. Die Aufnahmen von vorne mit der Ansicht des gesamten Körpers ermöglichten die Auswertung des Q‑Winkels. Dazu wurden den Patienten entsprechende Marker jeweils an der Spina iliaca anterior superior, in der Mitte der Patella und am distalen Ende der Tuberositas tibiae aufgeklebt. Durch eine Verkleinerung des Q‑Winkels lässt sich eine Aufrichtung der Beinachse darstellen. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Orthesenversorgung bei Patienten mit Knickfüßen ist daher eine genaue klinische Untersuchung, um damit eine klare Differenzierung der Fußfehlstellung in den Knickfuß mit Senk-Plattfuß-Komponente einerseits und den Knickfuß mit Vor- und Mittelfußsupination andererseits zu erhalten.
Das Orthesenkonzept
Die MT1S-Orthese besteht aus folgenden Komponenten:
- Die Derotationsspange unter dem ersten Strahl gleicht den unzureichenden Kraftschluss des Großzehenballens in der mittleren Standphase und Abrollphase aus. Der Rückfußvalgus, die Valgo-Flexionsstellung des Knies und die Innenrotations-/Adduktionsstellung der Hüfte werden dadurch weitestgehend aufgerichtet. Ferner hat diese Spange die Aufgabe, den exakten Abrollpunkt des Fußes zu definieren, um ein symmetrisches Schrittmuster zu erreichen.
- Der Rückfußcontainer dient der Korrektur des Rückfußvalgus. Dies wird durch eine laterale Führung des Calcaneus und eine Anlage im Talonaviculargelenk erreicht.
- Die dorso-mediale Mittelfußführung dient der Korrektur der Supinationsfehlstellung und mobilisiert den ersten Strahl in Kombination mit dem Mittelfußgelenk beim Abrollen in die Plantarflexion.
- Die laterale Mittelfußführung ermöglicht in Verbindung mit dem Mittelfußgelenk eine Extensionsbewegung des lateralen Mittel- und Vorfußes während der Abrollphase und verhindert die Abweichung in die Valgopronation.
- Der Plantarflexionsblocker stellt den Kraftschluss in der Orthese unter dem Großzehenballen und gegebenenfalls unter der Großzehe her und verhindert somit die kompensatorische Plantarflexion der Großzehe. Die große Zehe wird geführt, um die Beugung über die Nullstellung hinaus zu verhindern.
Anhand der erhobenen Daten ließen sich unmittelbare Verbesserungen erkennen; diese wurden sodann mit der Daten- und Analysesoftware SPSS 23.0 mittels t‑Test auf Signifikanz überprüft. Aus der Untersuchung von Patienten mit spastischer Zerebralparese GMFCS I, die mit dem MT1S-Orthesensystem versorgt wurden, ließen sich durch Ganganalyse und Pedobarographie sowie die erhobenen Winkelstellungen, die mit dem Goniometer ausgemessen wurden, folgende Ergebnisse ermitteln:
- Durch die Gegenüberstellung der Supinationsstellung im Vor- und Mittelfuß bei korrigiertem Rückfuß und der Druckwerte unter dem Großzehenballen aus der Pedobarographie im Neutralschuh ließ sich nachweisen, dass mit zunehmender Supination im Mittel- und Vorfuß der Kraftschluss unter dem Großzehenballen verlorengeht.
- Es besteht eine Korrelation zwischen der Supination im Vor- und Mittelfuß und der Hallux-valgus-Deformität: Je größer der gemessene Winkel der Hallux-valgus-Deformität, desto größer die gemessene Supination im Vor- und Mittelfuß (Abb. 2).
- Es wurde mit der MT1S-Orthese eine Verkleinerung des Fußöffnungswinkels erreicht; es erfolgte somit eine deutliche Annäherung an den physiologischen Fußöffnungswinkel (Abb. 3).
- Der Q‑Winkel konnte mit der MT1SOrthese verkleinert werden. Dadurch wurde eine deutliche Aufrichtung der Gelenkkette der unteren Extremität über die gesamte Standphase erreicht. Dies ergab in der statistischen Auswertung eine signifikante Verbesserung (Abb. 4).
- Der Kraftschluss konnte unter dem Großzehenballen mittels Derotationsspange vollständig hergestellt werden (Abb. 5).
- Ein physiologischer Verlauf der Kraftlinie beim Abrollen konnte mit der MT1S-Orthese erzielt werden.
Fazit
Es konnte nachgewiesen werden, dass es mit der MT1S-Orthese möglich ist, einen ausreichenden Vorfußhebel unter dem Ballen der großen Zehe aufzubauen, um somit in der mittleren Standphase und während des Abrollvorgangs die mechanisch provozierte Achsabweichung von Hüfte, Knie und Fuß zu verhindern. Ebenso konnte festgestellt werden, dass durch die Unterstützung unter dem Großzehenballen in der Orthese die mechanisch provozierte Valgopronationsstellung im Mittel- und Vorfuß verhindert werden konnte. Weitere Fehlstellungen wie beispielsweise eine Achillessehnenverkürzung können bei dieser Fehlstellung begleitend auftreten und müssen dann bei der Konzeptionierung der Orthese gesondert berücksichtigt werden.
Die Autorin:
Louisa Herde, M. Sc. Neuroorthopädie
Orthopädie Forum GmbH
Essenbacher Straße 23
91054 Erlangen
louisa.herde@orfo.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Quelle:
Herde L. Biomechanische Wirkungsweise eines neu entwickelten Orthesensystems bei Patienten mit bilateraler Zerebralparese GMFCS I. Masterthesis, Universität Krems, 2016. http://webthesis.donau-uni.ac.at/thesen/95034.pdf (Zugriff am 4.7.2017)
Herde L. Biomechanische Wirkungsweise eines Orthesensystems bei Knickfußfehlstellung mit Supinationsstellung im Vor- und Mittelfuß. Orthopädie Technik, 2017; 68 (8): 31–34
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