Gelenk­ent­las­tung und Beweg­lich­keit durch Hebel­an­trieb im Ver­gleich zum kon­ven­tio­nel­len Greifreifen-Rollstuhl

J. Eschweiler, M. Tingart
Der Rollstuhl ist ein akzeptiertes Hilfsmittel in unserer Gesellschaft; deutschlandweit nutzen mehr als 1,5 Millionen Menschen ein solches Hilfsmittel. Allerdings kommt es gerade bei manuell angetriebenen Rollstühlen bei den Benutzern häufig zu Problemen in den Gelenken der oberen Extremität.

Im Rah­men der hier vor­ge­stell­ten Stu­die wur­den mit Hil­fe einer bio­me­cha­ni­schen Model­lie­rung die vor­herr­schen­den Gelenk­kräf­te im Schul­ter­ge­lenk sowie die mus­ku­lä­re Belas­tung und Beweg­lich­keit im Bereich des Rump­fes bei der Nut­zung eines her­kömm­li­chen Greif­rei­fen-Roll­stuhls im Ver­gleich mit einem neu­ar­ti­gen Hebel­an­trieb-Roll­stuhl ana­ly­siert. Es kann gezeigt wer­den, dass die mus­ku­lä­re Belas­tung bei Ver­wen­dung des Hebel­an­trie­bes im Ver­gleich zum Greif­rei­fen­an­trieb gerin­ger aus­fällt. Zudem ist die Mobi­li­tät im Rumpf­be­reich beim Hebel­an­trieb größer.

Ein­lei­tung

Der Roll­stuhl ist ein tech­ni­sches Hilfs- bzw. Reha­bi­li­ta­ti­ons­mit­tel, das einen Aus­gleich der Aus­wir­kun­gen eines phy­si­schen Funk­ti­ons­aus­falls gewähr­leis­tet. Im All­tag mobi­li­täts­ein­ge­schränk­ter Men­schen ist der Roll­stuhl ein unent­behr­li­ches Hilfs­mit­tel zur Fort­be­we­gung. Durch den Roll­stuhl wird ihr Bewe­gungs­ra­di­us erhöht, und er ver­hilft ihnen zu mehr Selbst­stän­dig­keit 1. In Deutsch­land nut­zen mehr als 1,5 Mil­lio­nen Men­schen einen Roll­stuhl – dau­er­haft oder zeit­wei­se 2. Die­se Betrof­fe­nen­grup­pe besteht zu etwa glei­chen Tei­len aus Senio­ren und Men­schen mit kör­per­li­chen Behin­de­run­gen 2.

Man unter­schei­det bei Roll­stüh­len neben dem Ver­wen­dungs­zweck, der Bau­art sowie beson­de­ren Merk­ma­len unter ande­rem die Form des Antrie­bes: Die kon­struk­ti­ve Aus­füh­rung und Bau­art (Hebel‑, Handkurbel‑, Greifreifen‑, Elek­tro­roll­stuhl usw.) des Roll­stuhls rich­tet sich nach der Form des Antrie­bes (eigen­kraft- oder fremd­kraft­ba­siert) und der Art der Len­kung (direkt oder indi­rekt) 3. Beson­ders bei manu­ell ange­trie­be­nen Roll­stüh­len kommt es aller­dings bei den Benut­zern häu­fig zu Pro­ble­men in den Gelen­ken der obe­ren Extre­mi­tät 4 5 5 6 7 8 9. Zudem ist eine gewis­se Rumpf­be­weg­lich­keit wich­tig, da die­se die obe­re Extre­mi­tät bei der Bewe­gung unter­stützt 10.

Um exak­te­re Aus­sa­gen über mecha­ni­sche Belas­tun­gen und detail­lier­te Ver­let­zungs­me­cha­nis­men in ein­zel­nen Kör­per­struk­tu­ren – spe­zi­ell für Gelen­ke – bei dyna­mi­schen Abläu­fen zu gewin­nen, sind Ver­fah­ren wie bei­spiels­wei­se eine Video­ana­ly­se oder (inva­si­ve) Mess­me­tho­den jedoch nur begrenzt bzw. gar nicht geeig­net 11. Direk­te (phy­si­ka­li­sche) Mess­ver­fah­ren in Bezug auf die Bestim­mung der vor­herr­schen­den Gelenk­kräf­te, ohne die Gelenk­struk­tur inva­siv zu mani­pu­lie­ren, exis­tie­ren zum jet­zi­gen Zeit­punkt nicht. Pati­en­ten­spe­zi­fi­sche Infor­ma­tio­nen über die in vivo wir­ken­den Kräf­te ste­hen in der kli­ni­schen Rou­ti­ne bis heu­te nicht zur Ver­fü­gung 12.

Hier setzt die bio­me­cha­ni­sche Model­lie­rung bzw. Modell­bil­dung an: Die bio­me­cha­ni­sche Model­lie­rung ermög­licht es, u. a. resul­tie­ren­de Gelenk­be­las­tun­gen oder ‑bewe­gun­gen a prio­ri zu ana­ly­sie­ren, die mit klas­si­schen Mess­me­tho­den nicht am Pati­en­ten erfasst wer­den kön­nen 10 12. Die bio­me­cha­ni­sche Model­lie­rung und die dar­aus resul­tie­ren­den Mög­lich­kei­ten der Simu­la­ti­on und deren Varia­ti­on mit­tels des Modells kön­nen ein effek­ti­ves Werk­zeug sein, um bei­spiels­wei­se Sen­si­ti­vi­täts­ana­ly­sen durch­zu­füh­ren und somit Opti­mie­rungs­po­ten­zia­le aufzudecken.

Der Fokus der hier vor­ge­stell­ten Stu­die besteht in der Unter­su­chung bio­me­cha­ni­scher Zusam­men­hän­ge bzw. des Inter­ak­ti­ons­ver­hal­tens mus­ku­los­ke­letta­ler Kom­po­nen­ten wie Gelen­ke, Weich­teil­struk­tu­ren oder eine Kom­bi­na­tio­nen aus bei­den. Man unter­schei­det bei der bio­me­cha­ni­schen Model­lie­rung zwei Ansät­ze: zum einen die Fini­te-Ele­men­te-Metho­de (FEM), die sich aller­dings ange­sichts des hohen Rechen­auf­wan­des eher für Unter­su­chun­gen von Details – bei­spiels­wei­se die Bestim­mung von Ver­for­mun­gen oder von Last­ver­tei­lun­gen im Gelenk („mikro­sko­pi­scher Blick“) – eig­net. Zum ande­ren gibt es die soge­nann­te Mehr­kör­per­si­mu­la­ti­on (MKS), bei der es sich um eine Starr­kör­per­mo­del­lie­rung han­delt. Dabei wer­den die ein­zel­nen Kör­per­seg­men­te als Starr­kör­per appro­xi­miert. Dadurch ent­steht anhand spe­zi­fi­scher Seg­ment­ei­gen­schaf­ten (z. B. Seg­ment­län­ge oder Seg­ment­mas­se) in Ver­bin­dung mit Infor­ma­tio­nen dar­über, wie die ein­zel­nen Seg­men­te mit­ein­an­der ver­bun­den sind (z. B. Gelenk­typ oder Gelenk­po­si­ti­on), ein voll­stän­di­ges Gelenk­mo­dell bzw. eine kom­plet­te kine­ma­ti­sche Ket­te („makro­sko­pi­scher Blick“), die anschlie­ßend zur Simu­la­ti­on her­an­ge­zo­gen wer­den kann.

In der bio­me­cha­ni­schen Model­lie­rung hat sich – bedingt durch die leich­te­re Infor­ma­ti­ons­ak­qui­se (in den meis­ten Fäl­len Bewe­gungs­da­ten) und den gerin­ge­ren Rechen­auf­wand – der Ansatz der Mehr­kör­per­si­mu­la­ti­on durch­ge­setzt, um Fra­ge­stel­lun­gen im Bereich der Belas­tungs­ana­ly­se beant­wor­ten zu kön­nen. Der Ansatz der Ver­wen­dung eines Mehr­kör­per-Simu­la­ti­ons­mo­dells wur­de bereits im Zusam­men­hang mit roll­stuhl­spe­zi­fi­schen Fra­ge­stel­lun­gen ein­ge­setzt und kann als eta­blier­ter Ansatz zur Abschät­zung der vor­han­de­nen Belas­tun­gen im Kon­text der Benut­zung eines Roll­stuhls ange­se­hen wer­den 10 13.

Im Rah­men der hier vor­ge­stell­ten Stu­die wur­den vor­herr­schen­de Belas­tun­gen im Schul­ter­ge­lenk sowie die mus­ku­lä­re Belas­tung im Bereich des Rump­fes bei der Benut­zung eines her­kömm­li­chen Greif­rei­fen-Roll­stuhls im Ver­gleich mit einem neu­ar­ti­gen Hand­he­bel-Roll­stuhl eva­lu­iert. Der Hand­he­bel-Roll­stuhl ver­füg­te zusätz­lich über eine mobi­le (dyna­mi­sche) Sitz­flä­che, die in Abhän­gig­keit von der jewei­li­gen Antriebs­griffstel­lung bewegt wur­de. Um eine mög­lichst unein­ge­schränk­te Ver­gleich­bar­keit zu gewähr­leis­ten, wur­de für bei­de Ver­su­che das Modell „Radi­us“ der Fir­ma Des­i­no GmbH aus Köln ver­wen­det. Im Fal­le des Greif­rei­fen-Roll­stuhls wur­de die Hebel­tech­nik abge­baut und die dyna­mi­sche Sitz­flä­che ent­kop­pelt, sodass es sich letzt­lich um einen Stan­dard-Roll­stuhl han­del­te. Das hat­te den Vor­teil, dass die Geo­me­trie des Roll­stuhls kei­nen Ein­fluss auf die Pro­ban­den bzw. die Ver­suchs­durch­füh­rung hatte.

Mate­ri­al und Methode

Grund­la­ge für die Unter­su­chung war eine Bewe­gungs­ana­ly­se mit ins­ge­samt 9 Pro­ban­den. Bei den Pro­ban­den han­del­te es sich um gesun­de Frei­wil­li­ge, die den jewei­li­gen Bewe­gungs­test absol­vier­ten. Anhand der Benut­zung eines her­kömm­li­chen Greif­rei­fen-Roll­stuhls sowie eines neu­ar­ti­gen Modells, das mit einem Hebel­an­trieb und einer mobi­len Sitz­flä­che aus­ge­stat­tet war, wur­den die für die bio­me­cha­ni­sche Model­lie­rung benö­tig­ten Bewe­gungs­in­for­ma­tio­nen akqui­riert. Die mobi­le Sitz­flä­che erlaub­te eine Bewe­gung um eine zen­tra­le, in der Mit­te der Sitz­flä­che gele­ge­ne Längs­ach­se; zusätz­lich ist eine Ver­kip­pung der Rücken­leh­ne um eine von vor­ne nach hin­ten gerich­te­te Ach­se mög­lich. Der Hebel­an­trieb über­trägt einen natür­li­chen Bewe­gungs­ab­lauf auf die dyna­mi­sche Sitz­flä­che, wodurch Wir­bel­säu­le, Mus­ku­la­tur und das lympha­ti­sche Sys­tem mobi­li­siert wer­den (Abb. 1).

Die Bewe­gungs­da­ten wur­den mit­tels eines Vicon-Nexus-Sys­tems an der Sport­hoch­schu­le Köln auf­ge­nom­men; die anthro­po­me­tri­schen Daten der jewei­li­gen Test­kan­di­da­ten sind Tabel­le 1 zu ent­neh­men. Bei dem Tracking­sys­tem han­delt es sich um ein opti­sches Sys­tem, das mit­tels Ver­fol­gung von auf­ge­kleb­ten reflek­tie­ren­den Mar­kern die Bewe­gungs­t­ra­jek­to­rie des jewei­li­gen Seg­ments auf­nimmt. Es wur­de dar­auf geach­tet, dass Mar­ker und Kame­ra immer eine direk­te „line of sight“ auf­wie­sen und es zu kei­ner Mar­ker­ab­schat­tung kam.

Die­se Bewe­gungs­da­ten stan­den anschlie­ßend für die bio­me­cha­ni­sche Model­lie­rung zur Ver­fü­gung. Für die wei­te­re Aus­wer­tung wur­den aus zeit­li­chen Grün­den ledig­lich die Bewe­gungs­da­ten der Pro­ban­den JB, LR und MK her­an­ge­zo­gen. Die anhand der Bewe­gungs­ana­ly­se zur Ver­fü­gung ste­hen­den Daten (als C3D-Datei­en) der ein­zel­nen Mar­ker wur­den in Bezug auf Mar­ker­be­nen­nung und ‑posi­ti­on ver­ein­heit­licht. Die resul­tie­ren­den Bewe­gungs­in­for­ma­tio­nen wur­den in einem zwei­ten Schritt wie­der­um in die Mehr­kör­per-Simu­la­ti­ons­um­ge­bung „Any­Bo­dy“ (Ver­si­on 6.0, Any­Bo­dy Tech­no­lo­gy A/S, Aal­borg, Däne­mark) über­führt (Abb. 2). Damit wur­de ein Modell kon­zi­piert, das mit Hil­fe der akqui­rier­ten Mar­ker-Daten aus der Bewe­gungs­ana­ly­se ange­trie­ben wer­den kann. Das Modell besteht aus der obe­ren Kör­per­hälf­te inklu­si­ve der Becken­re­gi­on (Abb. 3). Die unte­re Extre­mi­tät (rech­tes und lin­kes Bein) wur­de zwecks zeit­ef­fi­zi­en­te­rer Simu­la­ti­on aus­ge­blen­det. Bei dem Modell han­del­te es sich um ein bereits vor­han­de­nes und eta­blier­tes Modell aus der Daten­bank der Any­Bo­dy-Soft­ware 10.

Mit­tels einer Ver­hält­nis­rech­nung (Abb. 4; Tab. 2), basie­rend auf Kör­per­grö­ße und ‑gewicht der in die Simu­la­ti­on ein­ge­schlos­se­nen Pro­ban­den, wur­den die ent­spre­chen­den Seg­ment­län­gen und ‑mas­sen des jewei­li­gen Modells pro­ban­den­spe­zi­fisch ange­passt. Die Schul­ter­par­tie stellt eine beson­de­re Pro­blem­zo­ne für Roll­stuhl­fah­rer dar 4 5 5 6 7 8 9. Daher wur­de im Rah­men der Simu­la­ti­on ein Augen­merk auf die auf­tre­ten­den Belas­tun­gen in die­sem Gelenk gelegt.

Ergeb­nis­se

In den Tabel­len 3 bis 6 sind die erziel­ten Simu­la­ti­ons­er­geb­nis­se zusam­men­ge­fasst. Die Bezeich­nung der ein­zel­nen Kräf­te spie­gelt die Kraft­rich­tung anhand ana­to­mi­scher Bezeich­nun­gen wider. Ange­sichts der viel­fäl­ti­gen Aus­wer­tungs- und Aus­ga­be­mög­lich­kei­ten der Simu­la­ti­ons­soft­ware wird der Fokus im wei­te­ren Ver­lauf exem­pla­risch auf die wich­tigs­ten Aspek­te im Kon­text der Belas­tungs­ana­ly­se beim Gebrauch eines Roll­stuhls gelegt.

Dis­kus­si­on

Ein Roll­stuhl ist für die Pati­en­ten bzw. die Betrof­fe­nen in vie­len Fäl­len nicht nur ein rei­nes Hilfs­mit­tel, son­dern ein stän­di­ger Beglei­ter und somit neben der rei­nen Fort­be­we­gung gleich­zei­tig mehr oder weni­ger ein Trai­nings- bzw. Sport­ge­rät. Im Rah­men der hier vor­ge­stell­ten Stu­die wur­de mit­tels bio­me­cha­ni­scher Model­lie­rung bzw. mit­tels Mehr­kör­per­si­mu­la­ti­on die Belas­tungs­si­tua­ti­on bei zwei Roll­stuhl­mo­del­len analysiert.

Im Rah­men der Belas­tungs­ana­ly­se ergab sich für das Glen­oh­u­me­ral­ge­lenk, dass bei den unter­such­ten Pro­ban­den „dis­trac­tion force“ (medial/lateral gerich­te­te Kraft) und „ante­ro­pos­te­ri­or force“ im Glen­oh­u­me­ral­ge­lenk beim Hand­he­bel deut­lich gerin­ger waren als beim Greif­rei­fen. Die „infe­ri­or-supe­ri­or force“ war mit Hand­he­bel nur leicht erhöht bzw. gleich (Tab. 3). Dies weist auf eine mög­li­che Ent­las­tung des Schul­ter­ge­lenks durch Benut­zen des Hebel­an­triebs statt des Greif­rei­fens hin. In Bezug auf das Radio­kar­pal­ge­lenk wur­de fest­ge­stellt, dass die Radi­al­kraft bei Ver­wen­dung des Hand­he­bel­an­triebs ten­den­zi­ell höhe­re Wer­te im Ver­gleich zum Greif­rei­fen­an­trieb zeig­te. Für die übri­gen Kräf­te sowie das axia­le Moment kön­nen anhand der vor­lie­gen­den Simu­la­ti­ons­er­geb­nis­se kei­ne ein­deu­ti­gen Ten­den­zen beschrie­ben wer­den, da die Belas­tungs­un­ter­schie­de zwi­schen Hand­he­bel- und Greif­rei­fen­an­trieb bei den drei Pro­ban­den unter­schied­lich aus­ge­prägt waren (Tab. 4). Die Aus­rich­tung des Hand­ge­lenks bzw. sei­ne Schief­stel­lung gegen­über dem Unter­arm war bei Hand­he­bel- und Greif­rei­fen­an­trieb im Rah­men die­ser Simu­la­ti­on ähn­lich. Somit lässt sich der Schluss zie­hen, dass die Belas­tung des Radio­kar­pal­ge­len­kes bei bei­den Antriebs­ar­ten iden­tisch ausfällt.

Bei den gro­ßen Mus­kel­grup­pen wur­de ermit­telt, dass die maxi­ma­le Kraft eines Mus­kel­an­teils des Mus­cu­lus tra­pe­zi­us sca­pu­la­ris bei allen drei Pro­ban­den mit Greif­rei­fen höher war als mit Hand­he­bel. Dies spricht für eine höhe­re Belas­tung bei Ver­wen­dung eines Greif­rei­fen-Roll­stuhls. Für die Mus­cu­li latis­si­mi dor­si war die maxi­ma­le antei­li­ge Kraft bei allen drei Pro­ban­den mit Hand­he­bel grö­ßer als mit Greif­rei­fen. Bei­de Berei­che – „tho­ra­cic“ (Pars ster­no­cos­ta­lis) und „cla­vicu­lar“ (Pars cla­vicu­la­ris) – des Mus­cu­lus pec­to­ra­lis major wur­den mit Greif­rei­fen­an­trieb nicht belas­tet; bei Ver­wen­dung des Hand­he­bel­an­triebs zei­gen die Simu­la­ti­ons­er­geb­nis­se teil­wei­se eine Mus­kel­kraft von weni­gen New­ton (Tab. 5).

Exem­pla­risch wur­den zwei Antei­le im Len­den­be­reich der auto­chtho­nen Rücken­mus­ku­la­tur (Mus­cu­lus erec­tor spinae) betrach­tet. Der T5L5-Anteil des M. erec­tor spinae war im Rah­men der durch­ge­führ­ten Simu­la­tio­nen nicht aktiv. Die maxi­ma­le Mus­kel­kraft des T4L4-Anteils befand sich für alle Pro­ban­den und bei bei­den Antriebs­ar­ten in der­sel­ben Grö­ßen­ord­nung; somit zeig­te sich aus der Per­spek­ti­ve der Belas­tung kein Unter­schied. Es ist aller­dings zu beach­ten, dass sich die­se Ergeb­nis­se nur auf die simu­lier­ten Mus­kel­an­tei­le bezie­hen; die Gesamt­kräf­te der ein­zel­nen Mus­keln wur­den nicht berechnet.

Um die Bewe­gung der Len­den­wir­bel­säu­le zu unter­su­chen, wur­de exem­pla­risch die Trans­la­ti­on des L4/L5-Gelenks im Raum betrach­tet (Tab. 6). Im Fal­le des Hebel­an­trie­bes in Kom­bi­na­ti­on mit einer mobi­len Sitz­flä­che ergibt sich gleich­zei­tig neben dem Antrieb auch eine zusätz­li­che Rumpf­mo­bi­li­tät. In der Simu­la­ti­on zeig­te die­ser Gelenk­punkt bei Ver­wen­dung des Hebel­an­triebs einen viel­fa­chen Bewe­gungs­um­fang in der Trans­ver­sal­ebe­ne im Ver­gleich zum kon­ven­tio­nel­len Greif­rei­fen. Das deu­tet dar­auf hin, dass die beweg­li­che Sitz­kon­struk­ti­on des Roll­stuhls eine erhöh­te Beweg­lich­keit der Len­den­wir­bel­säu­le und des Beckens ermög­licht. Das heißt, die Bewe­gung des Rump­fes wird im Ver­gleich zum hand­ge­trie­be­nen Roll­stuhl erhöht und somit gleich­zei­tig die dor­ti­ge Mus­ku­la­tur aktiviert.

Limi­ta­tio­nen

Grund­sätz­lich bringt die Modell­bil­dung bzw. die sich anschlie­ßen­de Simu­la­ti­on Limi­tie­run­gen mit sich. Dazu gehö­ren Ver­ein­fa­chun­gen, die auf­grund der feh­len­den Mög­lich­keit, In-vivo-Kräf­te zu mes­sen, getrof­fen wer­den müs­sen. Die­se ent­spre­chen je nach Sys­tem mehr oder weni­ger den all­ge­mein aner­kann­ten zuläs­si­gen Annah­men und Ver­ein­fa­chun­gen bei der Model­lie­rung mus­ku­los­ke­letta­ler Sys­te­me. Dazu gehören:

  • die Appro­xi­ma­ti­on mensch­li­cher Gelen­ke durch ein­fa­che tech­ni­sche Gelen­ke (bspw. Schul­ter­ge­lenk als Kugel­ge­lenk, Hand­ge­lenk als Kardangelenk);
  • die Appro­xi­ma­ti­on flä­chig anset­zen­der Mus­keln und Bän­der am Kno­chen durch ein­zel­ne punkt­för­mig anset­zen­de Strukturen;
  • die Appro­xi­ma­ti­on der Mus­kel- und Band­zug­rich­tung und deren (Hebelarm-)Wirkung durch Ein­fü­gen ein­fa­cher geo­me­tri­scher For­men oder rei­bungs­frei­er Umlenk­punk­te, mit deren Hil­fe die Mus­kel- und Bandum­wick­lung um angren­zen­de Struk­tu­ren her­um oder auch der Mus­kel- und Band­ver­lauf selbst an die Rea­li­tät ange­nä­hert wird;
  • die Beschrei­bung der funk­tio­nel­len Mus­kel- und Band­ei­gen­schaf­ten durch ver­ein­fach­te technische/mathematische (Material-)Modelle.

Die­se Ver­ein­fa­chun­gen kön­nen sich in den Simu­la­ti­ons­er­geb­nis­sen wider­spie­geln und ver­ant­wort­lich für Abwei­chun­gen zwi­schen expe­ri­men­tell ermit­tel­ten Ergeb­nis­sen und Simu­la­ti­ons­er­geb­nis­sen sein. Mit­tels Mehr­kör­per-Simu­la­ti­ons­um­ge­bung kön­nen kei­ne Kräf­te „gemes­sen“ werden.

Die Greif­kraft hät­te im Rah­men der Bewe­gungs­un­ter­su­chun­gen idea­ler­wei­se direkt mit detek­tiert wer­den kön­nen, da hier ein phy­si­ka­li­sches Mess­ver­fah­ren mög­lich gewe­sen wäre. Zudem lag die Betrach­tung des Ellen­bo­gen­ge­len­kes nicht im Fokus die­ser Studie.

Die ermit­tel­ten Simu­la­ti­ons­er­geb­nis­se beinhal­ten kei­ne Infor­ma­tio­nen aus extern auf­ge­brach­ten Kräf­ten (Inter­ak­ti­on zwi­schen Modell und Roll­stuhl), sodass die jewei­li­gen Kraft­ver­läu­fe aus den Mas­sen­träg­hei­ten der jeweils beweg­ten Kör­per­seg­men­te bestehen

Bei der Inter­pre­ta­ti­on der Ergeb­nis­se muss zudem die gerin­ge Pro­ban­den­zahl berück­sich­tigt wer­den (n = 3).

Eine umfas­sen­de Ana­ly­se der mobi­len bzw. dyna­mi­schen Sitz­flä­che in Bezug auf die Ver­bes­se­rung der Mobi­li­sa­ti­on von Wir­bel­säu­le und Mus­ku­la­tur wur­de nicht vor­ge­nom­men, da hier­zu zusätz­li­che Mes­sun­gen – bei­spiels­wei­se ein dif­fe­ren­zier­te­res Track­ing der ein­zel­nen Wir­bel­säu­len­ab­schnit­te bzw. eine Elek­tro­m­yo­gra­phie zur Mus­kel­ak­ti­vi­tät – hät­ten durch­ge­führt wer­den müs­sen. Dies lag nicht im Fokus die­ser Untersuchung.

Schluss­fol­ge­rung

Im Rah­men der Stu­die konn­te gezeigt wer­den, dass es Unter­schie­de bezüg­lich der Belas­tung und der Bewe­gungs­aus­ma­ße bei der Ver­wen­dung unter­schied­li­cher Roll­stuhl­kon­zep­te gibt. Um mög­lichst weni­ge Pro­ble­me durch eine Atro­phie von Mus­kel­mas­se zu bekom­men, ist eine Akti­vie­rung bzw. ein Trai­ning der betrof­fe­nen Mus­kel­par­tien wich­tig. Durch den „akti­ve­ren“ Antrieb und die mobi­le Sitz­flä­che bei dem neu­ar­ti­gen Hand­he­bel-Roll­stuhl konn­te anhand der Simu­la­ti­ons­er­geb­nis­se gezeigt wer­den, dass hier­bei in Bezug auf das Bewe­gungs­aus­maß ein Vor­teil besteht. Wel­chen Roll­stuhl man aber schließ­lich idea­ler­wei­se ein­setzt bzw. für wel­chen Roll­stuhl­typ man sich ent­schei­det, ist immer indi­vi­du­ell auf die zu ver­sor­gen­de Per­son und deren Krank­heits­bild abzustimmen.

Dank­sa­gung

Die­se Arbeit wur­de am Lehr­stuhl für Medi­zin­tech­nik der RWTH Aachen Uni­ver­si­ty durch­ge­führt. Die Bewe­gungs­ana­ly­sen fan­den an der Sport­hoch­schu­le Köln statt.

Für die Autoren:
Dr. ‑Ing. Jörg Eschweiler
Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum der RWTH
Aachen, Kli­nik für Orthopädie
AG Kli­nisch-expe­ri­men­tel­le ortho­pä­di­sche Biomechanik
Pau­wels­str. 30
52074 Aac
joeschweiler@ukaachen.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Esch­wei­ler J., Tin­gart M. Gelenk­ent­las­tung und Beweg­lich­keit durch Hebel­an­trieb im Ver­gleich zum kon­ven­tio­nel­len Greif­rei­fen-Roll­stuhl. Ortho­pä­die-Tech­nik. Ortho­pä­die Tech­nik. 2019; 70 (9): 20–25
Pro­bandKör­per­ge­wicht [kg]Kör­per­grö­ße [m]
JB791,82
LR671,65
MK761,78
P3751,54
P4781,76
P5901,92
P6981,82
P7n/an/a
P8701,67
Tab. 1 Anthro­po­me­tri­sche Daten der Probanden.

 

Seg­mentDefi­ni­ti­onSeg­ment
Gewicht/gesamt
Körpergewicht
HandHandgelenksachse/2. Fin­ger­ge­lenk Mittelfinger
0.006 M
Unter­arm
Ellbogenachse/Processus sty­lo­id­e­us ulnae
0.016 M
Ober­arm
Glen­oh­u­me­ra­le Achse/Ellbogenachse
0.028 M
Unter­arm und Hand
Ellbogenachse/Processus sty­lo­id­e­us ulnae0.022 M
Gesam­ter Arm
Glenohumeralgelenk/Processus sty­lo­id­e­us ulnae
0.050 M
Tab. 2 Anthro­po­me­tri­sche Daten bzw. Teil­kör­per­ge­wich­te (aus [efn_note]Winter DA. Bio­me­cha­nics and motor con­trol of human move­ment. 4. Aufl. Hobo­ken, NJ: Wiley, 2009[/efn_note]) (M = Körpergewicht).

 

MKJBLR
Hand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fen
Dis­trak­ti­ons­kraft [N]
275/240
355/400
170/210
470/700
260/270
400/710
Infe­ri­or-supe­rio­re Kraft [N]140/120
105/115
105/55
100/65
170/80
88/220
Ante­rior-pos­te­rio­re Kraft [N]82/65
150/150
45/65100/18090/85
130/240
Tab. 3 Kräf­te am Glen­oh­u­me­ral­ge­lenk (lin­ke Seite/rechte Seite).

 

MKJBLR
Hand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fen
Radi­al­kraft [N]40/3727/208.0/12.55/721.0/9.25.1/12
Proximo­dis­tale Kraft [N]85/15560/12520/2538/10060/2010.5/32
Dor­so­vo­la­re Kraft [N]12.5/55.018.5/60.013/2011/3620/97/12
Axia­les Moment [Nm]0.7/0.31.5/2.00.07/0.160.055/0.1700.225/0.1000.055/0.01
Tab. 4 Maxi­ma­le Kräf­te und maxi­ma­les axia­les Moment am Radio­kar­pal­ge­lenk (lin­ke Seite/rechte Seite).

 

MKJBLR
Hand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fen
M. tra­pe­zi­us, sca­pu­lar part [N]12/1115.5/12.08.3/12.022/8.510/920/12
M. tra­pe­zi­us, cla­vicu­lar part [N]11.7/11.510.0/10.813.1/12.813/1010.8/10.313.5/11.5
M. latis­si­mus dor­si [N]16/15.510.1/6.530.0/16.516/615.5/6.115.3/1.7
M. pec­to­ra­lis major, tho­ra­cic part [N]0/00/00.0/2.70/01.7/0.00/0
M. pec­to­ra­lis major, cla­vicu­lar part [N]2.2/3.10/00.0/2.90/01.9/0.00/0
Tab. 5 Maxi­mal auf­tre­ten­de Kräf­te in den Antei­len der gro­ßen Mus­kel­grup­pen (lin­ke Seite/rechte Sei­te). Es ist nur die Maxi­mal­kraft des­je­ni­gen Anteils auf­ge­führt, der die größ­te Ein­zel­kraft gezeigt hat.

 

MKJBLR
Hand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fenHand­he­belGreif­rei­fen
x‑Translation [mm]237385304
y‑Translation [mm]265354316
z‑Translation [mm]1691261114
Tab. 6 Trans­la­to­ri­scher Bewe­gungs­um­fang des L4/L5-Gelenks der Lendenwirbelsäule.
  1. Kloos­ter­man MG, Snoek GJ, van der Wou­de LH, et al. A sys­te­ma­tic review on the pros and cons of using a pushrim-acti­va­ted power-assis­ted wheel­chair. Cli­ni­cal Reha­bi­li­ta­ti­on, 2013; 27: 299–313
  2. Stif­tung MyHan­di­cap gemein­nüt­zi­ge GmbH. Der Roll­stuhl: Mobi­li­tät für Men­schen mit Han­di­cap. http://www.myhandicap.de/rollstuhl.html (Zugriff am 08.07.2019)
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  4. Mer­cer JL, Bonin­ger M, Koontz A, et al. Should­er joint kine­tics and patho­lo­gy in manu­al wheel­chair users. Cli­ni­cal Bio­me­cha­nics, 2006; 21: 781–789
  5. Bonin­ger ML, Coo­per RA, Bald­win MA, et al. Wheel­chair pushrim kine­tics: Body weight and medi­an ner­ve func­tion. Archi­ves of Phy­si­cal Medi­ci­ne and Reha­bi­li­ta­ti­on, 1999; 80: 910–915
  6. Bonin­ger ML, Sou­za AL, Coo­per RA, et al. Pro­pul­si­on pat­terns and pushrim bio­me­cha­nics in manu­al wheel­chair pro­pul­si­on. Archi­ves of Phy­si­cal Medi­ci­ne and Reha­bi­li­ta­ti­on, 2002; 83: 718–723
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  8. Cur­tis KA, Drys­da­le GA, Lan­za RD, et al. Should­er pain in wheel­chair users with tetra­ple­gia and para­ple­gia. Archi­ves of Phy­si­cal Medi­ci­ne and Reha­bi­li­ta­ti­on, 1999; 80: 453–457
  9. Coo­per RA, Bonin­ger ML, Chan L, et al. Manu­al wheel­chair pushrim bio­me­cha­nics and axle posi­ti­on. Archi­ves of Phy­si­cal Medi­ci­ne and Reha­bi­li­ta­ti­on, 2002; 81: 608–613
  10. Dubow­sky SR, Ras­mus­sen J, Sis­to SA, et al. Vali­da­ti­on of a mus­cu­los­ke­le­tal model of wheel­chair pro­pul­si­on and its appli­ca­ti­on to mini­mi­zing should­er joint forces. Jour­nal of Bio­me­cha­nics, 2008; 41: 2981–2988
  11. Leh­ner S. Ent­wick­lung und Vali­die­rung bio­me­cha­ni­scher Com­pu­ter­mo­del­le und deren Ein­satz in der Sport­wis­sen­schaft. Dis­ser­ta­ti­on, Uni­ver­si­tät Koblenz, 2007. https://kola.opus.hbz-nrw.de/opus45-ko-la/frontdoor/deliver/index/docId/202/file/Dissertation_Stefan_Lehner.pdf (Zugriff am 08.07.2019)
  12. Esch­wei­ler J, Miglio­ri­ni F, Sie­bers H et al. Bio­me­cha­ni­sche Model­lie­rung und ihre Bedeu­tung für die Hüf­ten­do­pro­the­tik. Der Ortho­pä­de, 2019; 48: 282–291
  13. Lou­is N. Comm­ents about the artic­le titled: Vali­da­ti­on of a mus­cu­los­ke­le­tal model of wheel­chair pro­pul­si­on and its appli­ca­ti­on to mini­mi­zing should­er joint forces, writ­ten by S. R. Dubow­sky, J. Ras­mus­sen, S. A. Sis­to, N. A. Lang­ra­na (41(2008) 2981–2988). Jour­nal of Bio­me­cha­nics, 2009; 42: 2627
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