Hilfsmittelversorgung mit „nicht-sortenreinen“ Sonderanfertigungen – Fehlende „Garantie“ als Ablehnungsgrund für die Hilfsmittelerstattung?
In der jüngeren Vergangenheit sehen sich Sanitätshäuser bzw. Orthopädietechniker als Hersteller von Sonderanfertigungen, namentlich von Prothesen, bei der Genehmigung und Vergütung der Hilfsmittelversorgung zuweilen einer neuen Argumentationslinie der gesetzlichen Krankenkassen ausgesetzt. Diese verweigern vereinzelt die Genehmigung der Hilfsmittelversorgung in Fällen, in denen das Sanitätshaus die Prothese aus Funktions- und Passteilen verschiedener Lieferanten fertigt. Eine solche (nicht-sortenreine) Kombination, so die Argumentation mancher Kostenträger, sei nicht genehmigungsfähig, weil die Lieferanten keine „Garantie“ dafür geben, dass ihre Funktions- und Passteile mit den Teilen anderer Lieferanten kompatibel sind.
Lieferanten von Prothesenpassteilen geben in der Tat keine über das gesetzliche Haftungs- und Gewährleistungsmaß hinausgehende Garantie für die Kombination mit Funktions- und Passteilen anderer Lieferanten, insbesondere weil einschlägige Industriestandards (Beispiel: Strukturfestigkeits-Analysen nach DIN/EN 10328) nicht für jede mögliche Kombination mit Funktions- und Passteilen anderer Lieferanten getestet und nachgewiesen werden können.
Dennoch verfängt die Argumentation der Krankenkassen nicht, die versuchen, die Genehmigung mit dem Argument der fehlenden Sortenreinheit bzw. der daher fehlenden „zusätzlichen“ Garantie zu verweigern. Dieser Beitrag skizziert die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Hilfsmittelgenehmigung und erläutert die wesentlichen Gründe, die für die Genehmigungsfähigkeit „nicht-sortenreiner“ Prothesen sprechen.
A. Rechtliche Rahmenbestimmungen
Sozialversicherungsrechtlich geht es zunächst um den Prüfungsumfang der Krankenkasse im Verhältnis zum Versorgungsanspruch des Versicherten. Zudem sind die Vertragsverhältnisse zu betrachten.
I. Die Genehmigung der Versorgung mit Prothesen
Prothesen sind in der Systematik des SGB V als Hilfsmittel (§ 33 SGB V) einzustufen. Hilfsmittel sind Gegenstände, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Im Fall von Prothesen erfolgt dies durch deren ersetzende Funktion. Gesetzlich Versicherte haben einen Anspruch auf Versorgung mit erforderlichen Hilfsmitteln. Auf zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben Versicherte keinen Anspruch. Die Mehrkosten sind vom Versicherten selbst zu tragen.
Die Krankenkassen erfüllen diesen Versorgungsanspruch, indem sie Verträge gemäß § 127 SGB V mit Hilfsmittelleistungserbringern schließen. Der jeweilige Leistungserbringer versorgt sodann den Versicherten (Sachleistungsprinzip) und rechnet die Kosten gegenüber der Krankenkasse ab. Soweit ein Rahmenvertrag nach § 127 Abs. 1 SGB V geschlossen wurde, richten sich das Genehmigungsverfahren sowie die Vergütung nach diesem Rahmenvertrag. Falls ein solcher Rahmenvertrag nicht vorliegt, ist nach Maßgabe des § 127 Abs. 3 SGB V ein Einzelvertrag zwischen Leistungserbringer und Kostenträger zu schließen, in dem insbesondere die Höhe der Vergütung vereinbart wird. Grundsätzlich bedarf die Versorgung mit Hilfsmitteln einer Genehmigung durch die Krankenkasse. In der Praxis reichen Versicherte hierfür (mit Unterstützung durch den Leistungserbringer) einen Kostenvoranschlag ein, der von der Krankenkasse verbeschieden wird.
II. Zivilrecht: Gewährleistung, Mangel, Garantie
Da die Kostenträger bisweilen mit dem Fehlen einer „Garantie“ argumentieren, sind auch die vertraglichen Beziehungen sowie die damit verbundenen Rechte und Pflichten für den Fall eines Mangels in den Blick zu nehmen. Die entscheidende vertragliche Beziehung spielt sich im Verhältnis von Leistungserbringer (hier: Sanitätshaus) und Krankenkasse ab. Soweit die Krankenkasse den Antrag des Versicherten genehmigt, kommt ein Vertrag zwischen ihr und dem Leistungserbringer zustande. In diesem Vertragsverhältnis hat die Krankenkasse im Fall eines Mangels die Rechte aus der gesetzlichen Mängelhaftung (oder auch Gewährleistung genannt), welche ggf. durch spezifische Regelungen des jeweiligen Rahmenvertrags nach § 127 Abs. 3 SGB V modifiziert bzw. ergänzt werden. Regelmäßig enthalten einschlägige Rahmenverträge Klauseln, die dem Leistungserbringer (Sanitätshaus) die Gewähr für Beschaffenheit und Funktionsfähigkeit des Hilfsmittels auferlegen. Strikt davon zu trennen ist das vertragliche Verhältnis zwischen dem Leistungserbringer und den Lieferanten der Pass- und Funktionsteile. Auch in diesem Verhältnis stehen dem Käufer (Leistungserbringer) die regulären gesetzlichen Mängel- und Gewährleistungsrechte zu, die wiederum vertraglich (etwa durch Gewährung einer Garantie) modifiziert bzw. erweitert sein können.
Von gesetzlichen Mängel- und Gewährleistungsrechten, die einen „Mangel“ voraussetzen, ist begrifflich eine „Garantie“ abzugrenzen. Diese zeichnet sich grundsätzlich dadurch aus, dass sie gerade kein gesetzlich vorgeschriebenes Recht des Käufers darstellt, sondern vom Leistungserbringer freiwillig (insoweit „übergesetzlich“) gewährt wird. Der Leistungserbringer übernimmt also freiwillig die Garantie für eine bestimmte Beschaffenheit und/oder Haltbarkeit.
B. Verweigerung der Genehmigung bei „nicht-sortenreinen“ Prothesen zulässig?
Legt man diese rechtliche Ausgangssituation zugrunde, liegt nahe, dass Kostenträger die Versorgung mit einer Prothese jedenfalls nicht mit dem Argument ablehnen dürfen, dass von den Lieferanten der Pass- und Funktionsteile keine freiwillige übergesetzliche Garantie für die Beschaffenheit bzw. insbesondere die Kompatibilität mit Teilen anderer Lieferanten gewährt wird.
Erstens besagt schon § 33 SGB V, unter welchen Voraussetzungen Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit einer Prothese haben. Damit ist auch der Prüfungsauftrag und Prüfungsumfang der Krankenkasse bei der Verbescheidung des Antrags auf Genehmigung definiert. In der Sache muss die Prothese erforderlich sein, was ggf. das Vorhandensein einer sozialmedizinischen Indikation mit einschließt. Ergänzend bestimmt § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V im Hinblick auf die Kosten die Grenze der „Notwendigkeit“: Kosten, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, werden nicht von der Krankenkasse getragen, sondern vom Versicherten. Eine weitere materielle Grenze lässt sich der Regelung allerdings nicht entnehmen. Soweit eine Krankenkasse das Fehlen einer freiwilligen Herstellergarantie bemängelt, steht dies evident weder mit der Erforderlichkeit noch mit der Notwendigkeit der Prothesenversorgung in Verbindung. Mit anderen Worten: Die Frage, ob und inwieweit der Lieferant der Pass- und Funktionsteile eine Garantie gewährt, darf von der Krankenkasse bei der Entscheidung über die Genehmigung nicht berücksichtigt werden. Auch das Bundessozialgericht gesteht den Krankenkassen ein „eigenes Entscheidungsrecht“ nur im Hinblick auf die Frage zu, ob das Hilfsmittel „im Einzelfall erforderlich ist“ (Urteil vom 10.03.2011, Az.: B 3 KR 9/10 R, Rn. 10). Etwas anderes ergibt sich, soweit ersichtlich, auch nicht aus bestehenden Rahmenverträgen. Diese treffen detaillierte Regelungen zum Ablauf des Antrags- und Genehmigungsverfahrens, machen aber regelmäßig keine weiteren grundlegenden inhaltlichen Vorgaben zu Prüfungsumfang und ‑maßstab der Krankenkasse. Ohnehin regeln die Rahmenverträge das Verhältnis von Leistungserbringer und Kostenträger, sodass eine etwaige Garantie des Lieferanten von Funktions- und Passteilen keine vordergründige Rolle spielen kann.
Zweitens ist auch das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) nicht verletzt, welches die Krankenkasse zu wirtschaftlichem Handeln verpflichtet. In vorliegendem Szenario stehen weder der Umfang der Genehmigung noch die Höhe der Vergütung in Rede. Das bloße Fehlen einer globalen Lieferantengarantie für sämtliche Kombinationsmöglichkeiten macht die Versorgung keineswegs unwirtschaftlich. Die Krankenkassen sind wirtschaftlich zudem nicht übervorteilt, weil ihnen die gesetzlichen Mängel- und Gewährleistungsrechte gegenüber ihrem Vertragspartner (also dem Sanitätshaus als Leistungserbringer) zustehen. Überdies bestehen bisweilen auch weitergehende Verantwortlichkeiten des Leistungserbringers für Beschaffenheit und Funktion des Hilfsmittels aus einem zugrundeliegenden Rahmenvertrag. Mit anderen Worten: Eine Garantie durch den Lieferanten hat auf die Rechtsposition der Krankenkasse keinerlei Auswirkungen.
Drittens ist es nach Medizinprodukterecht ohne Weiteres auch regulatorisch zulässig, dass bei Sonderanfertigungen (wie Prothesen) Komponenten unterschiedlicher Hersteller verbaut werden. Nach der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR) ist es möglich, dass Komponenten für Sonderanfertigungen mit einer CE-Kennzeichnung versehen werden und sich Orthopädietechniker bei der Herstellung von Sonderanfertigungen insoweit auf die Konformitätsbewertung des Herstellers stützen können (siehe hierzu den Eurocom-Leitfaden „Orthesen/Prothesen-Passteile zur Herstellung von Sonderanfertigungen“, abrufbar unter eurocom-info.de/wp-content/uploads/2019/10/Praxisleitfaden_eurocom_Orthesen_Prothesen.pdf (zuletzt abgerufen Oktober 2024). Zudem gibt es in der MDR keinen Hinweis darauf, dass Sonderanfertigungen ausschließlich sortenrein zusammenzustellen sind. Vielmehr ist es gerade der Sinn und Zweck von Sonderanfertigungen, dass ein patientenindividuell möglichst passendes Medizinprodukt hergestellt wird, was denklogisch die Auswahl möglicher Komponenten aus einem breiten Pool voraussetzt. Die Verantwortung für die Kombination trägt der Hersteller der Sonderanfertigung im Verfahren nach Anhang XIII MDR. Krankenkassen überschreiten also auch ihre Kompetenz, wenn sie in die Art und Weise der Kombinationsmöglichkeit eingreifen und faktisch eine Sortenreinheit fordern, die vom europäischen Gesetzgeber im Medizinprodukterecht nicht vorgesehen ist.
Viertens handelt es sich bei der in Rede stehenden „Garantie“ schon dem Wesen nach um eine freiwillige (gesetzlich nicht erforderliche) Gewährleistung durch Lieferanten. Dritte haben keinen Anspruch auf die Gewährung einer solchen Garantie. Rechtlich ist es widersinnig, dass ein Kostenträger die Genehmigung aufgrund des Vorenthaltens einer zusätzlichen rechtlichen Position verweigert, auf die er von vornherein keinen Anspruch hat.
Fünftens gilt dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass Lieferanten der Pass- und Funktionsteile eine solche Garantie schlicht nicht abgeben können, weil sie keine Daten darüber haben, wie sich ihre Komponente in der Kombination mit Komponenten anderer Hersteller in jeder denkbaren Kombinationsmöglichkeit verhält.
Sechstens und abschließend liegt die Verantwortung für die Herstellung der Prothese sowohl im medizinprodukterechtlichen Sinn („Sonderanfertigung“) als auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinn (Leistungserbringer-Status) beim Sanitätshaus bzw. Orthopädietechniker. Diese sind für die Auswahl der Einzelteile und die Zusammensetzung verantwortlich und insofern auch als Vertragspartner die originären Ansprechpartner für die Krankenkassen. Den Lieferanten der Passteile kommt dagegen schon regulatorisch nicht die Herstellerrolle für die Sonderanfertigung (Prothese) zu, mit welcher der Patient versorgt wird. Sie sind zudem auch nicht der Hilfsmittelleistungserbringer. Auf eine ihrerseits gewährte Garantie kann es aus Sicht der Krankenkasse folglich nicht ankommen.
C. Fazit und Einordnung
Nach alledem stellt das Fehlen einer Lieferanten-Garantie kein Kriterium für die Genehmigung einer Versorgung mit einer Prothese dar und kann folglich krankenkassenseitig auch nicht als Argument für eine Ablehnung bei „nicht-sortenreinen“ Prothesen verwendet werden.
Diese Facette der Genehmigung und Vergütung von Prothesen verdeutlicht die zentrale und hervorgehobene Stellung der Sanitätshäuser bzw. Orthopädietechniker bei der Versorgung mit Prothesen. Diese fertigen in eigener Verantwortung und nach eigener Risikoabschätzung aus verschiedenen Pass- und Funktionsteilen Prothesen und sind daher sowohl regulatorisch der Hersteller der Prothese (Sonderanfertiger) als auch Leistungserbringer im Sinne des SGB V. Im Rahmen dessen sind sie insbesondere für die Auswahl und Kombinierbarkeit der verschiedenen Bauteile verantwortlich und haften hierfür auch gegenüber der Krankenkasse. Umgekehrt obliegt es gerade nicht den Lieferanten der Bauteile, über die ohnehin durch Medizinprodukterecht und Industriestandards vorgegebene Beschaffenheit und Qualität hinausgehend die Kombinierbarkeit mit (sämtlichen) Bauteilen anderer Lieferanten zu garantieren.
Dies entspricht im Ergebnis auch sowohl dem medizinprodukterechtlichen als auch dem sozialversicherungsrechtlichen Leitbild des Gesundheitshandwerkers, der mit eigener Leistung und in eigener Verantwortung, den Bedürfnissen des jeweiligen Patienten entsprechend, ein individuelles Medizinprodukt herstellt und als Hilfsmittel an den Patienten abgibt.
Zur Person
Prof. Dr. Boris Handorn ist Rechtsanwalt und Gründungspartner der Produktkanzlei mit Büros in Augsburg und Berlin und leitet dort die Sektorgruppe Life Sciences. Er ist spezialisiert auf alle Fragen des Medizinprodukterechts, der Produkthaftung sowie auf das klinische Forschungs- und Entwicklungsrecht. Handorn ist zugleich Honorarprofessor für Arzneimittel- und Medizinprodukterecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Forschungsstelle für Medizinrecht).
Zur Person
Dr. Dominik Strobl ist Rechtsanwalt der Produktkanzlei in Augsburg und berät Unternehmen zu allen Aspekten aus dem Life-Sciences-Sektor. Sein Fokus liegt vor allem auf der Heilmittelwerbung, der Healthcare Compliance, dem Erstattungsrecht und allen rechtlichen Facetten der Digitalisierung des Gesundheitswesens.
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