Strukturierte Versorgungsdokumentation – AMP-Kompass
Im Verlauf der letzten 8 Jahre wurde in der Klinik für Orthopädie am Universitätsklinikum Heidelberg eine Versorgungsdokumentation entwickelt, welche medizinische und orthopädietechnische Versorgungsaspekte berücksichtigt sowie Ergebnisse zu funktionellen Tests zu Mobilität und Bewegungsfunktion beinhaltet1. Um die strukturierte Profilerhebung auch anderen Institutionen, Versorgern, Fachärzten und Patienten sektorenübergreifend zur Verfügung zu stellen, wurde das Projekt AMP-Kompass initiiert, welches durch das Landesministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg im Rahmen des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg gefördert und durch das Medizinisch-Technische Kompetenzzentrum Heidelberg-Stuttgart (MetKo), einem Forschungsverbund der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg und dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) Stuttgart, durchgeführt wird.
Die anfallende Überarbeitung und Anpassung der Datenerhebung erfolgte in mehreren Iterationen und unter Berücksichtigung von in den letzten Jahren verabschiedeten Qualitätsstandards wie derjenigen der Deutschen Gesellschaft für Interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) 2 und dem Feedback von weiteren Experten. Neben der inhaltlichen Anpassung wurde auch die digitale Erhebung realisiert, welche nun in Form einer Tablet-Anwendung innerhalb einer Pilotphase mit Versorgern in Baden-Württemberg eingesetzt wird und die bisher papiergebundene Version ablösen soll 3. Die Pilotphase liefert Rückmeldung zur Benutzerfreundlichkeit der digitalen Anwendung sowie zum Einsatz der Dokumentation im Versorgungsalltag.
Parallel zur Patientendatenerhebung erfolgt eine Umfrage bei den teilnehmenden Sanitätsbetrieben (Abb. 1) zur Versorgungsstruktur, die besonders auf den Austausch und die Vernetzung des stationären und ambulanten Sektors abzielt.
Ziel ist es aufzuzeigen, welche Informationswege aktuell genutzt werden und wie Patienten innerhalb der Versorgungsstruktur besonders bei den Übergängen zwischen Sektoren und Professionen unterstützt werden können. AMP-Kompass soll damit zur Sektor-übergreifenden Optimierung der Versorgungsqualität am Beispiel der Beinprothetik beitragen.
Zentrale Erfassung versorgungsrelevanter Daten – AMP-Register
Das Anschlussprojekt AMP-Register hat das Ziel, die durch AMP-Kompass definierten Datensätze in eine Registerstruktur einzubinden, Datenverwaltung und Analyse verfügbar zu machen und die Nutzung über bereits vorhandene Softwaremodule der Versorger zu ermöglichen.
Für den Aufbau eines medizinischen Registers für die Behandlung und Versorgung von Menschen mit Beinamputation wird eine Anbindung an die elektronische Patientenakte (ePA) angestrebt und es werden legale Aspekte der gesetzlichen Rahmenbedingungen der sogenannten Medical Device Regulation (MDR) berücksichtigt. Auf lokaler Ebene soll dies die einzelnen Versorger in der Dokumentation von Versorgungszielen, der klinischen Bewertung sowie der Nutzung objektiver Beurteilungskriterien im Alltag unterstützen. Dieser Aspekt ist auch für die Erwartungshaltung und Selbsteinschätzung auf Patientenseite relevant. Gleichzeitig ermöglicht die Erhebung standardisierter Datensätze eine Übersichtsdarstellung im Querschnitt der Betroffenen. Dadurch sollen Versorgungslücken ebenso wie erfolgreiche Behandlungskonzepte auf Grundlage einer größeren Datenbasis identifiziert werden können.
Mit diesem Gesamtprojekt soll ein digital vernetztes Dokumentationswerkzeug in Registerform geschaffen werden, welches es allen am Versorgungsprozess von beinamputierten Menschen beteiligten Berufsgruppen aller Sektoren und Bereiche ermöglicht, anamnestische und medizinische Daten sowie Daten zu Therapie und orthopädietechnischer Intervention einzupflegen. Die objektive Erhebung von Mobilität und gesellschaftlicher Teilhabe des Betroffenen im Sinne einer klinischen Bewertung des Hilfsmittels trägt auf diesem Wege auch den regulatorischen Aspekten der MDR Rechnung, als die Versorgungsituation im Sinne einer Nachbeobachtung, wie sie in der MDR gefordert ist, durch Stichproben bei Patienten und den vorgenannten Leistungserbringern erhoben werden kann. Damit wird mittelfristig eine Datengrundlage geschaffen, die eine reelle Möglichkeit der Marktbeobachtung zum Zweck der Fortschreibung von Klinischen Bewertungen und der Erfassung von Risikofaktoren erlaubt.
Erste Ergebnisse
Die erste lokale Datenanalyse im Studienzentrum Heidelberg zeigt bereits auf, welche Möglichkeiten zur Auswertung eine strukturierte Dokumentation im Rahmen der Profilerhebung bieten kann. Aus 712 Datensätzen, die aus einer vollständigen Profilerhebung mit Patienten- und Expertenbogen zum gleichen Termin vorliegen, wurden Patienten mit Mehrfacherhebungen über die Zeit nur mit ihrem ersten Termin im Register berücksichtigt. Für die Auswertung liegen somit 498 Datensätze vor (Tab. 1). Es zeigt sich ein mittleres Alter von 57 Jahren mit einer großen Alterspanne von 4 bis 93 Jahren. Männer sind häufiger betroffen, der Median für die Zeit seit Amputation liegt bei 4,1 Jahren. Auch hier ist die Spanne des Nachuntersuchungsintervalls von unter einem Monat bis 72 Jahre nach Amputation groß.
Einen Überblick über die Häufigkeit der jeweiligen Amputationsursache zeigt Abb. 2. Er spiegelt die lokalen Gegebenheiten wider, dass an unserem Zentrum traumatische und tumorbedingte Amputationen vermehrt durchgeführt werden und sich diese Patienten in einer fächerübergreifenden Sprechstunde vorstellen.
Neben der einfachen Charakterisierung der Stichprobe lassen sich aus der Profilerhebung beispielsweise auch Daten zur Prothesenversorgung, zu Stumpfgegebenheiten oder Mobilität und Funktionalität der Betroffenen ableiten. So zeigt sich, dass von den dokumentierten Patienten 80 % bereits in der Vergangenheit eine prothetische Versorgung hatten. Auf die Frage, ob derzeit eine Prothese verwendet wird, antworten 63 % mit „ja“, 21 % geben an, dass sie eine Prothese derzeit nur eingeschränkt verwenden, und 15 % haben eine Versorgung, verwenden diese aber aktuell gar nicht. Patienten, die ihre vorhandene Versorgung aktuell nicht oder nur eingeschränkt verwenden, können über die Profilerhebung weiter ausgewertet werden. So fallen in diese Gruppe aufgrund der begleitenden Sprechstunde beispielsweise auch Patienten nach Revisionen. Ebenso lässt sich abfragen, ob im Rahmen einer prothetischen Versorgung und physiotherapeutischen Behandlung eine Gehschule erfolgt ist. Dies ist in der untersuchten Gruppe bei 40 % der Fall. Hierbei ist zu beachten, dass auch Patienten nach Amputationshöhen im Bereich des Fußes (n = 61) eingeschlossen sind, welche in der Regel kein Gehschul-training erhalten. Patienten, die zum Erhebungszeitpunkt Physiotherapie erhalten, machen hauptsächlich Kräftigung und Dehnung, aber auch Lymphdrainage, Gehschule und Sonstiges.
Zu ihrem Umfeld befragt geben 92 % der Patienten an, täglich Treppenstufen überwinden zu müssen, 53 % gehen mehrmals wöchentlich auf unebenem Gelände, 47 % auch auf Schrägen und Rampen. Die Frage, ob es in den letzten 4 Wochen zu einem Stolper- oder Sturzereignis gekommen ist, bejahen 34 % hinsichtlich Stolpern, 16 % geben an, gestürzt zu sein.
Die Auswertung kann natürlich auch für Subgruppen innerhalb der Kohorte erfolgen. So zeigt die Auswertung von Patienten nach Fußamputation, dass diese teilweise auch noch lange Zeit nach der Amputation keine adäquate prothetische Versorgung besitzen und lediglich mit provisorischen Hilfsmitteln wie Casts und Entlastungsschuhen versorgt sind 4. Aufgrund der Zentrums-bezogenen vergleichsweise häufigen Amputationen nach Trauma und Tumor kann diese Gruppe auch für sich näher betrachtet werden. Insgesamt sind diese Patienten fünf Jahre jünger als die gesamte Gruppe (im Mittel 52; Spanne 7–93 Jahre). Die Auswertung zur Mobilität zeigt, dass es sich um sehr aktive Patienten handelt, was die Abfrage nach Alltagsaktivitäten und deren Häufigkeit (Abb. 3) widerspiegelt.
Fazit
Die typischerweise jährlich erhobenen Daten erlauben eine detaillierte und differenzierte Beurteilung des Patientenkollektivs nach prothetischer Versorgung. Die Dokumentations- und Abfragestruktur zur funktionellen und anamnestischen Zustandserhebung wurde in Teilen im aktuellen Rahmenvertrag der AOK Baden-Württemberg und dem Landesfachverband für Orthopädietechnik aufgegriffen. In der Gesamtschau lässt sich bereits jetzt feststellen, dass diese Erhebungs- und Dokumentationsform ein enormes Potential zur Evaluation sowohl von individuellen Versorgungsverläufen wie auch von Versorgungsstrukturen insgesamt bietet. Die digitale Erhebung von Patientendaten bei den teilnehmenden Sanitätsfachbetrieben in Baden-Württemberg verläuft derzeit im Rahmen von AMP-Kompass reibungslos. Bei der Zentralisierung im Sinne eines landesweiten Patientenregisters durch das Projekt AMP-Register zeigen sich zunehmend auch Kliniken an einer Teilnahme interessiert, um in Baden-Württemberg einen höchstmöglichen Qualitätsstandard in der Versorgung von Menschen nach Beinamputation zu erreichen.
Danksagung
Wir danken allen teilnehmenden orthopädietechnischen Fachbetrieben und den beteiligten Kolleginnen und Kollegen für ihre Unterstützung bei diesem Pilotprojekt. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit und die gemeinsame Weiterentwicklung dieses Vorhabens.
Weiterhin gilt unser Dank dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration des Landes Baden-Württemberg für die Finanzierung der Studie.
Erstveröffentlichung
Der Beitrag ist bereits in ähnlicher Form im BVOU-Infobrief 3/2022 unter dem Titel „AMP-Kompass – AMP-Register: Versorgungsdokumentation nach Beinamputation“ erschienen.
Für die Autoren:
Merkur Alimusaj
Medizinisch-Technisches Kompetenzzentrum für
Orthopädietechnik Heidelberg-Stuttgart (MetKo)
Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg
Technische Orthopädie
Schlierbacher Landstr. 200a
69118 Heidelberg
Merkur.Alimusaj@med.uni-heidelberg.de
1 Medizinisch-Technisches Kompetenzzentrum für Orthopädietechnik Heidelberg-Stuttgart (MetKo)
2 Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg, Schlierbacher Landstraße 200a, 69118 Heidelberg
3 Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, Nobelstraße 12, 70569 Stuttgart
Alimusaj M et al. AMP-Kompass – AMP-Register: Versorgungsdokumentation nach Beinamputation. Orthopädie Technik, 2023; 74 (5): 52–54
Stichprobengröße | 498 Patienten |
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Alter [Median(min-max)] | 57 (4–93) Jahre |
Geschlecht | 337 m / 159 w |
Größe [Median(min-max)] | 175 (55–198) cm |
Gewicht [Median(min-max)] | 78 (11–189) kg |
Zeit seit Amputation | 4.1 (0,1–72) Jahre |
Tab. 1 Beschreibung der im Studienzentrum Heidelberg durchgeführten Stichprobe.
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Block J. Objektive Funktionsdokumentation nach Beinamputation. Medizinisch Orthopaedische Technik, 2015; 4: 35–40
- Brückner L et al. Kompendium Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der unteren Extremität. Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV), 2018: 471
- Putz C et al. Exo-Prothesenregister. Trauma und Berufskrankheit, 2017; 20: 145–150
- Block J, Kaib T, Wolf SI, Alimusaj M. Quantitative Charakterisierung von Mobilität, Versorgung und patientenseitiger Zufriedenheit nach Amputation im Fußbereich. Orthopädie Technik, 2021; 72 (5): 24–29