Einleitung
Skoliosen ab einem Cobb-Winkel von 20 bis 25° bedürfen einer Korsettbehandlung, sofern ein ausreichendes Restwachstum (Risser-Stadium 0 bis 2) besteht und eine Progredienz von mehr als 5° im 6‑Monats-Intervall nachgewiesen werden kann 1. Einzelprüfungen der Indikation für eine Korsett-Therapie sollten bei mangelndem Restwachstum bzw. abgeschlossenem Längenwachstum, Lungenoder Hauterkrankungen, ausgeprägter Adipositas 2 oder einem Krümmungsausmaß von mehr als 45 bis 50° erfolgen.
Geschichte
In den vergangenen 60 bis 70 Jahren wurde mit verschiedenen Orthesen auf unterschiedliche Weise versucht, Skoliosen zu therapieren. Beim Milwaukee-Korsett kommt es hierbei zu einem primär extendierenden und beim Boston-Korsett zu einem primär passiv derotierenden Effekt. Das Wilmington-Korsett hingegen wirkt primär komprimierend; das Charleston-Bending-Korsett wiederum wird in der Nacht getragen, wobei es umkrümmend spiegelnd wirkt. In Mitteleuropa hat sich in den letzten Jahrzehnten das primär aktiv derotierende und spiegelnde Chêneau-Korsett durchgesetzt, das kontinuierlich weiterentwickelt wird. Neben der Stützung in Ruhephasen erfüllt das Derotations-Korsett als einzige der o. g. Orthesen die Anforderung der aktiven Aufrichtung in Phasen der Aktivität.
Wirkprinzipien
Krümmungen können sowohl durch Extension, Derotation als auch durch Umkrümmung passiv korrigiert werden. Neben der passiven ist allerdings auch die aktive Korrektur durch Stimulation der Propriozeption möglich 3. Das passive Element wird durch die Druckpelotten gebildet, während die aktive Aufrichtung durch Einüben einer Atemtechnik erfolgt. Hierbei atmet der Patient über die Thoraxexpansion in Freiräume, die beim Korsettbau berücksichtigt werden müssen und die ein Ausweichen gegenüber dem Druck durch die Pelotten möglich machen (Abb. 1). Eine Pelotte sowie der korrespondierende Freiraum können je nach Platzierung gegenüber der Krümmung isolierte oder kombinierte derotierende, extendierende oder auch umkrümmende Effekte haben. Durch diese Ausweichbewegung kann eine Korrektur in allen Ebenen erzielt werden.
Alle erfolgreichen modernen Weiterentwicklungen der Derotationsorthesen wie z. B. die Korsette nach Rigo System Chêneau (RSC) oder Chêneau light streben eine Spiegelung des Krümmungsmusters und eine Überkorrektur an. Wenn diese Spiegelung nicht erreicht wird, kommt es zu keiner suffizienten Besserung der Skoliose (Abb. 2). Durch Spiegelungskorsette kommt es nicht zur exakten Spiegelung des Cobb-Winkels, sondern nur zu einer Verringerung desselben (Abb. 3). Wichtig erscheint aber nicht nur die Spiegelung, sondern auch die Schaffung ausreichender Freiräume, in die hinein geatmet werden kann und die somit für eine aktive Korrektur sorgen. Insbesondere dorsal ist ein entsprechender Raum wichtig (Abb. 4).
Zielsetzungen
Ziele der Therapie sind die Verhinderung oder Verringerung der Progression, die Korrektur der bestehenden Krümmung, das Halten der erreichten Korrektur und ein Cobb-Winkel von weniger als 40° bei Wachstumsabschluss, da dies ein Fortschreiten nach Wachstumsende verhindert und somit eine operative Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit überflüssig macht 4.
Den größten Einfluss auf die Krümmungsprogression haben das Alter und die initiale Ausprägung der Krümmung 5. Der Therapieerfolg der konservativen Skolioseversorgung hängt allerdings von vielen Faktoren ab und bedarf eines interdisziplinären Ansatzes.
Die nicht in allen Fällen standardisierte Korsettbauweise kann durch den Einsatz des computergestützten CAD-Systems verbessert werden, das allerdings nicht den konventionellen Korsettbau ersetzt. Die physiotherapeutische Behandlung und insbesondere die eigenständige Übungsausführung unterliegen ebenso unterschiedlichen Faktoren wie die Compliance des Patienten sowie der Familie. Der positive Effekt einer Intensiv-Rehabilitationsmaßnahme wird ebenfalls beschrieben 6 7.
Damit eine Korsett-Therapie zu einer effektiven Behandlung führt, gilt es allerdings einige Bedingungen zu erfüllen. Nach der sorgfältigen Indikationsstellung, die auch Bending-Aufnahmen zur Beurteilung der Flexibilität einschließt, sollte die Primärkorrektur laut Landauer 8 mindestens ein Drittel betragen. Wenn trotz optimaler Bauweise und Anpassung dieses Ziel nicht erreicht werden kann, muss das weitere Vorgehen überdacht und die Korsett-Therapie ggf. abgebrochen werden. Die besten Chancen bestehen für Patienten mit einer hohen Initialkorrektur von mehr als 40 % und hoher Compliance 9.
Für die meist jungen Patientinnen steht nicht der gemessene Cobb-Winkel im Vordergrund. Zwar ist dies ein Parameter, an dem sich der Therapieerfolg messen lässt, dennoch erscheinen Symmetrie und kosmetische Aspekte für die Patientinnen wesentlich wichtiger. Das behandelnde Team, bestehend aus Orthopäden, Orthopädie-Technikern und Physiotherapeuten, muss sich also auch hieran messen lassen. Ein kosmetisch gutes Ergebnis (siehe Abb. 3a, b u. 5a, b) entschädigt für eine jahrelange Versorgung mit einem Korsett, die zu einer deutlichen Minderung der Lebensqualität führt 10. Gut derotierende Rumpf-Korsette haben auf eine mehr oder minder weiche Wirbelsäulen-Verkrümmung der noch wachsenden Jugendlichen einen passiven oder aktiven Korrektur-Effekt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob neben der meist guten passiven Korrektur in einem modernen derotierenden Rumpf-Korsett auch eine entsprechende aktive Aufrichtung durch die Jugendlichen möglich ist.
Kritiker bemängeln, dass sich der meist primär gut korrigierende Effekt in Frontal- und Rotationsprofil Jahre nach dem Abtrainieren des Korsetts verflüchtigt und somit zwar die Progredienz verhindert, aber die Skoliose auf Dauer nicht korrigiert werden kann 11.
Eine multinationale Studie ergab in diesem Zusammenhang, dass der verbesserte Cobb-Winkel in einem Nachbeobachtungszeitraum von 16 Jahren nicht gehalten werden konnte, sondern zu den Ausgangswerten zurückkehrte 12. In einer Studie von Matussek et al. 13 wurde die Oberflächenoptometrie des Rückens als bildgebendes Verfahren zur Untersuchung der aktiven Wirbelsäulenkorrektur angewendet. Hierbei zeigt sich dieses Verfahren als geeignete strahlenfreie Untersuchungsmethode (Abb. 6 u. 7).
Die Oberflächenrotation ist als Horizontalabweichung der Flächennormalen auf der Symmetrielinie definiert und gilt als Hauptkriterium zur Beurteilung der Rumpfasymmetrie, da diese gut mit der Seitverkrümmung sowie der Sagittalverschiebung korreliert. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Haltungs- und Rotations-Korrektur nicht sofort mit den radiologischen Werten im Korsett korrelierte, sondern einen Nachlauf von ca. 6 Monaten hatte. So waren 12 Monate konsequente Korsett- und Physiotherapie nach Schroth notwendig, um eine aktive Derotationskorrektur zu erreichen. Diese Rumpfveränderungen sowohl aus statischer als auch aus kosmetischer Sicht waren für die Patienten offensichtlich.
Diskussion der Korsettversorgung für idiopathische Skoliosen
Die Korsettbehandlung von Skoliosen wird weltweit sehr kritisch betrachtet 14 15. Umso wichtiger erscheint die im Herbst 2013 veröffentlichte Studie von Weinstein et al. 16 mit 242 Patienten, die bereits frühzeitig beendet wurde, da sich die Korsett-Therapie als deutlich überlegen gegenüber einer Beobachtungskohorte zeigte. Die vorgegebene Tragezeit von 18 Stunden täglich sollte erreicht werden, da eine positive Korrelation zwischen Tragezeit und Behandlungserfolg zu beobachten war. Nach Weinstein et al. kann durch die Korsettbehandlung das Fortschreiten von Hochrisiko-Skoliosen signifikant gemindert werden. Diese Studie ist eine weitere Stütze für die konservative Therapie idiopathischer adoleszenter Skoliosen, die das weltweit schlechte Image der Korsett-Therapie in besserem Licht dastehen lässt.
Nach den Erfolgen derotierender Korsette bei idiopathischen Skoliosen stellt sich die Frage, ob die hier gewonnenen Erkenntnisse auf die Behandlung neuromuskulärer Skoliosen übertragen werden können.
Hier liegt die Ursache der Deformität meist in der mangelnden dynamischen Stabilisierung gegen die Schwerkraft, nur selten in einer verstärkten einseitigen Muskelaktivität 17. Auch spielen Hüftdezentrierungen oder Luxationen eine wesentliche Rolle für die rasche Progredienz neuromuskulärer Skoliosen. Die Korsettversorgung kann in vielen Fällen als einzige Methode ein Kollabieren der Wirbelsäule verhindern bzw. die Sitzstabilität verbessern, da bei schwerbehinderten Patienten die Indikation zur operativen Therapie aufgrund von Begleiterkrankungen häufig nicht gegeben ist 18.
Im Vergleich zu den idiopathischen Skoliosen sind die neuromuskulären Krümmungen durch einen früheren Beginn, ein rascheres Fortschreiten und eine Progredienz nach Wachstumsabschluss gekennzeichnet. Besondere Beachtung muss dem hohen Risiko an Komorbiditäten sowie den speziellen Anforderungen bei Rollstuhlfahrern geschenkt werden. Insbesondere die fehlende oder eingeschränkte dynamische Stabilisierung des Rumpfes führt zu rasch fortschreitenden neurogenen Skoliosen (Abb. 8), die zu massiven Thoraxverformungen sowie in deren Folge zu pulmonalen und kardialen Einschränkungen führen können 19.
Die Therapieziele bestehen hierbei im Gegensatz zu den idiopathischen Skoliosen vor allem in Sitzfähigkeit 20, Schmerzfreiheit, einer Verbesserung sowohl der Vitalfunktionen als auch der Kommunikation sowie der Handfunktion und einem Aufhalten bzw. einer Verlangsamung der Krümmungsprogredienz.
Die Therapieprinzipien der idiopathischen Skoliosen sind nicht auf neuromuskuläre Skoliosen übertragbar. Zum einen sind die Spiegelungskorsette deutlich zu rigide, zum anderen ist den meisten Patienten weder eine aktive Aufrichtung noch eine Korrektur möglich. So muss für jeden Patienten ein individuelles Therapieregime ermittelt werden. Hierbei kann bereits der Einsatz von Konfektionsware zu einer guten Besserung führen, aber auch – z. B. bei ausgeprägter Aposturalität – die Versorgung mit einer Sitzschalenorthese (Abb. 9) notwendig werden. Durch die Anpassung einer Softcast-Orthese wiederum wird zwar kaum eine Korrektur der vorliegenden Krümmung erzielt, dennoch wird der Patient aufgerichtet und so eine funktionell bessere Position erreicht (Abb. 10).
Im Gegensatz zu den idiopathischen Skoliosen, bei denen sich durch eine längere Korsett-Tragedauer über den Wachstumsabschluss hinaus keine günstigere Prognose zeigt 21, erscheint die weitere Versorgung dringend notwendig, da die korrigierte Haltung aktiv nicht erreicht werden kann. Insbesondere bei Patienten im Rollstuhl kann neben Korsetten auch durch Pelotten, Gurte und Sitzschalenanpassung eine Aufrichtung und somit eine adäquate Versorgung gewährleistet werden 22 23.
Für die Autoren:
Dr. Esther Dingeldey
Orthopädische Klinik der Universität Regensburg
Abt. Kinderorthopädie/
Asklepios Klinikum Bad Abbach
Kaiser-Karl‑V.-Allee 3
93077 Bad Abbach
e.dingeldey@asklepios.com
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
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