Tuberaufsitz zur Entlastung – Wirkung und Nebenwirkungen
Die klassische Versorgungsidee des Tuberaufsitzes ist die Entlastung des Hüftkopfes, wie sie früher in der Versorgung des Morbus Perthes üblich war. Der biomechanische Gedanke dabei ist, dass ein Teil des Körpergewichts über die Anstützung am Tuber os ischii in die Orthese eingeleitet und über die seitlichen Schienen und den Fußbügel in den Boden weitergeleitet wird (Abb. 1). Somit können theoretisch – wenn der Fuß in der Orthese keinen Bodenkontakt hat – alle Beinanteile distal des Tubers entlastet werden. Das funktioniert aber nur, wenn der Tuber auch auf dem Aufsitz aufliegt. Da der Tuberaufsitz aber Bestandteil der Oberhülse der Orthese ist, bewegt er sich bei der Flexion des Hüftgelenkes, wie sie bei der Lastübernahme zu Beginn der Standphase eingenommen wird, vom Tuber weg und kann somit genau in der Phase, in der die größte Stoßbelastung auf das Bein wirkt, die Last nicht aufnehmen (Abb. 2).
Des Weiteren kann die Orthese generell nur äußere Kräfte, also die direkten Bodenreaktionskräfte, übernehmen – die inneren Kräfte, also die muskuläre Reaktion der hüftübergreifenden Muskulatur, die zur Stabilisierung insbesondere des Einbeinstandes erforderlich ist, können nur indirekt beeinflusst werden. Somit ist selbst bei schwebendem Fuß in der Orthese eine gelenkpressende Kraft im Hüftgelenk vorhanden. Eine komplette Entlastung kann also nicht erreicht werden.
Die Teilentlastung der Beinstrukturen, die mit dem Tuberaufsitz ermöglicht wird, birgt noch einen weiteren, langfristig erkennbaren Nachteil: Die knöchernen Strukturen des menschlichen Körpers passen sich ein Leben lang den Belastungen an. Wird ein Knochen stärker belastet, baut sich Knochensubstanz auf – wird er weniger belastet, baut sich Knochensubstanz ab. Eine solche sogenannte Inaktivitätsosteoporose lässt sich im Röntgenbild von Patienten, die aufgrund ihrer individuellen Indikation auf einen Tuberaufsitz angewiesen sind, deutlich erkennen.
Eine weitere Nebenwirkung des Tuberaufsitzes zeigt sich am Ende der Standphase, wenn die Hüfte in Extension gebracht wird, um Schrittlänge zu generieren: In dieser Situation schiebt der Aufsitz nach proximal und provoziert so eine Beckenvorkippung, die über eine Hyperlordose ausgeglichen werden muss (Abb. 3). Alternativ kann der Patient natürlich auch kleinere Schritte machen oder unter Zuhilfenahme eines Rollators oder von Unterarmgehstützen vornüber geneigt laufen – beides sicherlich keine erstrebenswerte Kompensation.
Der Vollständigkeit halber sollte noch erwähnt werden, dass der Tuberaufsitz in der Regel – unabhängig vom Muskelstatus des Patienten – ein gesperrtes Orthesenkniegelenk erfordert. Durch den Tuberaufsitz verlagert sich die Lasteinleitung in die Orthese nach dorsal, wodurch die Belastungslinie hinter das Knie fällt, wodurch ein Flexionsmoment entsteht. Ohne Sperre müsste der Patient sich die Entlastung des Hüftgelenkes also durch eine stärkere Aktivität der kniestreckenden Muskulatur selbst erarbeiten, was wiederum zur Erhöhung der inneren Kräfte beiträgt – wodurch sich die sprichwörtliche Katze in den Schwanz beißt. Diese Verlagerung des Belastungsvektors erhöht aber nicht nur die inneren Kräfte, sondern auch die Biegebelastung auf die Orthesengelenke und die seitlichen Stabilitätsträger. Es kann also, um die Beanspruchung der Orthese zu vermindern, durchaus sinnvoll sein, bei Verwendung eines Tuberaufsitzes das Orthesengelenk nach hinten zu verlagern und damit näher an die Belastungslinie oder gar hinter die Belastungslinie zu bringen. Hier ist jedoch Fingerspitzengefühl gefragt, da die Inkongruenz zwischen anatomischem und orthetischem Drehpunkt beim Sitzen wieder andere Nachteile schafft.
Anhand dieser Auflistung der Nebenwirkungen eines Tuberaufsitzes wird deutlich, dass die Indikation mit Zurückhaltung gestellt und Vor- und Nachteile sorgsam abgewogen werden müssen. Welche Vorteile bringt aber nun der Tuberaufsitz für den Patienten mit sich, wenn der ursprüngliche Gedanke der Hüftentlastung nur eingeschränkt funktioniert?
Weitere Einsatzmöglichkeiten
Eine Teilentlastung kann zum Beispiel dann erforderlich werden, wenn das Bein wegen einer Bewegungseinschränkung in Knie- oder Hüftgelenk in einer flektierten Grundposition steht. Durch die Flexion verläuft der Belastungsvektor hinter dem Knie und erzeugt über die gesamte Standphase ein beugendes Moment. Diesem flektierenden Moment muss die Orthese ein extendierendes Moment entgegensetzen, das über die ventralen, kniegelenksnahen Anlageflächen auf das Knie übertragen wird (Abb. 4). Selbst wenn dort großflächige körperkongruente Anlageflächen geschaffen werden, kann dies bei stärkeren Beugestellungen dazu führen, dass die Drucktoleranz der Haut oder die Schmerztoleranz des Patienten überschritten werden. Wird dann ein Teil der Gewichtskraft über den Tuberaufsitz in die Orthese eingeleitet, erhöht sich zwar die mechanische Belastung der Orthese – gleichzeitig reduziert sich jedoch das beugende Moment, das auf die Beinachse wirkt. Dadurch ist auch das erforderliche extendierende Moment durch die Orthese geringer, und die benötigte Kraft an den vorderen Anlageflächen wird so weit reduziert, dass sie vom Patienten toleriert werden kann (Abb. 5).
Sinnvoll eingesetzt werden kann der Tuberaufsitz auch bei einer Schwäche der abduzierenden Muskulatur der Hüfte (Abb. 6). Diese führt in der Einbeinunterstützung zum Absinken des Beckens zur Gegenseite („Trendelenburg-Zeichen“), das in der Dynamik durch ein Seitpendeln des Oberkörpers ausgeglichen werden muss („Duchenne-Hinken“). Wird dies vom Patienten nicht toleriert, besteht die Möglichkeit, mit der Verwendung eines Gehstocks die Unterstützungsfläche so weit zu vergrößern, dass ein Seitpendeln des Oberkörpers nicht mehr notwendig ist, um das Lot aus dem Körperschwerpunkt über die Unterstützungsfläche zu bringen. Die grundlegende Problematik – das Absinken des Beckens – bleibt dabei jedoch erhalten; lediglich die Auswirkungen werden kompensiert. Hier kann der Tuberaufsitz ursächlich eingreifen. Betrachtet man die Anatomie des Beckens in der Frontalebene, so fällt auf, dass der Tuber os ischii weiter medial liegt als das Drehzentrum der Hüfte. Kippt also das Becken um den Drehpunkt der Hüfte ab, so senkt sich dabei der Tuber os ischii ab. Dieses Absenken kann durch den Tuberaufsitz verhindert werden (Abb. 7). Damit wird das Trendelenburg-Zeichen verhindert, und somit ist auch kein kompensatorisches Duchenne-Hinken erforderlich.
Ein weiterer positiver Aspekt kann die erleichterte Einleitung der Schwungphase durch den Tuberaufsitz sein. Wurde weiter oben noch die Beckenvorkippung bei Extension als Nachteil am Ende der Standphase aufgeführt, so kann sich dies bei Ausfall der hüftflektierenden Muskulatur in einen Vorteil verwandeln: Anstatt wie meist üblich kompensatorisch den Vorschwung des Beines durch die Rotation der Hüfte auf der Gegenseite einzuleiten und damit eine Zirkumduktion zu provozieren, kann der Patient über eine bewusste Beckenrückkippung, der Orthese, und damit auch dem Hüftgelenk, einen Flexionsimpuls geben (Abb. 8).
Aber nicht nur beim Ausfall der beugenden Muskulatur, auch beim Ausfall der Hüftstrecker kann der Tuberaufsitz bei der Kompensation helfen: Er dient in diesem Fall dem muskulär ungesicherten Gelenk als Extensionsbremse. Der Patient muss dazu lediglich den Teilkörperschwerpunkt des Rumpfes hinter den Hüftdrehpunkt verlagern. Dadurch würde die Hüfte normalerweise extendieren bzw. das Becken zurückkippen. Da dies durch den Tuberaufsitz verhindert wird, entsteht in Verbindung mit einem gesperrten Kniegelenk und einem Dorsalanschlag im Knöchelgelenk eine stabile Beinachse, ohne die die Schwungphase auf der Gegenseite nicht durchgeführt werden könnte.
Ramusumgreifung
Manche Lähmungspatienten – meist diejenigen mit ausgeprägter schlaffer Weichteildeckung im Oberschenkelbereich – bemängeln bei einer konventionellen Oberhülse ohne Tuberaufsitz bisweilen den weichteilbetonten Gegenhalt im hinteren oberen Anteil der Orthese. Der Gegenhalt hier wird benötigt, um über das 3‑Punkt-System (distaler Unterschenkel/Ferse von dorsal, kniegelenksnah von ventral und oberer Abschluss wieder von dorsal) das kniesichernde Moment aufzubauen. Müssen an diesem kniefernen dorsalen Gegenhalt erst die Weichteile stark komprimiert werden, bis sich für den Patienten ein spürbarer Gegendruck aufbaut, führt dies zu Unsicherheit. Wird die Oberschenkelhülse hier so weit verlängert, dass der Ramus von hinten mit umgriffen wird, der Tuber also in die Hülse hineinrutscht, entsteht hier ein deutlich definierter Gegenhalt, der das Sicherheitsempfinden des Patienten erhöht. Passt man nun den Randverlauf durch eine großzügige Ausstulpung an die Kontur der Weichteile an, entsteht optisch ein Tuberaufsitz, der in Wahrheit aber eine dorsale Ramusumgreifung ist (Abb. 9).
Bisweilen kann auch eine mediale Ramusumgreifung, wie sie aus der Oberschenkelprothetik bekannt ist, sinnvoll sein. In der Beinorthetik hat sie bei pathologisch bedingter geringer Überdachung des Hüftkopfes die Aufgabe, die Gefahr einer Hüftluxation zu minimieren. Da die Luxation des Hüftkopfes in der Regel mit einer Lateralisierung beginnt, lässt sich diese durch die Verklammerung zwischen medialer Ramusumgreifung und lateraler Femuranstützung verhindern. Einschränkend muss aber darauf hingewiesen werden, dass bei den betroffenen Patienten häufig auch der Ramus nur schwach ausgeprägt ist und eine Umgreifung daher relativ hoch ausgeführt werden muss, was der Toleranz nicht unbedingt förderlich ist. Alternativ lässt sich die Luxationsgefahr auch durch eine Lateralisierung der Unterstützungsfläche vermindern. Durch die Lateralisierung erhält der Vektor der Bodenreaktionskraft eine stärkere Neigung in Richtung Hüftpfanne und bewirkt dadurch eine höhere gelenkpressende Kraft, die der Luxation entgegenwirkt. Eine zu starke Lateralisierung führt aber zu einem stärkeren Seitpendeln des Oberkörpers, da der Gesamtkörperschwerpunkt auch weiter lateralisiert werden muss, um über die Unterstützungsfläche zu gelangen.
Fazit
Es konnte gezeigt werden, dass die dem Tuberaufsitz klassisch zugesprochene Aufgabe – die Entlastung – nur einen Teilaspekt der biomechanischen Wirkungen des Tuberaufsitzes darstellt. Die Nutzung dieser positiven alternativen Wirkprinzipien muss aber immer im individuellen Einzelfall gegen die möglichen negativen Nebenwirkungen abgewogen werden. Eine unreflektierte Verwendung des Tuberaufsitzes, nur weil der Patient diesen immer schon gewohnt ist, ist ebenso abzulehnen wie eine pauschale Verdammung, weil die Nebenwirkungen zu gravierend sein können. Häufig hilft nur, dem Patienten in einer Probeversorgung mit abnehmbarem Aufsitz beide Varianten anzubieten, damit er eine Vorstellung bekommt, ob er den Aufsitz als Bereicherung oder Behinderung empfindet.
Der Autor:
Ludger Lastring, OTM, M. Sc.
Bundesfachschule für Orthopädie-Technik
Schliepstraße 6–8
44135 Dortmund
l.lastring@bufa-ot.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Lastring L. Biomechanische Funktionen des Tuberaufsitzes in der Beinorthetik. Orthopädie Technik, 2018; 69 (6): 38–41
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