Der Adaptivrollstuhl im Sonderbau als orthopädisches Hilfsmittel
Bei der Erstellung eines Versorgungskonzeptes für ein orthopädisches Hilfsmittel bedarf es einer ausführlichen Aufnahme der Fähigkeiten und der Potenziale der Kinder, um eine ausreichende korrigierende, fördernde bzw. hemmende und wachstumslenkende Versorgung zu gewährleisten. Bei der Konzeption des Hilfsmittels sind Konstruktion, Funktionalität und Flexibilität an die Bedürfnisse des Kindes anzupassen – dies verhält sich bei Adaptivrollstühlen im Sonderbau für Kleinkinder und sehr klein gewachsene Kinder nicht anders. Dabei soll die Aufmerksamkeit auch auf das Hilfsmittel Adaptivrollstuhl im Sonderbau gelenkt und somit dem weitverbreiteten Vorurteil entgegengewirkt werden, dass ein Rollstuhl ein Kind „faul“ mache. Vielmehr ist der frühkindliche Einsatz eines altersgerechten Fortbewegungsmittels ein wichtiger Baustein der motorischen und sensorischen Integration des Kindes.
Das Wechselspiel von Sinneseindrücken und erlernten Fahrtechniken, um sein Umfeld zu begreifen und zu erfahren, fordert und fördert die kognitive Entwicklung, die unverzichtbar für die altersgerechte Entfaltung von Sensorik und Motorik ist. Ein genau passender, leichter, gut eingestellter Adaptivrollstuhl im Sonderbau eröffnet Bewegungsräume, erweitert den Aktionsradius und trägt somit zur kindlichen Entwicklung bei.
Sowohl die Kinder als auch ihre Eltern müssen aber den Umgang mit dem Rollstuhl erlernen, um das Hilfsmittel optimal und ressourcensparend einsetzen zu können. Jedoch erfährt das Hilfsmittel Rollstuhl in der Physio- und Ergotherapie nicht eine so hohe Wertschätzung wie zum Beispiel die Beinorthesenversorgung. Somit ist es umso wichtiger, dass die Kinder den adäquaten Umgang damit von geschulten Therapeuten und/oder Fachübungsleitern vermittelt bekommen (www.rolli kids.de – Mobilitätskurse). In Zeiten der schulischen Integration sind die Rollstuhlkinder häufig vom schulischen Sportunterricht befreit, da das Bewusstsein für Rollstuhlsport bisher nur an wenigen Schulen angekommen ist.
In den vergangenen Jahren hat sich der Markt in Bezug auf adäquat konfektionierte Kinderrollstühle zum Positiven verändert. Trotz dieser positiven Entwicklung und des Ideenreichtums sowohl der Industrie als auch der Fachleute für Rollstuhlversorgung in der Kinder-Orthopädie-Technik hat die Spezialisierung auf Aktivrollstühle im Sonderbau ihren Platz als orthopädietechnisches Handwerk gefunden. Ein Grund dafür ist, dass es immer Kinder gibt und geben wird, die mit konfektionierten Rollstühlen nicht optimal versorgt werden können.
Den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen
Alle Kinder durchlaufen im Rahmen ihrer persönlichen Möglichkeiten die Entwicklungsspirale, und wenn sie sowohl kognitiv als auch haptisch in der Lage sind, ihr Umfeld bewusst wahrzunehmen, ist es notwendig, alle Möglichkeiten der Mobilitätsförderung auszunutzen bzw. umzusetzen. Dabei sollte das Zusammenspiel der unterschiedlichen orthopädischen Versorgungen des Kindes den Rollstuhl aktiv ins Gesamtversorgungskonzept einbinden, um mögliche provozierte Fehlstellungen und Bewegungseinschränkungen zu vermeiden. Es ist wichtig, zur passenden Zeit die motorischen Möglichkeiten zu erweitern, um die Entwicklung des Kindes nicht unnötig einzuschränken. Je nach Erkrankungsbild, körperlichen und geistigen Einschränkungen und/oder der Läsionshöhe können Kinder schon im Alter von nur einem Jahr einen fahrbaren Untersatz antreiben und steuern. Sowohl im Kindergarten als auch im häuslichen Umfeld ist es wichtig, dass auch „Rollstuhlkinder“ – seien es jene, die dauerhaft darauf angewiesen sind, oder jene, die ihn nur zeitweise nutzen – eine im Rahmen ihrer eigenen Fähigkeiten bestmögliche kindliche Entwicklung durchlaufen können.
Was sollte ein guter Rollstuhl leisten?
Das Gewicht des Adaptivrollstuhls im Sonderbau und seine ergonomische Einstellung sowie eine individuell und anatomisch angepasste Sitzeinheit sind wichtige Aspekte der Versorgung. Denn dadurch können das Wachstum und die Entwicklung in ihren Möglichkeiten fördernd und korrigierend gelenkt werden.
Der Rollstuhl sollte zudem ein kindgerechtes und ansprechendes Design bieten; hierbei ist es sinnvoll, Kinder und Eltern miteinzubeziehen: Zum einen wird dadurch die Akzeptanz der Kinder für das neue Gefährt gewonnen, zum anderen wird die Fremdwahrnehmung positiv beeinflusst. Ein attraktiver, kindgerechter und „unverbauter“ Rollstuhl fällt immer positiv auf und löst in der Gesellschaft das klassische, oft eher negative Bild eines Rollstuhls zunehmend ab. Viele Kinder schließen ihren Rollstuhl ins Herz, da sie damit die Welt erkunden und erobern können, was gerade in den ersten Lebensjahren wichtig ist, um Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein zu stärken. Im besten Fall sind sie irgendwann gleichsam mit ihm verwachsen, und er gleicht das „Nicht-laufen-Können“ fast vollkommen aus. Daher ist es wichtig und erstrebenswert, dass ein Rollstuhl lange Zeit „mitwächst“, um das Vertrauen, das das Kind in sich selbst und in den Rollstuhl hat, durch die Kontinuität der Versorgung zu stärken.
Versorgungsbeispiel Aktivfahrsitz „Duplikart“
Eine Mobilitätshilfe zur Umsetzung einer leichten Fortbewegung für kleine Kinder, die diese im Laufe ihrer Entwicklung erhalten können, um selbstbestimmt ihre Umgebung wahrnehmen zu können, ist der „Duplikart“. Der Duplikart hat seinen Namen zu Recht, da er ein mitwachsender und überwiegend aus Lego- und Duplobauteilen bestehender Aktivsitz ist (Abb. 1a u. b). Der Rahmen besteht aus einer leichten Aluminiumkonstruktion. Die 12-Zoll-Räder dienen dem direkten Antrieb ohne Greifreifen; diese Radgröße ermöglicht dem Kind das bodennahe Sitzen, das Kinder im Alter von ca. einem Jahr bei normaler Entwicklung in der Regel beherrschen und umsetzen. Kinder mit instabiler Rumpfaktivität ab dem unteren Thorakalbereich können somit in den fast freien Sitz gelangen und sich statt krabbelnd oder robbend einfach rollend fortbewegen. Der Duplikart ist für den Innenbereich konzipiert; einige Familien setzen ihn jedoch auch erfolgreich draußen ein. Der Rollstuhl ist bewusst so designt worden, dass er aussieht wie ein Kinderspielzeug, um ihn in der frühkindlichen Welt als etwas ganz Normales erscheinen zu lassen, wie zum Beispiel ein Bobby-Car.
Paul mit einer Spina bifida, Läsionshöhe Th12, hat seinen „Duplikart“ mit 13 Monaten bekommen. Durch die einfache Art des Antriebs, der keine speziellen feinmotorischen Fähigkeiten benötigt, kann Paul seinen Rollstuhl einfach und koordiniert mit der vorhandenen Rumpfmuskulatur bewegen. Die geforderte aktive Sitzhaltung muss überlegt dosiert werden, um seine körperlichen Fähigkeiten nicht zu überfordern. Durch die Steigerung der Nutzungszeit wird die vorhandene Muskulatur und das Halten des Kopfes gekräftigt und stabilisiert, sodass Seitenpelotten und Rumpffixierung bei Bedarf abgebaut werden können. Das bodennahe Sitzen erlaubt Paul eine altersgerechte Position, durch die er in der Sitzposition spielen und sein direktes Wohnumfeld erkunden und begreifen kann.
Versorgungsbeispiel Adaptivrollstuhl „Tuning-Kid XS“
Der XS ist ein per Greifreifen angetriebener und mitwachsender Adaptivrollstuhl im Sonderbau mit 19-Zoll-Antriebsrädern (Abb. 2a u. b). Er besteht aus Aluminium und Carbon-Glasfaser; seine offene, freie und gewichtsreduzierte Bauweise ermöglicht eine Versorgung ab einem Gesamtgewicht von 4,5 kg. Das Gewicht spielt eine entscheidende Rolle, da die betroffenen Kinder meist weniger als 10 kg wiegen – nicht nur im Kleinkindalter, sondern aufgrund der Art der Behinderung häufig auch noch im höheren Alter. Der XS wurde vor 19 Jahren für ein Kind mit Osteogenesis imperfecta entwickelt. Bei dieser und einigen andere Behinderungen, die zu Kleinwuchs führen, aber auch bei Behinderungsarten, die eine verminderte Muskelkraft mit sich bringen, ist die Versorgung mit einem XS empfehlenswert, da die betroffenen Kinder oft nicht in der Lage sind, einen 10-kg-Rollstuhl eigenständig anzutreiben.
Robin wurde bereits mit zweieinhalb Jahren mit einem XS versorgt. Er zeigt eine klassische Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) in allen Extremitäten; dadurch ist er in der Bewegung des Rumpfes, der Arm- und Handmotorik durch symmetrische Kontrakturen diverser Gelenke eingeschränkt. Ein „normales“ Antreiben des Rades ist für Robin nicht möglich; er kann den Greifbogen nicht voll ausnutzen. Daher fährt er in einer Pendelbewegung der Arme, die der Rumpf einleitet, um alternierend den Rollstuhl zielgerecht anzusteuern. Durch einen auf ihn und sein Handicap individuell eingestellten und ausgestatteten Rollstuhl wie den „Tuning-Kid XS“ ist es erst möglich, ihm eine selbstbestimmte Bewegungsform anzubieten, durch die er mit anderen Kindern mithalten kann. Gerade durch das Gewicht des Rollstuhls und die einzelnen Parameter der Sitzpositionierung sowie durch die erlernten Techniken des Rollstuhlfahrens ist er in der Lage, kräfteschonend eine freie und schnelle Bewegungsart zu wählen und zu nutzen. Viele Umfelderlebnisse, Sportarten und Bewegungsformen werden erst durch den Rollstuhl zugänglich und lassen die Kinder früh an der Gesellschaft teilhaben.
Robin ist nun sechs Jahre alt, und sein XS ist immer noch im Einsatz – auch wenn Stehen und Gehen eine wichtige Rolle spielen, ist der Rollstuhl einfach schneller, und der Bewegungsdrang kann spielend ausgelebt werden (Abb. 3).
Fazit
Die Frühförderung mit dem Rollstuhl beginnt bereits ab dem ersten Lebensjahr. Sie dient der Erweiterung der sensomotorischen und kognitiven Möglichkeiten und Fähigkeiten eines Kindes mit Behinderung, aber ebenso seiner Persönlichkeitsentwicklung. Größe, Gewicht und Passform der Sitzeinheit und eine optimierte ergonomische Einstellung der Rollstuhlparameter sind entscheidende Faktoren für einen adäquaten und kindgerechten Adaptivrollstuhl im Sonderbau. Allerdings ist die Relevanz des folgenden Aspekts nicht allen Kostenträgern und Versorgern bewusst: Vor allem im Kleinkindalter ist eine Versorgung sowohl mit einem leichten und angepassten Rollstuhl als auch z. B. mit einem Reha-Buggy sinnvoll und zu empfehlen – diese beiden Hilfsmittel heben sich nicht gegenseitig auf, sondern ergänzen einander. Eine solche Versorgung ist so lange zu empfehlen, bis die Kinder physisch und muskulär in der Lage sind, ihren Rollstuhl auch bei längeren Strecken zu nutzen – wobei anzumerken ist, dass auch bei gesunden Kleinkindern ein Buggy bzw. Kinderwagen bei längeren Strecken genutzt wird.
Wichtig ist, die Kinder zur Bewegung sowie zum Sport zu animieren. Dabei sollten alle medizinischen und technischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, damit auch den „Rollikids“ alle Türen für eine normale Entwicklung offenstehen.
Die Autorin:
Julia Verbeek
Fachübungsleiterin für Reha- und Behindertensport
Orthopädie-Techniker-Meisterin ISPO
4ma3ma Rehatechnik
Kirchenstr. 15
44147 Dortmund
lia@4ma3ma.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Verbeek J. Adaptivrollstuhl im Sonderbau — Versorgung von Kleinkindern und kleinen Kindern. Orthopädie Technik, 2017; 67 (2): 44–46
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