Bio­me­cha­ni­sche Funk­tio­nen des Tuber­auf­sit­zes in der Beinorthetik

L. Lastring
Originäre Aufgabe eines Tuberaufsitzes in der Beinorthetik ist die Entlastung des Hüftgelenkes selbst oder anderer Strukturen vom Hüftgelenk abwärts. Die meisten Indikationen – insbesondere im Bereich der Lähmungsorthesen – erfordern aber gar keine Entlastung, sondern primär eine externe Stabilisierung der Beinachse bei der Lastübernahme. Trotzdem findet man den Tuberaufsitz noch recht häufig in der Beinorthetik, und viele Patienten möchten auch nicht darauf verzichten. Wenn also der Patient gar keine Entlastung benötigt, aber trotzdem den Tuberaufsitz nicht missen möchte, steckt vielleicht mehr dahinter als reine Gewohnheit. Daher werden in diesem Artikel die Wirkungen und Nebenwirkungen des Tuberaufsitzes näher beleuchtet.

Tuber­auf­sitz zur Ent­las­tung – Wir­kung und Nebenwirkungen

Die klas­si­sche Ver­sor­gungs­idee des Tuber­auf­sit­zes ist die Ent­las­tung des Hüft­kop­fes, wie sie frü­her in der Ver­sor­gung des Mor­bus Per­thes üblich war. Der bio­me­cha­ni­sche Gedan­ke dabei ist, dass ein Teil des Kör­per­ge­wichts über die Anstüt­zung am Tuber os ischii in die Orthe­se ein­ge­lei­tet und über die seit­li­chen Schie­nen und den Fuß­bü­gel in den Boden wei­ter­ge­lei­tet wird (Abb. 1). Somit kön­nen theo­re­tisch – wenn der Fuß in der Orthe­se kei­nen Boden­kon­takt hat – alle Bein­an­tei­le distal des Tubers ent­las­tet wer­den. Das funk­tio­niert aber nur, wenn der Tuber auch auf dem Auf­sitz auf­liegt. Da der Tuber­auf­sitz aber Bestand­teil der Ober­hül­se der Orthe­se ist, bewegt er sich bei der Fle­xi­on des Hüft­ge­len­kes, wie sie bei der Last­über­nah­me zu Beginn der Stand­pha­se ein­ge­nom­men wird, vom Tuber weg und kann somit genau in der Pha­se, in der die größ­te Stoß­be­las­tung auf das Bein wirkt, die Last nicht auf­neh­men (Abb. 2).

Anzei­ge

Des Wei­te­ren kann die Orthe­se gene­rell nur äuße­re Kräf­te, also die direk­ten Boden­re­ak­ti­ons­kräf­te, über­neh­men – die inne­ren Kräf­te, also die mus­ku­lä­re Reak­ti­on der hüft­über­grei­fen­den Mus­ku­la­tur, die zur Sta­bi­li­sie­rung ins­be­son­de­re des Ein­bein­stan­des erfor­der­lich ist, kön­nen nur indi­rekt beein­flusst wer­den. Somit ist selbst bei schwe­ben­dem Fuß in der Orthe­se eine gelenk­pres­sen­de Kraft im Hüft­ge­lenk vor­han­den. Eine kom­plet­te Ent­las­tung kann also nicht erreicht werden.

Die Teil­ent­las­tung der Bein­struk­tu­ren, die mit dem Tuber­auf­sitz ermög­licht wird, birgt noch einen wei­te­ren, lang­fris­tig erkenn­ba­ren Nach­teil: Die knö­cher­nen Struk­tu­ren des mensch­li­chen Kör­pers pas­sen sich ein Leben lang den Belas­tun­gen an. Wird ein Kno­chen stär­ker belas­tet, baut sich Kno­chen­sub­stanz auf – wird er weni­ger belas­tet, baut sich Kno­chen­sub­stanz ab. Eine sol­che soge­nann­te Inak­ti­vi­tät­s­os­teo­po­ro­se lässt sich im Rönt­gen­bild von Pati­en­ten, die auf­grund ihrer indi­vi­du­el­len Indi­ka­ti­on auf einen Tuber­auf­sitz ange­wie­sen sind, deut­lich erkennen.

Eine wei­te­re Neben­wir­kung des Tuber­auf­sit­zes zeigt sich am Ende der Stand­pha­se, wenn die Hüf­te in Exten­si­on gebracht wird, um Schritt­län­ge zu gene­rie­ren: In die­ser Situa­ti­on schiebt der Auf­sitz nach pro­xi­mal und pro­vo­ziert so eine Becken­vor­kip­pung, die über eine Hyper­lor­do­se aus­ge­gli­chen wer­den muss (Abb. 3). Alter­na­tiv kann der Pati­ent natür­lich auch klei­ne­re Schrit­te machen oder unter Zuhil­fe­nah­me eines Rol­la­tors oder von Unter­arm­geh­stüt­zen vorn­über geneigt lau­fen – bei­des sicher­lich kei­ne erstre­bens­wer­te Kompensation.

Der Voll­stän­dig­keit hal­ber soll­te noch erwähnt wer­den, dass der Tuber­auf­sitz in der Regel – unab­hän­gig vom Mus­kel­sta­tus des Pati­en­ten – ein gesperr­tes Orthe­senknie­ge­lenk erfor­dert. Durch den Tuber­auf­sitz ver­la­gert sich die Last­ein­lei­tung in die Orthe­se nach dor­sal, wodurch die Belas­tungs­li­nie hin­ter das Knie fällt, wodurch ein Fle­xi­ons­mo­ment ent­steht. Ohne Sper­re müss­te der Pati­ent sich die Ent­las­tung des Hüft­ge­len­kes also durch eine stär­ke­re Akti­vi­tät der knie­stre­cken­den Mus­ku­la­tur selbst erar­bei­ten, was wie­der­um zur Erhö­hung der inne­ren Kräf­te bei­trägt – wodurch sich die sprich­wört­li­che Kat­ze in den Schwanz beißt. Die­se Ver­la­ge­rung des Belas­tungs­vek­tors erhöht aber nicht nur die inne­ren Kräf­te, son­dern auch die Bie­ge­be­las­tung auf die Orthe­sen­ge­len­ke und die seit­li­chen Sta­bi­li­täts­trä­ger. Es kann also, um die Bean­spru­chung der Orthe­se zu ver­min­dern, durch­aus sinn­voll sein, bei Ver­wen­dung eines Tuber­auf­sit­zes das Orthe­sen­ge­lenk nach hin­ten zu ver­la­gern und damit näher an die Belas­tungs­li­nie oder gar hin­ter die Belas­tungs­li­nie zu brin­gen. Hier ist jedoch Fin­ger­spit­zen­ge­fühl gefragt, da die Inkon­gru­enz zwi­schen ana­to­mi­schem und orthe­ti­schem Dreh­punkt beim Sit­zen wie­der ande­re Nach­tei­le schafft.

Anhand die­ser Auf­lis­tung der Neben­wir­kun­gen eines Tuber­auf­sit­zes wird deut­lich, dass die Indi­ka­ti­on mit Zurück­hal­tung gestellt und Vor- und Nach­tei­le sorg­sam abge­wo­gen wer­den müs­sen. Wel­che Vor­tei­le bringt aber nun der Tuber­auf­sitz für den Pati­en­ten mit sich, wenn der ursprüng­li­che Gedan­ke der Hüf­t­ent­las­tung nur ein­ge­schränkt funktioniert?

Wei­te­re Einsatzmöglichkeiten

Eine Teil­ent­las­tung kann zum Bei­spiel dann erfor­der­lich wer­den, wenn das Bein wegen einer Bewe­gungs­ein­schrän­kung in Knie- oder Hüft­ge­lenk in einer flek­tier­ten Grund­po­si­ti­on steht. Durch die Fle­xi­on ver­läuft der Belas­tungs­vek­tor hin­ter dem Knie und erzeugt über die gesam­te Stand­pha­se ein beu­gen­des Moment. Die­sem flek­tie­ren­den Moment muss die Orthe­se ein exten­die­ren­des Moment ent­ge­gen­set­zen, das über die ven­tra­len, knie­ge­lenks­na­hen Anla­ge­flä­chen auf das Knie über­tra­gen wird (Abb. 4). Selbst wenn dort groß­flä­chi­ge kör­per­kon­gru­en­te Anla­ge­flä­chen geschaf­fen wer­den, kann dies bei stär­ke­ren Beu­ge­stel­lun­gen dazu füh­ren, dass die Druck­to­le­ranz der Haut oder die Schmerz­to­le­ranz des Pati­en­ten über­schrit­ten wer­den. Wird dann ein Teil der Gewichts­kraft über den Tuber­auf­sitz in die Orthe­se ein­ge­lei­tet, erhöht sich zwar die mecha­ni­sche Belas­tung der Orthe­se – gleich­zei­tig redu­ziert sich jedoch das beu­gen­de Moment, das auf die Bein­ach­se wirkt. Dadurch ist auch das erfor­der­li­che exten­die­ren­de Moment durch die Orthe­se gerin­ger, und die benö­tig­te Kraft an den vor­de­ren Anla­ge­flä­chen wird so weit redu­ziert, dass sie vom Pati­en­ten tole­riert wer­den kann (Abb. 5).

Sinn­voll ein­ge­setzt wer­den kann der Tuber­auf­sitz auch bei einer Schwä­che der abdu­zie­ren­den Mus­ku­la­tur der Hüf­te (Abb. 6). Die­se führt in der Ein­bein­un­ter­stüt­zung zum Absin­ken des Beckens zur Gegen­sei­te („Tren­delen­burg-Zei­chen“), das in der Dyna­mik durch ein Seit­pen­deln des Ober­kör­pers aus­ge­gli­chen wer­den muss („­Duchen­ne-Hin­ken“). Wird dies vom Pati­en­ten nicht tole­riert, besteht die Mög­lich­keit, mit der Ver­wen­dung eines Geh­stocks die Unter­stüt­zungs­flä­che so weit zu ver­grö­ßern, dass ein Seit­pen­deln des Ober­kör­pers nicht mehr not­wen­dig ist, um das Lot aus dem Kör­per­schwer­punkt über die Unter­stüt­zungs­flä­che zu brin­gen. Die grund­le­gen­de Pro­ble­ma­tik – das Absin­ken des Beckens – bleibt dabei jedoch erhal­ten; ledig­lich die Aus­wir­kun­gen wer­den kom­pen­siert. Hier kann der Tuber­auf­sitz ursäch­lich ein­grei­fen. Betrach­tet man die Ana­to­mie des Beckens in der Fron­tal­ebe­ne, so fällt auf, dass der Tuber os ischii wei­ter medi­al liegt als das Dreh­zen­trum der Hüf­te. Kippt also das Becken um den Dreh­punkt der Hüf­te ab, so senkt sich dabei der Tuber os ischii ab. Die­ses Absen­ken kann durch den Tuber­auf­sitz ver­hin­dert wer­den (Abb. 7). Damit wird das Tren­delen­burg-Zei­chen ver­hin­dert, und somit ist auch kein kom­pen­sa­to­ri­sches Duchen­ne-Hin­ken erforderlich.

Ein wei­te­rer posi­ti­ver Aspekt kann die erleich­ter­te Ein­lei­tung der Schwung­pha­se durch den Tuber­auf­sitz sein. Wur­de wei­ter oben noch die Becken­vor­kip­pung bei Exten­si­on als Nach­teil am Ende der Stand­pha­se auf­ge­führt, so kann sich dies bei Aus­fall der hüft­flek­tie­ren­den Mus­ku­la­tur in einen Vor­teil ver­wan­deln: Anstatt wie meist üblich kom­pen­sa­to­risch den Vor­schwung des Bei­nes durch die Rota­ti­on der Hüf­te auf der Gegen­sei­te ein­zu­lei­ten und damit eine Zirk­um­duk­ti­on zu pro­vo­zie­ren, kann der Pati­ent über eine bewuss­te Becken­rück­kip­pung, der Orthe­se, und damit auch dem Hüft­ge­lenk, einen Fle­xi­ons­im­puls geben (Abb. 8).

Aber nicht nur beim Aus­fall der beu­gen­den Mus­ku­la­tur, auch beim Aus­fall der Hüft­stre­cker kann der Tuber­auf­sitz bei der Kom­pen­sa­ti­on hel­fen: Er dient in die­sem Fall dem mus­ku­lär unge­si­cher­ten Gelenk als Exten­si­ons­brem­se. Der Pati­ent muss dazu ledig­lich den Teil­kör­per­schwer­punkt des Rump­fes hin­ter den Hüft­dreh­punkt ver­la­gern. Dadurch wür­de die Hüf­te nor­ma­ler­wei­se exten­die­ren bzw. das Becken zurück­kip­pen. Da dies durch den Tuber­auf­sitz ver­hin­dert wird, ent­steht in Ver­bin­dung mit einem gesperr­ten Knie­ge­lenk und einem Dor­sal­an­schlag im Knö­chel­ge­lenk eine sta­bi­le Bein­ach­se, ohne die die Schwung­pha­se auf der Gegen­sei­te nicht durch­ge­führt wer­den könnte.

Ramus­um­grei­fung

Man­che Läh­mungs­pa­ti­en­ten – meist die­je­ni­gen mit aus­ge­präg­ter schlaf­fer Weich­teil­de­ckung im Ober­schen­kel­be­reich – bemän­geln bei einer kon­ven­tio­nel­len Ober­hül­se ohne Tuber­auf­sitz bis­wei­len den weich­teil­be­ton­ten Gegen­halt im hin­te­ren obe­ren Anteil der Orthe­se. Der Gegen­halt hier wird benö­tigt, um über das 3‑Punkt-Sys­tem (dista­ler Unterschenkel/Ferse von dor­sal, knie­ge­lenks­nah von ven­tral und obe­rer Abschluss wie­der von dor­sal) das knie­si­chern­de Moment auf­zu­bau­en. Müs­sen an die­sem knie­fer­nen dor­sa­len Gegen­halt erst die Weich­tei­le stark kom­pri­miert wer­den, bis sich für den Pati­en­ten ein spür­ba­rer Gegen­druck auf­baut, führt dies zu Unsi­cher­heit. Wird die Ober­schen­kel­hül­se hier so weit ver­län­gert, dass der Ramus von hin­ten mit umgrif­fen wird, der Tuber also in die Hül­se hin­ein­rutscht, ent­steht hier ein deut­lich defi­nier­ter Gegen­halt, der das Sicher­heits­emp­fin­den des Pati­en­ten erhöht. Passt man nun den Rand­ver­lauf durch eine groß­zü­gi­ge Aus­stul­pung an die Kon­tur der Weich­tei­le an, ent­steht optisch ein Tuber­auf­sitz, der in Wahr­heit aber eine dor­sa­le Ramus­um­grei­fung ist (Abb. 9).

Bis­wei­len kann auch eine media­le Ramus­um­grei­fung, wie sie aus der Ober­schen­kel­pro­the­tik bekannt ist, sinn­voll sein. In der Bein­or­the­tik hat sie bei patho­lo­gisch beding­ter gerin­ger Über­da­chung des Hüft­kop­fes die Auf­ga­be, die Gefahr einer Hüft­lu­xa­ti­on zu mini­mie­ren. Da die Luxa­ti­on des Hüft­kop­fes in der Regel mit einer Late­ra­li­sie­rung beginnt, lässt sich die­se durch die Ver­klam­me­rung zwi­schen media­ler Ramus­um­grei­fung und late­ra­ler Femuran­stüt­zung ver­hin­dern. Ein­schrän­kend muss aber dar­auf hin­ge­wie­sen wer­den, dass bei den betrof­fe­nen Pati­en­ten häu­fig auch der Ramus nur schwach aus­ge­prägt ist und eine Umgrei­fung daher rela­tiv hoch aus­ge­führt wer­den muss, was der Tole­ranz nicht unbe­dingt för­der­lich ist. Alter­na­tiv lässt sich die Luxa­ti­ons­ge­fahr auch durch eine Late­ra­li­sie­rung der Unter­stüt­zungs­flä­che ver­min­dern. Durch die Late­ra­li­sie­rung erhält der Vek­tor der Boden­re­ak­ti­ons­kraft eine stär­ke­re Nei­gung in Rich­tung Hüft­pfan­ne und bewirkt dadurch eine höhe­re gelenk­pres­sen­de Kraft, die der Luxa­ti­on ent­ge­gen­wirkt. Eine zu star­ke Late­ra­li­sie­rung führt aber zu einem stär­ke­ren Seit­pen­deln des Ober­kör­pers, da der Gesamt­kör­per­schwer­punkt auch wei­ter late­ra­li­siert wer­den muss, um über die Unter­stüt­zungs­flä­che zu gelangen.

Fazit

Es konn­te gezeigt wer­den, dass die dem Tuber­auf­sitz klas­sisch zuge­spro­che­ne Auf­ga­be – die Ent­las­tung – nur einen Teil­aspekt der bio­me­cha­ni­schen Wir­kun­gen des Tuber­auf­sit­zes dar­stellt. Die Nut­zung die­ser posi­ti­ven alter­na­ti­ven Wirk­prin­zi­pi­en muss aber immer im indi­vi­du­el­len Ein­zel­fall gegen die mög­li­chen nega­ti­ven Neben­wir­kun­gen abge­wo­gen wer­den. Eine unre­flek­tier­te Ver­wen­dung des Tuber­auf­sit­zes, nur weil der Pati­ent die­sen immer schon gewohnt ist, ist eben­so abzu­leh­nen wie eine pau­scha­le Ver­dam­mung, weil die Neben­wir­kun­gen zu gra­vie­rend sein kön­nen. Häu­fig hilft nur, dem Pati­en­ten in einer Pro­be­ver­sor­gung mit abnehm­ba­rem Auf­sitz bei­de Vari­an­ten anzu­bie­ten, damit er eine Vor­stel­lung bekommt, ob er den Auf­sitz als Berei­che­rung oder Behin­de­rung empfindet.

Der Autor:
Lud­ger Last­ring, OTM, M. Sc.
Bun­des­fach­schu­le für Orthopädie-Technik
Schliep­stra­ße 6–8
44135 Dort­mund
l.lastring@bufa-ot.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Last­ring L. Bio­me­cha­ni­sche Funk­tio­nen des Tuber­auf­sit­zes in der Bein­or­the­tik. Ortho­pä­die Tech­nik, 2018; 69 (6): 38–41
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