Als Anfang September die letzten Tage der Paralympics in Tokio anbrechen, hat sich der Berg an Ersatzreifen für Rollstühle in der Technischen Werkstatt bereits merklich verringert. „Zu Beginn konnte ich mich hier hinter noch verstecken“, bemerkt Peter Franzel bei einer virtuellen Tour durch die rund 700 qm große Anlage. Franzel, Head of Global Events, Exhibitions & Sports, beim Duderstädter Unternehmen, erinnert sich, dass es 1984 im südkoreanischen Seoul zunächst vier Ottobock-Techniker aus Australien gewesen waren, die in Eigeninitiative die Paralympionik:innen unterstützen wollten.
In Japan hat Ottobock 106 Mitarbeiter:innen aus 22 Ländern zu einem gemeinsamen Werkstatt-Team zusammengestellt. „Hier werden 25 Sprachen gesprochen und die Kompetenz aus der ganzen Welt sorgt für eine große Schwarmintelligenz“, ist Peter Franzel vom internationalen Geist und Know-how begeistert. Drei Tage vor Ende der Spiele verbuchte die täglich von 8 bis 23 Uhr geöffnete Werkstatt bereits mehr als 1.650 Reparaturen, darunter gut 70 Prozent im Rollstuhlbereich. Kein Wunder, wenn etwa die Basketballer:innen und Rugby-Spieler:innen mit ihren Rollstühlen gegeneinander krachen oder die Tennis-Rollis akrobatische Manöver fahren. Da ist schnell ein neues Kugellager oder ein neuer Reifen fällig.
Die Orthopädietechniker:innen haben es nicht nur mit individuellen Aufgabenstellungen zu tun, sie müssen auch in kürzester Zeit Lösungen für Problemstellungen finden, wenn bei Sportler:innen kurz vor Wettkampfbeginn an der Orthese ein Riemen reißt oder die Prothese plötzlich unangenehm drückt. Auch ein 3D-Drucker kommt in Tokio zum Einsatz, um z. B. einen Fingerschutz für eine Bogenschützin anzufertigen. „Die Athlet:innen müssen uns vertrauen. Deshalb müssen wir hier die Besten der Besten vereinen“, verweist Franzel auf den hohen Qualitätsanspruch des Teams.
Stolz berichtet er von den ganz besonderen Versorgungen während der Paralympics: Wenige Stunden vor der Eröffnungszeremonie fertigte seine Werkstatt etwa für den beidseitig armlosen Fahnenträger des Geflüchteten-Teams einen speziellen Rucksack mit Tragerohr an, damit der Auserwählte der besonderen Ehre überhaupt nachkommen konnte. Ein peruanischer Marathonläufer, ebenfalls ohne Arme stark gehandicapt, durfte während des Rennens keine fremde Hilfe in Anspruch nehmen. Um unterwegs nach den Getränkeflaschen „greifen“ zu können, dachten sich die Techniker:innen ein Klettsystem aus, das sie sowohl an der Brust des Athleten, als auch an den an den Verpflegungsstellen positionierten Wasserflaschen anbrachten.
Fast beiläufig erzählt Peter Franzel beim Live-Video-Rundgang davon, dass hier gerade ein US-amerikanischer Techniker den Rollstuhl einer chinesischen Athletin repariert. Weltpolitische Spannungen und Rivalitäten haben beim technischen Support der Paralympics keinen Platz. Für manch Orthopädietechniker:in wäre eine Live-Berichterstattung aus der Werkstatt womöglich mindestens genauso spannend gewesen wie das Geschehen auf den Wettkampfstätten. Das bekam das Service-Team von Ottobock fast nur an den installierten Bildschirmen zu sehen, was für Franzel aber zwangsläufig zum Job dazugehört: „Jeder von uns nimmt hier eine bestimmte Rolle ein.“
Per Computersystem sind alle Versorgungen genauestens erfasst worden, um u. a. Rückschlüsse auf den Material- und Personalbedarf der kommenden Winter-Paralympics ziehen zu können, die Anfang März 2022 in Peking stattfinden sollen. Und so bleibt am Ende ein Teil von Material und Maschinen in Japan, in dessen Markt Ottobock als Komponentenlieferant aktiv ist, während ein anderer Teil zunächst zurück zur Zentrale in Deutschland geht, um dort für künftige Einsätze fit gemacht zu werden.
Direkt im Anschluss an die Spiele in Tokio gaben das ICP und Ottobock bekannt, dass die Technische Werkstatt bis einschließlich der Sommer-Paralympics im australischen Brisbane 2032 weiterhin vom Duderstädter Weltkonzern betrieben werden wird.
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