OT: Wann fiel die Entscheidung für ein rein digitales Kongressformat?
Simon Classen: Zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 war noch keine Rede von einem digitalen Kongress. Damals dachten wir, wir gehen auf Nummer sicher, wenn wir den Kongress in den Herbst des gleichen Jahres verschieben. Bereits im Sommer 2020 zeichnete sich ab, dass eine Präsenzveranstaltung im Herbst 2020 unrealistisch und selbst im Frühjahr 2021 unwahrscheinlich ist. Deshalb haben wir, mein Kongresspräsidentenkollege Prof. Dr. Jochen Karl Rössler, Abteilungsleiter der Pädiatrischen Hämatologie und Onkologie des Universitätsspitals Bern, sowie die Fachgesellschaften DGL und GDL, die den Lymphkongress veranstalten, über eine hybride Kongresskonstruktion und alternativ eine rein digitale Variante im Frühjahr 2021 nachgedacht. Die beiden Fachgesellschaften haben daraufhin ihre Mitglieder per E‑Mail befragt, welches Format sie bevorzugen würden. Die Antworten ergaben ein eindeutiges Bild: Die Mehrheit sprach sich für eine digitale Variante aus, sodass wir ab Spätsommer in die Vorbereitung gingen.
OT: Worauf haben Sie und Ihr Kollege Prof. Rössler in der Vorbereitung besonders viel Wert gelegt?
Classen: Wir wollten ein digitales Format auflegen, das die drei Säulen des Lymphkongresses vereint: den großen Block der Wissensvermittlung aus Wissenschaft und Praxis mit Diskussionsoptionen und unter Einbeziehung aller an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen, Vollversammlungen der beiden Gesellschaften sowie einen direkten Austausch zwischen Industrie und Interessierten. Prof. Dr. Volker Großkopfnd seinem Team ist es gelungen, all das von unserem Kölner Studio aus anzubieten.
Nicht wegzudenken: digitale Formate
OT: Wie beurteilen Sie im Rückblick die digitale Kongressvariante?
Classen: Ganz ehrlich? Klingt nach Eigenlob, aber ich fand den Kongress super. In Spitzenzeiten hatten wir mehr als 300 Teilnehmer:innen. Zum Vergleich: In den letzten Jahren verzeichneten wir im Durchschnitt 250–300 Besucher:innen. Selbst am zweiten Tag mit einem zehnstündigen Programm blieben die Teilnehmer:innen am Ball. Besonders schön: Die Chatfunktion wurde durchweg genutzt, sodass der Austausch untereinander hervorragend funktioniert hat. Im Nachhinein können alle Ticketinhaber:innen noch drei Monate lang die Vorträge und Workshops anschauen. Insofern bietet der digitale Kongress sogar ein paar Vorteile, die bei einer Präsenzveranstaltung nicht gegeben wären. Das digitale Format wird nicht mehr wegzudenken oder wegzudiskutieren sein. Allerdings brauchen wir im nächsten Jahr nach zwei Jahren Pandemie dringend wieder den persönlichen Austausch mit dem „Faktor Zufall“.
OT: Wie stellen Sie sich den Lymphkongress 2022 vor?
Classen: Ich hoffe auf eine Hybridlösung, einen Kongress, zu dem wir uns endlich alle wieder persönlich treffen können, aber auch die Vorteile des Digitalen ausschöpfen.
Mehr als ein geschwollenes Knie
OT: Zu Kongressbeginn stellten Oliver Gültig und Thomas Künzel ein Fallbeispiel zur komplexen Physiotherapie beim Zustand nach Knie-Totalendoprothese vor. Was können Versorger:innen daraus lernen?
Classen: Viele meiner ärztlichen Kolleg:innen würden wahrscheinlich nur ein geschwollenes Knie nach einer Operation wahrnehmen und das als ganz normal bezeichnen, ohne auf die Idee einer Lymph- oder Kompressionstherapie zu kommen. Die beiden Referenten haben eindrücklich gezeigt, dass gerade die Kombination aus Lymph- und Kompressionstherapie den Patient:innen den Qualitätssprung zu einem viel schneller funktionierenden Gelenk bringt. Und das ist kein Einzelfall. Die Wirkweise von Lymphdrainage, Kompressionstherapie sowie intermittierender pneumatischer Kompression (IPK) ist längt wissenschaftlich belegt. Wir müssen daher dringend schon in der Ausbildung aller an der Versorgung von Lymphödemen beteiligten Berufsgruppen mehr Wert auf Informationen zu Ursachen und Therapien dieser Gefäßfehlbildungen legen. Jahrhundertelang haben wir in der Medizin das Gefäßsystem vernachlässigt. Es ist an der Zeit, es stärker wahrzunehmen. Die veränderte Wahrnehmung wird irgendwann auch zu einem Umdenken bei der Behandlung von Lymphödemen führen.
OT: Viele Referent:innen beklagten zudem das Informationsdefizit von Patient:innen zum Krankheitsbild Lymphödem. Wie kann hier Abhilfe geschaffen werden?
Classen: Auch hier muss ein Wissenstransfer stattfinden. Ich wünsche mir, dass sich die Hausärzt:innen stärker mit dem Thema beschäftigen. Sie müssen ja keine Lympholog:innen werden, sollten aber die verschiedenen Ursachen und Therapien kennen und damit die Informationen natürlich auch an ihre Patient:innen weitergeben können bzw. diese an Spezialist:innen überweisen. Weiterer Vorteil wäre: Je mehr Überweisungen an Spezialist:innen erfolgen, desto attraktiver wird es für Ärzt:innen, die Facharztrichtung Lymphologie einzuschlagen und damit die Versorgung in Deutschland zu verbessern. Je mehr informierte Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen, Sanitätshausmitarbeiter:innen vorhanden sind, desto eher gelangen die jeweils neuesten Erkenntnisse und Forschungsergebnisse zu den betroffenen Menschen.
Beschwerdearmes Leben möglich
OT: Was empfehlen Sie Betroffenen, wenn Sie ihnen die Diagnose Lymphödem vermitteln?
Classen: Das ist je nach Ursache und Vorerkrankungen sehr unterschiedlich. Alle Patient:innen sind einzigartig. Grundsätzlich versuche ich, allen zu vermitteln, dass sie ein beschwerdearmes Leben vor sich haben, wenn sie sich an die Regeln halten, die jeweiligen Therapieansätze verfolgen.
OT: Die pädiatrische Lymphologie war ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses. Nimmt die Anzahl der Kinder mit Gefäßfehlbildungen zu?
Classen: Nein. Zum Glück nicht! Kinder stellen nur eine kleine Gruppe innerhalb unserer Patient:innen dar. Aber die Versorgung von Kindern mit angeborenen oder onkologisch bedingten Lymphödemen ist uns allen eine Herzensangelegenheit. Gerade bei Kindern bleiben nicht selten Gefäßfehlbildungen unerkannt, wodurch dauerhaft viel Leid entsteht.
OT: Neben Lymph- und Kompressionstherapie wurden verschiedene medikamentöse und chirurgische Therapieansätze vorgestellt. Was halten Sie davon?
Classen: Grundsätzlich hat jeder Ansatz seine Berechtigung. Das hängt ganz von der Indikation ab. Beim Lymphödem liegen oft entzündliche Prozesse dahinter. Einen positiven Effekt auf die Eindämmung von Entzündungen können Medikamente, Ernährungsumstellungen, aber auch chirurgische Eingriffe haben. Die frühzeitige Lymphtherapie in allen Facetten hat hier sicherlich den Ausschlag gegeben, dass bei Patient:innen die Mobilisation sehr schnell vorangekommen ist.
Entzündungen im Fokus
OT: Auf welchen Gebieten wünschen Sie sich mehr Forschung zum Lymphödem?
Classen: Ganz klar auf dem Gebiet der Antiinflammation. Wie gesagt, Entzündungen spielen eine große Rolle und werden bisher im Zusammenhang mit Lymphödemen in Praxis und Forschung zu wenig wahrgenommen.
OT: Nach einer Verzögerung im Herbst 2020 sind die neuen Heilmittelrichtlinien am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Welche Erfahrungen haben Sie bisher damit gemacht?
Classen: Die Regeln müssen sich erst in der Praxis bewähren. Unser Alltag in der Klinik ist aber noch immer stark von der Covid-19-Pandemie bestimmt, sodass ich derzeit nichts zu den Auswirkungen der neuen Heilmittelrichtlinien sagen kann.
OT: Welche Rolle spielt der Sanitätsfachhandel bei der Versorgung von Lymphödemen?
Classen: Der Sanitätsfachhandel mit seinen Mitarbeiter:innen spielt eine enorm große Rolle bei der Versorgung der Patient:innen mit Wissen und Hilfsmitteln. Allerdings gibt es auch hier von Haus zu Haus, von Mitarbeiter:in zu Mitarbeiter:in Unterschiede, was Motivation, Empathie und Engagement angeht. Je besser die Mitarbeiter:innen informiert sind, desto umfassender können sie ihre Kund:innen beraten und versorgen.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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