Online-Ver­sor­gung: Kei­ne Grauzone

In seinem „Gutachten zu der rechtlichen Bewertung des Outsourcings von Orthopädietechnikleistungen“ hatte der Medizinrechtsexperte Prof. Dr. Dr. Alexander Ehlers Verstöße gegen nationale und europarechtliche Vorschriften bemängelt.

Im Gespräch mit der OT-Redak­ti­on erklärt der Medi­z­in­ju­rist und Arzt unter ande­rem, war­um ent­spre­chen­de Online-Ver­sor­gungs­for­men in der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung nicht zuläs­sig, in der pri­va­ten aber mög­lich sind.

Anzei­ge

Gren­zen ausloten

OT: Herr Prof. Ehlers, in Ihrem Gut­ach­ten haben Sie fest­ge­stellt, dass ein rein digi­ta­ler Ver­trieb ortho­pä­di­scher Ein­la­gen auf Rezept zulas­ten der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung über Online-Platt­for­men zum jet­zi­gen Zeit­punkt und nach aktu­el­lem Stand der Tech­nik nicht mög­lich ist. Und zwar, weil dies gegen meh­re­re gesetz­li­che Vor­schrif­ten bzw. Vor­ga­ben ver­sto­ße, sach­lich und recht­lich unzu­läs­sig sei. War­um konn­te eine sol­che Art der Ver­sor­gung den gesetz­lich Ver­si­cher­ten für eini­ge Zeit trotz­dem ange­bo­ten werden?

Alex­an­der Ehlers: Ein Gesetz ist immer inter­pre­ta­ti­ons­fä­hig. Daher ist es nicht unge­wöhn­lich, dass bestimm­te Din­ge mal aus­pro­biert, Gren­zen aus­ge­lo­tet wer­den. Nicht zuletzt, weil das The­ma Digi­ta­li­sie­rung im wei­te­ren Sin­ne auf der Tages­ord­nung steht. Grund­sätz­lich ist die Markt­prä­senz der­ar­ti­ger Pro­duk­te und Dienst­leis­tun­gen nicht ver­wun­der­lich. Mein Gut­ach­ten bezieht sich zudem aus­schließ­lich auf die Ver­sor­gung inner­halb der GKV.

OT: In der pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­rung sähe dies anders aus?

Ehlers: In der pri­va­ten Kran­ken­ver­si­che­rung sind sol­che Ver­sor­gungs­for­men grund­sätz­lich mög­lich. Das hängt von den jewei­li­gen Ver­trä­gen ab. Vor­aus­ge­setzt, die Pro­duk­te sind ent­spre­chend recht­li­cher Vor­ga­ben markt­fä­hig, dann kann die PKV selbst fest­le­gen, wel­che Qua­li­täts­stan­dards zur Anwen­dung gelan­gen, auch wenn sich die PKV oft an die GKV anhängt, was Wirt­schaft­lich­keit und Qua­li­tät betrifft. Doch gene­rell sind die Spiel­räu­me in der PKV größer.

OT: Das heißt, hier hat eine gesetz­li­che Kran­ken­kas­se ver­sucht, Spiel­räu­me auszuweiten?

Ehlers: Dass eine gesetz­li­che Kran­ken­kas­se auf die­sen Zug auf­springt, hat ver­mut­lich mit der digi­ta­len Wen­de zu tun, die beflü­gelt wur­de durch die Erfah­run­gen wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie. Eine Online-Ver­sor­gung stellt sich in vie­len Berei­chen effi­zi­en­ter und wirt­schaft­li­cher dar – in der Ortho­pä­die-Tech­nik ist sie es noch nicht. Wenn hier bestimm­te sach­li­che bzw. inhalt­li­che Ände­run­gen vor­ge­nom­men und die gesetz­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen ange­passt wer­den, dann sähe das gege­be­nen­falls anders aus. So ist etwa vor­stell­bar, dass mit­hil­fe eines sol­chen Ver­sor­gungs­mo­dells Eng­päs­se bei der ortho­pä­die­schuh­tech­ni­schen Ver­sor­gung ver­hin­dert wer­den sol­len – der Fach­kräf­te­man­gel ist ja auch dort angekommen.

OT: Das Bun­des­amt für Sozia­le Siche­rung als Auf­sichts­be­hör­de hat die in Ihrem Gut­ach­ten beschrie­be­ne E‑Versorgung auf GKV-Rezept aus dem Ver­kehr gezogen …

Ehlers: Das BAS hat die­se Ver­sor­gung bean­stan­det, dar­auf­hin wur­de der Ver­trag zwi­schen dem Leis­tungs­an­bie­ter und der Bar­mer ruhend gestellt.

OT: Ist es trotz­dem noch gerecht­fer­tigt, den Patient:innen der­ar­ti­ge Online-Ver­sor­gungs­for­men mit Abrech­nung über die GKV – also auf Rezept – nach wie vor anzu­bie­ten und sie zu bewerben?

Ehlers: Die Rechts­grund­la­ge für die Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln inner­halb der GKV ist ein Ver­sor­gungs­ver­trag nach § 126 und 127 Sozi­al­ge­setz­buch Fünf­tes Buch. Die Kran­ken­kas­sen sind dem­zu­fol­ge ver­pflich­tet, aktiv Ver­trags­ver­hand­lun­gen mit den Leis­tungs­er­brin­gern zu füh­ren. Die Leis­tungs­er­brin­ger müs­sen die in mei­nem Gut­ach­ten erwähn­ten per­sön­li­chen und sach­li­chen Vor­aus­set­zun­gen erfül­len. Sie dür­fen nur Leis­tun­gen anbie­ten, die den Vor­ga­ben des Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis­ses und der Hilfs­mit­tel­richt­li­nie des Gemein­sa­men Bun­des­aus­schus­ses gerecht wer­den. Im Ver­sor­gungs­not­fall sind Ein­zel­ver­ein­ba­run­gen mög­lich, zum Bei­spiel wenn ein Spe­zi­al­pro­dukt gebraucht wird oder bei Eng­päs­sen – laut § 127 (3) SGB V (Ver­ein­ba­rung im Ein­zel­fall, Anm. d. Red.).

OT: Das heißt?

Ehlers: Wenn mit der Erstat­tungs­fä­hig­keit eines rein digi­ta­len Ver­triebs ortho­pä­di­scher Ein­la­gen in der GKV gewor­ben wird, dann wäre das unter den der­zei­ti­gen Bedin­gun­gen nicht zuläs­sig. Das lässt sich mei­nem Gut­ach­ten ent­neh­men. Eine sol­che Wer­bung könn­te wett­be­werbs­recht­lich abge­mahnt wer­den – als irre­füh­ren­de Wer­bung nach dem Gesetz gegen unlau­te­ren Wett­be­werb. Denn der­ar­ti­ge Leis­tun­gen dürf­ten nicht zulas­ten der GKV abge­rech­net wer­den. Soll­te dies trotz­dem erfol­gen, dann könn­te sich der ver­ord­nen­de Arzt bzw. die Ärz­tin Regress­for­de­run­gen gegen­über­se­hen. Schließ­lich sind sie zur Kon­trol­le ver­pflich­tet, ob die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung von GKV-Ver­si­cher­ten auf Rezept bzw. ärzt­li­che Ver­ord­nung den gesetz­li­chen Vor­ga­ben ent­spricht. Soll­ten Leis­tungs­er­brin­ger abrech­nen, ohne dass eine gül­ti­ge ärzt­li­che Ver­ord­nung vor­liegt, sind wie­der­um die­se gegen­über der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­se mög­li­cher­wei­se zu Rück­zah­lun­gen verpflichtet.

OT: Wäre eine sol­che Ver­sor­gung nach dem oben erwähn­ten § 127 (3) SGB V mög­lich, in dem es heißt: „Soweit für ein erfor­der­li­ches Hilfs­mit­tel kei­ne Ver­trä­ge der Kran­ken­kas­se (…) mit Leis­tungs­er­brin­gern bestehen oder durch Ver­trags­part­ner eine Ver­sor­gung der Ver­si­cher­ten in einer für sie zumut­ba­ren Wei­se nicht mög­lich ist, trifft die Kran­ken­kas­se eine Ver­ein­ba­rung im Ein­zel­fall mit einem Leistungserbringer; (…)“?

Ehlers: Es ist zwei­fel­haft, dass ange­sichts des hier dis­ku­tier­ten Sach­ver­halts – also der erwähn­ten Ein­la­gen­ver­sor­gun­gen – kein Ver­sor­gungs­ver­trag vor­liegt. Auch eine unzu­mut­ba­re Ver­sor­gung ist nicht wahr­schein­lich. Soll­te dies den­noch der Fall sein, schreibt § 127 (3) SGB V vor, dass Ein­zel­ver­ein­ba­run­gen nur geschlos­sen wer­den dür­fen, wenn die Qua­li­tät der Hilfs­mit­tel und der Dienst­leis­tun­gen den Anfor­de­run­gen des HMV und der G‑BA-Hilfs­mit­tel­richt­li­nie entsprechen.

GKV-Leis­tun­gen unter­lie­gen Qualitätsstandards

OT: Es gibt kei­ne Grauzone?

Ehlers: Die Kos­ten­trä­ger sind nicht berech­tigt, in der GKV Kos­ten für Leis­tun­gen zu erstat­ten, wel­che die Anfor­de­run­gen des SGB V nicht erfül­len. Eine recht­li­che Grau­zo­ne liegt nicht vor, die Sach­ver­hal­te sind abschlie­ßend gesetz­lich geregelt.

OT: Könn­te eine Geset­zes­an­pas­sung den rein digi­ta­len Ver­trieb ortho­pä­di­scher Ein­la­gen auf GKV-Rezept legalisieren?

Ehlers: Die der­zei­ti­ge Ver­sor­gung ist Sta­te of the Art. Auch bei einer Ände­rung gesetz­li­cher Bestim­mun­gen muss die Qua­li­tät der Leis­tungs­er­brin­gung wei­ter­hin sicher­ge­stellt sein. Es darf kei­ne Ver­schlech­te­rung erfolgen.

OT: Wie kann der Gesetz­ge­ber sicher­ge­hen, dass Ver­sor­gungs­mo­del­le, die das BAS bean­stan­det, tat­säch­lich vom Markt verschwinden?

Ehlers: Hier muss man beach­ten, dass nicht die­se Pro­duk­te bzw. Ange­bo­te an sich moniert wur­den, son­dern die Leis­tungs­er­brin­gung zulas­ten der GKV. Bei der Ver­sor­gung der GKV-Ver­si­cher­ten gilt es, bestimm­te Qua­li­täts­stan­dards ein­zu­hal­ten. Die­sen wur­de bei den unter­such­ten Gege­ben­hei­ten nicht ent­spro­chen. Das bedeu­tet nicht, dass das Pro­dukt gene­rell unzu­läs­sig ist. Ein Pro­dukt kann auf dem Markt blei­ben, wenn bei­spiels­wei­se die Vor­ga­ben der ein­schlä­gi­gen Bestim­mun­gen der EU-Medi­zin­pro­duk­te­ver­ord­nung (Medi­cal Device Regu­la­ti­on, MDR) auf euro­päi­scher bzw. des Medi­zin­pro­dukt­e­recht-Durch­füh­rungs­ge­set­zes (MPDG) auf natio­na­ler Ebe­ne ein­ge­hal­ten werden.

OT: Wie stellt sich die Lage bei Hilfs­mit­teln dar, die pri­vat bezahlt wer­den, folg­lich weder über GKV noch über PKV abge­rech­net werden?

Ehlers: Die Selbst­be­schaf­fung war eben­so nicht Gegen­stand mei­nes Gut­ach­tens. Die Rechts­la­ge ist in dem Fall viel libe­ra­ler. Sofern ein Pro­dukt in Deutsch­land bzw. Euro­pa markt­fä­hig ist, kann es ver­trie­ben und ange­wen­det wer­den. Bei Medi­zin­pro­duk­ten bemisst sich die Markt­fä­hig­keit an den Grund­sät­zen der MDR. Ein Pro­dukt, das die­sen Regeln ent­spricht, kann unter ande­rem online ver­trie­ben wer­den. Die Ver­triebs­ka­nä­le hän­gen noch davon ab, ob die Abga­be ver­schrei­bungs- oder apo­the­ken­pflich­tig ist. Schluss­end­lich müss­te man den Ein­zel­fall prü­fen, aber grund­sätz­lich sind die Vor­aus­set­zun­gen eben­falls nicht so eng wie bei der Ver­sor­gung von GKV-Versicherten.

Min­dest­stan­dard nicht untergraben

OT: Wie kann die GKV-Ver­si­cher­ten­ge­mein­schaft sicher­ge­hen, dass Ver­sor­gungs­for­men, die von medi­zi­ni­schen Fach­ge­sell­schaf­ten auf­grund mög­li­cher Fol­ge­schä­den klar ver­neint wer­den, von der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung weder unter­stützt noch bezahlt werden?

Ehlers: Das Gesetz sieht meh­re­re Mecha­nis­men vor, die sicher­stel­len, dass der Leis­tungs­ka­ta­log der GKV auf einem qua­li­ta­tiv hohen Niveau ist und bleibt. So wer­den im HMV Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät der dort gelis­te­ten Hilfs­mit­tel fest­ge­legt. Beim Abschluss von Ver­trä­gen nach § 127 SGB V müs­sen die Ver­trags­par­tei­en auf die im HMV gere­gel­ten Min­dest­stan­dards bzw. Qua­li­täts­an­for­de­run­gen Bezug neh­men. Und zu den Grund­la­gen der ärzt­li­chen Ver­ord­nung gehört die Über­prü­fung, ob die Leis­tungs­er­brin­gung den gesetz­li­chen Anfor­de­run­gen genügt. Leis­tun­gen, bei denen das nicht der Fall ist, dür­fen nicht zulas­ten der GKV erbracht wer­den. Abschlie­ßend unter­lie­gen die Kran­ken­kas­sen der staat­li­chen Rechtsaufsicht.

OT: Nach­dem das BAS die oben erwähn­te E‑Versorgung still­ge­legt hat­te, pos­tu­lier­te eine gesetz­li­che Kran­ken­kas­se, even­tu­ell kön­ne das HMV geän­dert wer­den, um die­se Art von Ver­sor­gun­gen in Zukunft den Ver­si­cher­ten auf GKV-Rezept geset­zes­si­cher anzu­bie­ten. Wie kom­men­tie­ren Sie das vor dem Hin­ter­grund Ihres Gutachtens?

Ehlers: Um eine rechts­si­che­re Ver­sor­gung mit sol­cher­art Pro­duk­ten zu gewähr­leis­ten, wäre eine Anpas­sung des HMV not­wen­dig, aber nicht hin­rei­chend. Zusätz­lich müss­ten der § 127 SGB V und/oder die G‑BA-Hilfs­mit­tel­richt­li­nie ange­passt wer­den. Gleich­zei­tig gibt es ein Pro­blem bezüg­lich des all­ge­mein aner­kann­ten Stands der Tech­nik sowie der medi­zi­ni­schen Erkennt­nis, die berück­sich­tigt wer­den müs­sen. Somit erscheint im vor­lie­gen­den Sach­ver­halt eine pati­en­ten­in­di­vi­du­el­le Anpas­sung die­ses Hilfs­mit­tels in der Online-Ver­sor­gung nicht mög­lich. Eine Leis­tung zulas­ten der GKV muss den im Sozi­al­recht ver­an­ker­ten Ansprü­chen aber ent­spre­chen. Bevor das HMV ange­passt wer­den kann, muss klar­ge­stellt wer­den, dass alle tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen für eine qua­li­täts­si­che­re Ver­sor­gung der GKV-Ver­si­cher­ten vorliegen.

OT: Kürz­lich hat der Spit­zen­ver­band Bund der Kran­ken­kas­sen (GKV-Spit­zen­ver­band) im Rah­men der Fort­schrei­bung des HMV bei den Pro­dukt­grup­pen 05 (Ban­da­gen) und 17 (Hilfs­mit­tel zur Kom­pres­si­ons­the­ra­pie) die Anfor­de­rung der per­sön­li­chen Bera­tung gestri­chen. Medi­zi­ni­sche Fach­ge­sell­schaf­ten haben dies kri­ti­siert. Ist mit der Strei­chung ein ers­ter Schritt getan, um die­se Hilfs­mit­tel auf rein digi­ta­lem Weg zu vertreiben?

Ehlers: Die per­sön­li­che Bera­tung ist nur ein Aspekt der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung, wenn auch ein wich­ti­ger. Selbst­ver­ständ­lich erleich­tert die­se Ände­rung zukünf­tig den Umstieg auf eine voll­stän­di­ge Online-Ver­sor­gung. Hin­rei­chend ist die­se Ände­rung aller­dings nicht. Zum aktu­el­len Zeit­punkt lässt sich dar­aus nur able­sen, dass der Auf­wand bei der Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln ver­rin­gert wer­den soll, bei denen nach Ansicht des GKV-Spit­zen­ver­bands wohl kei­ne per­sön­li­che Bera­tung erfor­der­lich ist. Und die­se Ver­rin­ge­rung des Auf­wands kann hier dar­in bestehen, dass eine digi­ta­le Alter­na­ti­ve zur per­sön­li­chen Bera­tung ange­bo­ten wird. Jetzt muss man beob­ach­ten, wie das kon­kret umge­setzt wird. Das lässt sich zum gegen­wär­ti­gen Zeit­punkt noch nicht abschlie­ßend beurteilen.

OT: Wird damit die wohn­ort­na­he Ver­sor­gung, die das deut­sche Sozi­al­recht ins Zen­trum stellt – genau­so wie die in der Qua­li­tät gesi­cher­te, aus­rei­chen­de, zweck­mä­ßi­ge sowie wirt­schaft­li­che Ver­sor­gung – demontiert?

Ehlers: Auf die wohn­ort­na­he Ver­sor­gung hat die­se Ände­rung im HMV kei­ne Aus­wir­kung. Die­se wird in § 127 SGB V fest­ge­legt. Sons­ti­ge Aspek­te von Qua­li­tät und Wirt­schaft­lich­keit wer­den dadurch genau­so wenig berührt. § 33, Absatz 1, SGB V sieht näm­lich wei­ter­hin vor, dass not­wen­di­ge Leis­tun­gen wie bei­spiels­wei­se die Aus­bil­dung im Gebrauch des Hilfs­mit­tels erbracht wer­den müs­sen. Kön­nen die­se nicht ohne per­sön­li­che Bera­tung erfol­gen, ist eine rei­ne Online-Ver­sor­gung nicht zulässig.

OT: Das heißt, es wird kein Min­dest­stan­dard untergraben?

Ehlers: Korrekt.

Beding­te Transparenz

OT: Wie lie­ßen sich die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung sowie das dahin­ter­ste­hen­de Ver­trags­we­sen trans­pa­ren­ter gestal­ten? Zum Bei­spiel, um zu garan­tie­ren, dass recht­li­che Vor­ga­ben und Qua­li­täts­stan­dards ein­ge­hal­ten wer­den? Wäre die umfas­sen­de Ver­öf­fent­li­chung aller Ver­trags­in­hal­te ein Weg?

Ehlers: Trans­pa­renz ist seit Jah­ren ein gro­ßes The­ma in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung. Und § 127, Absatz 1, des SGB V schreibt ja vor, dass ande­re Leis­tungs­er­brin­ger auf Nach­fra­ge unver­züg­lich über die Inhal­te abge­schlos­se­ner Ver­trä­ge ein­schließ­lich der Ver­trags­part­ner zu infor­mie­ren sind. Eine Infor­ma­ti­ons­pflicht zuguns­ten ande­rer Kos­tenträger oder der Ver­si­cher­ten ist nicht vor­ge­se­hen. Letz­te­re genie­ßen nach Absatz 6 das Recht, die wesent­li­chen Inhal­te der Ver­trä­ge zu erfah­ren – im direk­ten Aus­tausch oder online. Ein­sicht in den gesam­ten Ver­trag kön­nen sie nicht neh­men. Aller­dings hat das BAS die Auf­fas­sung ver­tre­ten, dass eine Kran­ken­kas­se nicht berech­tigt ist, einen Leis­tungs­er­brin­ger zur Geheim­hal­tung bezüg­lich der abge­schlos­se­nen Ver­trä­ge zu ver­pflich­ten. Kos­ten­trä­ger und Ver­si­cher­te kön­nen also über Umwe­ge zu die­sen Infor­ma­tio­nen gelan­gen. Denk­bar wäre, ihnen einen eige­nen Anspruch auf Ein­sicht zu gewäh­ren. Inwie­fern das dazu bei­tra­gen kann, die recht­li­chen Vor­ga­ben und Qua­li­täts­stan­dards ein­zu­hal­ten – da wür­de ich ein Fra­ge­zei­chen set­zen. Der Druck, der durch Wett­be­wer­ber ent­steht, dürf­te grö­ßer sein als der durch Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten oder Kran­ken­kas­sen auf­ge­bau­te. Das Wett­be­werbs­recht ist in die­ser Hin­sicht ein schär­fe­res Schwert.

OT: Bis­her sor­gen über 1.000 Ein­zel­ver­trä­ge für eine Zer­split­te­rung der GKV-Ver­trags­land­schaft. Könn­ten ver­pflich­ten­de Leit­ver­trä­ge zwi­schen den Kran­ken­kas­sen und maß­geb­li­chen Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen der Leis­tungs­er­brin­ger Abhil­fe schaffen?

Ehlers: Rah­men­ver­ein­ba­run­gen – wie wir sie im Sozi­al­recht ja regel­mä­ßig sehen – sind ein effek­ti­ves und sehr wohl ver­wen­de­tes Mit­tel, um die Ver­sor­gung in bestimm­ten Berei­chen auf einen gemein­sa­men Min­dest­stan­dard zu heben sowie ver­schie­de­ne Aspek­te bei den Ver­hand­lun­gen zwi­schen den ein­zel­nen Par­tei­en aus­zu­klam­mern. Damit könn­te sicher­lich ein Bei­trag zur Trans­pa­renz der Leis­tungs­in­hal­te und der Anfor­de­run­gen an die Leis­tun­gen ver­bun­den sein. Man muss aller­dings berück­sich­ti­gen, dass Detail­re­ge­lun­gen, bei denen das Inter­es­se an Trans­pa­renz beson­ders groß ist, in sol­chen Ver­ein­ba­run­gen kei­nen Platz fin­den. Des­halb gehen eini­ge Vor­schlä­ge zur Rea­li­sie­rung von Leit­ver­trä­gen davon aus, dass eher die ver­wal­tungs­tech­ni­schen Aspek­te Gegen­stand der­ar­ti­ger Rah­men­ver­ein­ba­run­gen wer­den – und weni­ger die kon­kre­ten Inhal­te zum Produkt.

OT: Ver­hilft das zu mehr Transparenz?

Ehlers: Ich glau­be, dass dies der Trans­pa­renz nicht son­der­lich zuträg­lich wäre. Gleich­zei­tig exis­tiert ja bei Hilfs­mit­teln bereits das HMV, wel­ches auf Bun­des­ebe­ne for­mu­liert und wei­ter­ent­wi­ckelt wird sowie Stel­lung­nah­men der Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen der betrof­fe­nen Her­stel­ler und der Leis­tungs­er­brin­ger berück­sich­tigt. Im HMV sind die wesent­li­chen Inhal­te zur Leis­tungs­er­brin­gung schon gere­gelt. Und wie erwähnt, müs­sen die Inhal­te der nach § 127 (1) SGB V abge­schlos­se­nen Ver­trä­ge ande­ren Leis­tungs­er­brin­gern auf Nach­fra­ge mit­ge­teilt wer­den. Die­se kön­nen den Ver­trä­gen bei­tre­ten. Ein Rah­men­ver­ein­ba­rungs­sys­tem mit dem HMV als Qua­li­täts­ba­sis besteht also im Prin­zip. Ver­bind­lich jedoch ist es natür­lich nicht.

Online-Ver­sor­gung auf Rezept?

OT: Herr Prof. Ehlers, in Ihrem Gut­ach­ten schrei­ben Sie, dass sich des­sen Ergeb­nis­se nicht aus­schließ­lich auf die Ver­sor­gung mit ortho­pä­di­schen Ein­la­gen bezie­hen. Dürf­ten dem­nach zum jet­zi­gen Zeit­punkt auf GKV-Rezept kei­ner­lei Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen rein digi­tal über Online-Platt­for­men durch­ge­führt werden?

Ehlers: Aus­schließ­lich auf die Ver­sor­gung auf Rezept in der GKV bezo­gen: Ja, die Ergeb­nis­se des Gut­ach­tens kön­nen unter Umstän­den auf ande­re Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen über­tra­gen werden.

OT: Das bedeutet?

Ehlers: Die sach­li­chen und per­sön­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für „eine aus­rei­chen­de, zweck­mä­ßi­ge und funk­ti­ons­ge­rech­te Her­stel­lung, Abga­be und Anpas­sung der Hilfs­mit­tel“ aus § 126 SGB V gel­ten für alle Ver­trags­part­ner der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen und betref­fen nicht nur ortho­pä­di­sche Schuh­ein­la­gen. Sie sol­len Qua­li­tät und Wirt­schaft­lich­keit etc. über­grei­fend sicher­stel­len. So sind einer­seits alle all­ge­mei­nen und beson­de­ren Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät der Pro­duk­te und der Leis­tun­gen zu erfül­len – dazu gehört die wohn­ort­na­he Ver­sor­gung. Ande­rer­seits sind all­ge­mei­ne Grund­sät­ze aus dem Medi­zin­pro­duk­te- und dem Sozi­al­recht anzu­wen­den. Damit ist anzu­neh­men, dass auch ande­re Online-Ver­sor­gun­gen mit Hilfs­mit­teln zum Bei­spiel gegen das Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot ver­sto­ßen oder dem all­ge­mei­nen Stand der Tech­nik nicht gerecht wer­den. Im Mit­tel­punkt steht der Schutz der GKV-Ver­si­cher­ten. Ob eine Online-Ver­sor­gung bei ande­ren oder gar jedem Hilfs­mit­tel unzu­läs­sig ist, wäre im Ein­zel­nen zu prü­fen. Außer­dem sträubt sich die Ortho­pä­die-Tech­nik ja nicht gegen die Digi­ta­li­sie­rung, wenn Qua­li­tät und Wirt­schaft­lich­keit gege­ben sowie ent­spre­chen­de per­so­nel­le und sach­li­che Vor­aus­set­zun­gen erfüllt sind.

OT: Es geht dem­nach nicht dar­um, Digi­ta­li­sie­rung und Online-Ver­sor­gung abzulehnen?

Ehlers: Ins­ge­samt hinkt die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung in Deutsch­land in Sachen Digi­ta­li­sie­rung hin­ter­her. Da sind wir weit abge­schla­gen. Die nor­di­schen Län­der wie Däne­mark und Schwe­den lie­gen deut­lich vor uns, eben­so Est­land, Kana­da und Isra­el. Kei­ne Fra­ge, digi­ta­le Ver­sor­gung kann effi­zi­ent und wirt­schaft­lich sein. Gleich­wohl muss man dabei auf­pas­sen, dass man nicht in eine qua­li­ta­ti­ve Unter­ver­sor­gung hin­ein­rutscht. Digi­ta­le Ver­sor­gungs­mo­del­le kön­nen nur anstel­le der ana­lo­gen grei­fen, wenn die all­ge­mei­nen Vor­ga­ben im Hin­blick auf Qua­li­tät und Nut­zen ein­ge­hal­ten wer­den. Zu einer Ver­schlech­te­rung bei der Ver­sor­gung der gesetz­lich Ver­si­cher­ten darf es nicht kom­men. Gesund­heit ist ein sehr sen­si­bles Feld mit einem hohen Anfor­de­rungs­le­vel. Des­halb ist eine ange­mes­se­ne Digi­ta­li­sie­rungs­stra­te­gie erfor­der­lich. Sicher gibt es den Wunsch nach digi­ta­ler High­tech-Medi­zin. Wenn aber die Qua­li­tät lei­det, tut man weder den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten noch dem Gesund­heits­we­sen einen Gefal­len – spe­zi­ell im Hin­blick auf Folgekosten.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

Zur Per­son
Prof. Dr. iur. Dr. med. Alex­an­der P. F. Ehlers ist Fach­an­walt für Medi­zin­recht und Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin sowie Part­ner der Münch­ner Rechts­an­walts­ge­sell­schaft mbB Ehlers, Ehlers & Part­ner. Der Hoch­schul­leh­rer und Exper­te in den Berei­chen des Medizin‑, Phar­ma- und Gesund­heits­rechts hat die Ehren­prä­si­dent­schaft der Gesell­schaft für Recht und Poli­tik im Gesund­heits­we­sen (GRPG) inne und enga­giert sich zudem als Stif­ter und Vor­stands­vor­sit­zen­der der Paul Niko­lai Ehlers-Stif­tung in München. 
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