Einleitung
Eine in der Adoleszenz diagnostizierte Skoliose wird meist als „idiopathische Skoliose” bezeichnet. Mit dieser Diagnose wird allerdings der falsche Eindruck erweckt, es handle sich um eine eigenständige, unifaktorielle Erkrankung. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um Skoliosen verschiedener Ursachen handelt, die in der Adoleszenz erstmalig diagnostiziert werden (Tab. 1).
Das Wort „Adoleszenz” bezieht sich nur auf den Zeitpunkt der Diagnosestellung. Die Ursache kann somit auch angeboren oder ein fortschreitender Prozess sein. Diese ist für die Progredienzwahrscheinlichkeit und die Erfolgsaussichten einer Korsettbehandlung von zentraler Bedeutung. Der Begriff „Skoliose” stammt aus dem Griechischen; „scolios” bedeutet „krumm”. Als Skoliose wird eine dreidimensionale Wirbelsäulenfehlstellung mit einem Cobb-Winkel von mehr als 10° in der Frontalebene bezeichnet. Das Wort „idiopathisch” („ohne erkennbare Ursache”) bedeutet, dass das Leiden „aus sich heraus” entsteht und dass somit die Ursache(n) nicht bekannt sind (griechisch „idios” = „selbst”; „pathos” = „Leiden”).
Bedeutung der Diagnostik für Behandlungsentscheidung und ‑ergebnis
Physiotherapie bildet die Basis jeder Skoliosebehandlung, daher ist die Skolioseursache für die Indikationsstellung nicht entscheidend. Der Behandlungserfolg ist jedoch stark von der Skolioseursache abhängig. Unerreichbare Zielsetzungen und Versprechungen sind aber der Beginn jeder schlechten Compliance.
Die Korsettbehandlung leidet wohl am stärksten unter einer undifferenzierten Diagnostik. Therapieversagen wird meist dem Korsett und der Compliance der Patienten angelastet 1 2 3 4. In nicht wenigen Fällen bleibt aber die Grunderkrankung als Ursache für das Therapieversagen oder den mäßigen Behandlungserfolg unentdeckt. Es liegt somit ein diagnostisches Problem vor, das die Entwicklung der Skoliose falsch einschätzen lässt und damit ein hohes Frustrationspotenzial ganz besonders bei den Patienten aufbaut. Da das Korsett während der Wachstumsphase zum Einsatz kommt, wird die differenzierte Diagnostik zur entscheidenden Größe für Erfolg oder Misserfolg.
Erreicht die Skoliose die Empfehlungskriterien für eine Operation, so bildet die Stabilisierung den Schlusspunkt für die Krümmungskorrektur. Die diagnostische Differenzierung der Skolioseursache verliert damit aus der Sicht der Operationsindikation an Bedeutung. Operationsverfahren und Korrekturergebnis werden jedoch von der Grunderkrankung beeinflusst.
Aus der hier vorgestellten Studie geht hervor, dass die diagnostischen Anstrengungen besonders für die Korsettbehandlung von eminenter Bedeutung für Erfolg und Misserfolg sind.
Skoliose als Begleiterscheinung von Grunderkrankungen
In einer gezielten Anamnese und bei der Beurteilung der klinischen Untersuchung sowie der Bildgebung sind genetisch bedingte Syndrome, die alle genannten Gewebe betreffen können, in die Überlegungen einzubeziehen (siehe Tab. 1). In der frühen Kindheit durchgeführte Operationen können sich auf die Wirbelsäule auswirken und sind daher zu hinterfragen. Dazu gehören besonders kardiale Erkrankungen, aber auch die Ösophagusatresie mit notwendiger Thorakotomie, die sich später als Skoliose durch die Narbenzüge bemerkbar machen. Auch eine am Körperstamm wegen Tumorerkrankung durchgeführte Bestrahlung kann durch Fibrosierungen zu einer Skoliose führen.
Beinlängendifferenzen unterschiedlichster Ursachen müssen als mögliche Skolioseursache immer ausgeschlossen werden (Störung von Wachstumsfugen, Hemiatrophie, Fibröse Dysplasie etc.). Becken- und Hüftpathologien, z. B. Morbus Perthes oder Epiphyseolysis capitis femoris, können ebenfalls als Skoliose imponieren. Viele weitere Ursachen sind denkbar 5 6.
Material und Methode
In einem ersten Schritt wurde als Datengrundlage die Referenzdatenbank für medizinische Literatur PubMed auf mögliche symptomatische, also „nichtidiopathische” Skoliosen in Verbindung mit der Korsettbehandlung durchsucht. Sodann wurden 250 in der Abteilung der Verfasser behandelte Skoliosepatienten im Alter von 10 bis 15 Jahren gezielt auf mögliche nichtidiopathische Skolioseursachen untersucht. An erster Stelle stand dabei stets eine ausführliche Anamnese. Zur Differenzierung wurden die am Wirbelsäulenaufbau beteiligten Gewebe und Strukturformen klinisch und radiologisch abgeklärt (Knochen, Bindegewebe, Muskulatur, Nerven). Nur bei klinischem Verdacht wurden weitere Untersuchungen eingeleitet. Dazu gehörten MRI-Untersuchungen der Wirbelsäule, eine pädiatrische und/oder neuropädiatrische Untersuchung und gegebenenfalls eine weiterführende humangenetische Untersuchung.
Es ergibt sich daraus für den klinischen Alltag ein erster Algorithmus für die Differenzierung zwischen einer „nichtidiopathischen” und einer „idiopathischen” Skoliose. Die vorliegenden retrospektiven Ergebnisse sind als Vorerhebungen zu bewerten und damit für eine statistische Aufarbeitung nicht repräsentativ.
Ergebnisse
Die Abgrenzung in PubMed zwischen idiopathischer und nichtidiopathischer („symptomatischer”) Skoliose liefert keine schlüssigen Ergebnisse. Zum Stichwort „Skoliose” finden sich aktuell im Oktober 2014 insgesamt 18.373 Einträge. Mit der Frage nach „Korsett” reduziert sich die Zahl auf 1.438. Eine weitere Unterscheidung zwischen „idiopathisch” und „nichtidiopathisch” mit Fokussierung auf das Korsett führt zu einem Ergebnis von 648 zu 180 Einträgen. Die Durchsicht der Veröffentlichungen lässt jedoch rasch erkennen, dass die Stichwortauswahl für eine Differenzierung ungeeignet ist, da viele Beiträge zwischen „idiopathischer” und „nichtidiopathischer”, d. h. symptomatischer Skoliose nicht unterscheiden. Die Verknüpfung von Skoliose mit einzelnen Krankheitsbildern wie Marfan-Syndrom, Neurofibromatose etc. liefert mit der Einschränkung auf die Korsettbehandlung nur mehr einstellige Ergebnisse.
Die aktuellen Publikationen zum Thema „idiopathische Skoliose” befassen sich mit der Suche nach Gemeinsamkeiten auf genetischer Basis. Der genetische Marker für die Progredienzwahrscheinlichkeit stellt einen ersten Ansatz zur Vermeidung einer Übertherapie mit dem Korsett dar 6.
Anamnese sowie klinische und bildgebende Untersuchung liefern für die Diagnostik einer möglichen Grunderkrankung als Skolioseursache erste Hinweise. In der Literatur wird in den Fußnoten auf Ausschlusskriterien wie Fehlbildungen, neuromuskuläre Erkrankungen etc. hingewiesen. Bei genetischen Tests wird die Festlegung auf die ethnische Herkunft („Kaukasier”) und Geschlechtsdifferenzierungen reduziert. Eine weiterführende systematische krankheitsspezifische Differenzierung bei der Korsettbehandlung liegt bisher noch nicht vor.
Die Aufarbeitung der eigenen Daten von 250 Skoliosepatienten förderte bei genauer Betrachtung bei 46 Patienten Krankheitsbilder zutage, die auf den ersten Blick nicht vermutet wurden. Als Einschränkung muss aber angeführt werden, dass viele Patienten in der Abteilung der Verfasser als einem Zentrum für Skoliosebehandlung zur Einholung einer Zweitmeinung vorstellig werden, weshalb keine Normalverteilung erwartet werden darf.
Für nicht in der Wirbelsäule gelegene Ursachen findet sich als häufigste Diagnose eine Beinlängendifferenz, resultierend aus Extremitätenfehlbildungen, Hemiatrophien bei minimalen cerebralen Bewegungsstörungen sowie Residuen nach Wachstumsfugenverletzungen, Entzündungen und Tumoren. Zudem wurden nicht diagnostizierte minimale cerebrale Bewegungsstörungen, langsam voranschreitende neuromuskuläre Erkrankungen wie eine Muskeldystrophie, aber auch syndromale Veränderungen wie das Prader-Willi-Syndrom diagnostiziert.
Die Ursachensuche bei einer Beinlängendifferenz von über 1 cm zeigte in der Hälfte der Fälle, dass durch einen Beinlängenausgleich die „Skoliose” bereits behandelt war (Krümmungskorrektur unter die Korsettindikation von 20° Cobb-Winkel). Als eine Ursache für die Beinlängendifferenz konnte eine bisher unbekannte Fibulaaplasie und Femurhypoplasie diagnostiziert werden. Des Weiteren zeigten sich eine Femurschaftfraktur mit Wachstumsfugenverletzung sowie eine fibröse Dysplasie des Femurs als Ursache.
Bei der genaueren Betrachtung der Hüften wurde eine Epiphyseolysis capitis femoris als Lenta-Form diagnostiziert, die unter dem Deckmantel einer Skoliose vorgestellt wurde. Ein weiterer Patient zeigte einen bisher nicht diagnostizierten Morbus Perthes mit einer Abduktionseinschränkung und einer damit zwangsläufigen Beeinträchtigung der Wirbelsäulenstatik. Bei weiteren Patienten konnte die Beinlängendifferenz in einen Zusammenhang mit einer nicht bekannten neuromuskulären Erkrankung gebracht werden. Frühgeburtlichkeit und Mini-CP sowie geistige Beeinträchtigung waren damit vergesellschaftet.
Eine Auflistung der weiteren ermittelten Diagnosen mit Veränderungen in der Wirbelsäule erfolgt in tabellarischer Form, wobei der Zusammenhang zwischen Skoliose und der genannten Erkrankung von unterschiedlicher Ausprägung ist (Tab. 2). Die hohe Zahl an ermittelten Zusatzdiagnosen ist auffällig.
Diskussion
Die Angabe zur Häufigkeit von Skoliosen in der Adoleszenz unterliegt in der Literatur einer großen Schwankungsbreite. Bei genauer Betrachtung weisen von 250 Skoliosepatienten annähernd 20 % teils schwerwiegende „Begleitdiagnosen” auf. Diese Beobachtung muss als auffällig bezeichnet werden.
Es ist wohl unstrittig, dass der Begriff „idiopathisch” zu großzügig verwendet wird. Die notwendige weitere Diagnostik als Grundvoraussetzung für die Einschätzung der Skolioseprogredienz wird damit vernachlässigt, eine objektive Beurteilung der Voraussetzungen für die Korsettbehandlung fehlt.
In der Literatur finden sich immer wieder Beschreibungen von unglaublichen Erfolgen bzw. Misserfolgen, bei denen der Verdacht auf eine ursächliche Begleiterkrankung besteht. Als Beispiele können lumbosakrale Übergangsstörungen für sehr schlechte bzw. Bindegewebserkrankungen wie das Marfan-Syndrom oder das Ehlers-Danlos-Syndrom für kurzfristig sehr gute Erfolge angeführt werden.
Bei den für diese Studie erhobenen Diagnosen handelt es sich um Veränderungen, die in einem Zusammenhang mit der Skoliose stehen oder ursächlich für sie sind. Die Zusammenhänge zu erkennen und auch zu erklären stellt eine große Herausforderung dar. Ein Ansatz wird in einem genetischen Screening gesehen.
Da einige der Diagnosen keinen genetischen Ursprung haben, darf auch von den genetischen Tests in der Zukunft keine hundertprozentige Antwort auf die Progredienz einer Skoliose erwartet werden. Noch sehr viel schwieriger wird es, den Zusammenhang zwischen Skoliose und hormonellen Störungen wie zum Beispiel einer Hashimoto-Thyreoiditis zu erklären. Hormonelle Störungen sind aber ein nicht zu vernachlässigender Faktor, wie das gehäufte Auftreten von Skoliosen im Rahmen der Wachstumshormonbehandlung zeigt.
Neben einer Skoliose können als Äußerung einer Störung in der embryonalen Entwicklung auch Hemisakralisation, Ösophagusatresien oder auch kardiale Veränderungen angesehen werden. Auch neuromuskuläre Erkrankungen wie minimale CP oder HSMN können im Rahmen der Skolioseabklärung erstmalig diagnostiziert werden. Die Skoliose wird daher in manchen Fällen zum Wegweiser für eine Grunderkrankung. Auch zu einem späteren Zeitpunkt auftretende Einflüsse wie eine traumatische Wachstumsfugenstörung mit nachfolgender Beinlängendifferenz und konsekutiver Skoliose sind abzugrenzen.
Unklare Anamnesen, untypische Skolioseformen und bisher erfolglose Therapieversuche prägen die Krankengeschichten von Patienten mit Begleitdiagnosen. Unter den genannten Voraussetzungen ist deshalb ein Abklärungsalgorithmus für die Zukunft zu fordern, bevor die Bezeichnung „idiopathisch” für eine Skoliose vergeben wird. Es stellt sich somit die Frage: „Sollte nur die rechtskonvexe idiopathische Skoliose als idiopathisch bezeichnet werden?” Dies ist wahrscheinlich eine zu starke Einschränkung, würde aber den Einfluss der „nichtidiopathischen” Skoliosen auf die Behandlungsergebnisse weitgehend reduzieren.
Schlussfolgerung
Die Zielsetzung, aus der Gruppe der „idiopathischen” Adoleszentenskoliose Begleiterkrankungen herauszufiltern, ist in einem viel stärkeren Ausmaß gelungen als erwartet. Auf das Thema der „Begleitdiagnosen” ist somit das weitere Augenmerk zu legen. Das vorliegende Resultat bildet nur einen Überblick über die bisher ermittelten Diagnosen. Ein zu erarbeitender Abklärungsalgorithmus ist für die Zukunft zu fordern.
Für die Autoren:
Dr. Franz Landauer
Universitätsklinik für Orthopädie Paracelsus
Med. Privatuniversität
Müllner Hauptstraße 48
A — 5020 Salzburg
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Landauer F, Vanas K. Wie häufig ist die Adoleszentenskoliose idiopathisch? – Eine Ursachenforschung. Orthopädie Technik, 2015; 66 (1): 18–21
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
- Rehabilitation aus orthopädietechnischer und physiotherapeutischer Sicht – Osseointegration und Schaftprothesen der unteren Extremität im Vergleich — 5. November 2024
- Belastungsprofile von knochenverankerten Oberschenkelimplantaten verbunden mit modernen Prothesenpassteilen — 5. November 2024
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