Als Chair der Arbeitsgruppe (AG) MDR der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) befasst er sich seit mehreren Jahren mit den Auswirkungen der MDR auf den Hilfsmittelsektor. Er hat unter anderem mitgearbeitet an den Leitfäden mit Handlungsempfehlungen für Händler und Hersteller von Sonderanfertigungen sowie den übergeordneten Klinischen Bewertungen für Einlagen und Prothetik der oberen Extremität. Weitere Klinische Bewertungen für Sonderanfertigungsprodukte bringt die AG MDR laut Friehoff demnächst heraus. Sein Ziel: eine einheitliche Interpretation der MDR-Anforderungen durch Betriebe, Industrie und Politik – denn diese stehe nach wie vor aus.
OT: Herr Dr. Friehoff, die Übergangsfrist der MDR endet demnächst. Haben sich die orthopädietechnischen Betriebe und Sanitätshäuser gut auf die Anforderungen der MDR vorbereitet?
Axel Friehoff: Das ist tatsächlich schwer zu beurteilen – aber ich hoffe es! Sicher ist das größeren Betrieben leichter gefallen als kleinen, aber diese konnten sich Hilfe holen. Die AG MDR im DGIHV sowie die Verbände und Organisationen der Leistungserbringer haben zahlreiche Seminare angeboten und immer wieder darauf aufmerksam gemacht: Das Datum 26. Mai 2021 steht – und die Betriebe müssen es ernst nehmen! Viele Unternehmen haben inzwischen eine Zertifizierung nach DIN EN ISO 13485:2016–08 absolviert. Das ist eine sehr gute Voraussetzung, um ebenso die Anforderungen der MDR zu erfüllen, denn diese verlangt ein Qualitätsmanagementsystem (QM-System). Auch früherschon mussten beispielsweise alle Sanitätshäuser ein QM-Handbuch besitzen, um an der Versorgung teilzunehmen. Durch die MDR wurde hier eine Aktualisierung bzw. Anpassung fällig. Die mit der MDR verbundenen Pflichten sind in den Leitfäden der AG MDR für Hersteller von Sonderanfertigungen und für Händler nachzulesen. Eigentlich war gut 90 Prozent dessen, was die MDR fordert, bereits vorher schon verpflichtend. Durch die MDR sind die Vorgaben umfangreicher und bürokratischer geworden – völlig neu aber sind sie nicht.
Kleinteilige Dokumentation erhöht Aufwand
OT: Worin liegt die größte Umstellung, welche die MDR mit sich bringt?
Friehoff: Es muss genauer, präziser, kleinteiliger dokumentiert werden. Insgesamt wird mehr Dokumentation der Versorgung verlangt. Das kann im täglichen Geschäft sogar ein wenig helfen – selbst wenn viele Betriebe das nicht so sehen werden. Wenn man Dokumentationskriterien einhalten muss, ist das vielleicht nervig – aber letztlich nicht geschäftsschädigend. Denn saubere Dokumentation schützt vor Regress.
OT: Also keine Kritik?
Friehoff: Mit wirklich großen Veränderungen muss der Handwerksbereich leben. Da gibt es einen deutlich gestiegenen Aufwand. Sicher bietet die zusätzliche Dokumentation ein Stückchen mehr Sicherheit, kostet aber viel mehr Zeit – und wer zahlt die? Bei der MDR ist der Unterschied zwischen handwerklich individueller Sonderanfertigung und der industriellen Serienproduktion etwas abhandengekommen. Den Sonderfertigern wird viel auferlegt, was eigentlich nur in den Bereich Serienherstellung gehört – zum Beispiel Klinische Bewertungen. Das ist für Handwerksbetriebe, die ein Produkt nur ein Mal individuell bauen, schwierig umzusetzen. Deshalb widmet sich die AG MDR mit erheblichem Arbeits- und finanziellen Aufwand der Fertigstellung von Klinischen Bewertungen und Risikoanalysen für Produktbereiche wie Prothetik, Orthetik, Orthopädie-Schuhtechnik und Einlagen.
OT: Welche Dokumente liegen bereits vor?
Friehoff: Zurzeit verfügbar sind die aktuellen Versionen für Einlagen sowie Prothetik und Orthetik der oberen Extremitäten. Noch vor dem 26. Mai planen wir die restlichen zu veröffentlichen. Wir sind auf der letzten Meile, 95 Prozent der Dokumente sind abgeschlossen. Wir haben diese Handreichungen so aufbereitet, formalisiert und standardisiert, dass sie sich im Arbeitsalltag einfach einsetzen lassen. Damit können Handwerkerinnen und Handwerker die gesetzlichen Anforderungen erfüllen, ohne dass sie monatelange Studien anfertigen müssen, bevor sie ein Produkt ausliefern dürfen. Schließlich muss die MDR für Einzelanfertiger darstellbar sein. Durch die Einführung der MDR wollte die EU die Überwachung der Hersteller verschärfen, um kriminelle Machenschaften wie den Betrugsskandal um Brustimplantate des Unternehmens PIP zu verhindern. Man hatte also die industriellen Fertiger im Blick, ohne die Sonderanfertigungen auszunehmen. Damit wird den kleinen Betrieben ein Prozess übergestülpt, der ihrer Arbeitsweise nicht entspricht.
Ausführungsbestimmungen fehlen
OT: Wenn sich die Betriebe an den von der DGIHV herausgegebenen Klinischen und Risikobewertungen „entlanghangeln“, kommen sie mit der MDR klar?
Friehoff: Das ist unsere Auffassung. Die Schwierigkeit bei der MDR: Es gibt keine Ausführungsbestimmungen wie sonst für Gesetze üblich. Der Text der Richtlinie wurde in Brüssel geschrieben, es gibt amtliche Übersetzungen – und das war es. Selbst die Behörden haben Probleme damit, die MDR zu interpretieren. Wir haben Kontakte zu den entsprechenden Stellen wie der AG Medizinprodukte der ZLG (Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten), den Bundesbehörden bis hin zum Nationalen Arbeitskreis (NAKI) zur Implementierung der EU-Verordnungen über Medizinprodukte (MDR) und In-vitro-Diagnostika (IVDR) aufgenommen. Aber keiner konnte abschließend sagen, was wirklich Sache ist, ob wir in jeder unserer Interpretationen richtig liegen. Doch niemand hat etwas dagegen gesagt. Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen sowie entsprechend den sachlich-inhaltlichen Bestätigungen gearbeitet, die wir erhalten konnten. Wenn die Betriebe die vom DGIHV herausgegebenen Klinischen Bewertungen und Risikoanalysen anwenden, dürften sie keine Probleme bekommen.
OT: Werden sich schlussendlich die Anwälte die Hände reiben?
Friehoff: Ich weiß nicht, was die Wirtschaft im Sinne der Serienfertiger dazu sagt. Da mag es Prozesse geben, weil zu wenig Benannte Stellen vorhanden sind, die für die Zulassung von Produkten zuständig sind. Aber bei den Sonderanfertigern erwarte ich das nicht. Wir haben die Fach- und Sachexperten am Tisch gehabt. Ich sehe keine Chance, die Probleme mit dem zusätzlichen Dokumentationsaufwand vor Gericht zu klären. Deshalb würde mich eine Klagewelle sehr wundern.
Keine Marktbereinigung
OT: Nach wie vor gibt es im Zusammenhang mit der MDR einige Übergangsfristen, die über den 26. Mai hinauslaufen, denn seitens der Behörden sind noch nicht alle Voraussetzungen erfüllt. So verschiebt sich der Start der europäischen Medizinprodukte-Datenbank EUDAMED. Ist dies für die Handwerksbetriebe und Sanitätshäuser relevant?
Friehoff: Nein. Für unsere Betriebe ist die Übergangsfrist mit der Umsetzung und dem Inkrafttreten am 26. Mai vorbei. Was später noch implementiert werden sollte, ist ein Datenbanksystem, wo alle Rückmeldungen zu Versorgungen und Produkten sowie Mitteilungen oder Warnungen gespeichert werden. Das wird für die Betriebe nützlich sein, ist aber gegenwärtig nicht spruchreif. Wir werden unsere Handreichungen für die Betriebe ständig weiterentwickeln. Insgesamt muss Routine hineinkommen – wie bei allen neuen Dingen. Wenn es zwischendrin nicht noch gravierende Änderungen gibt, wird das MDR-Handling in fünf bis sechs Jahren geräuschlos laufen, ähnlich wie es sich nach 1993 nach Inkrafttreten der MDD (Medical Device Directive) entwickelt hat.
OT: Könnte die MDR beim Start zu Engpässen führen – sei es, weil kleine Unternehmen aufgeben oder Hersteller Produkte vom Markt nehmen, da sie die Anforderungen nicht erfüllen?
Friehoff: Ich erwarte keine Marktbereinigung in unserem Bereich. Ich sehe eher Ankündigungen von Coronabedingten Engpässen, weil Lieferketten nicht funktionieren oder sich enorm verteuert haben. Aber nicht aufgrund der MDR. Wer aufgeben muss, hätte das früher oder später auch ohne MDR getan. Für kleinere Betriebe wird es natürlich immer schwieriger. Große Unternehmen können sich Personal zur Umsetzung der MDR leisten, bei kleineren geschieht dies in der Regel nebenbei. Da werden tagsüber die Patientinnen und Patienten versorgt, abends wird die Bürokratie erledigt. Alle Anforderungen zu meistern, ist schon jetzt eine Frage der Personalstruktur und tut kleinen Betrieben deshalb mehr weh. Aber Punkte wie die geforderte „market surveillance“ – Marktüberwachung – sind für alle Unternehmen im Grunde nichts Neues. Ebenso wenig wie die Wartung von Produkten. Das haben sie schon immer gemacht, einfach, weil die Kundinnen und Kunden sonst nicht zufrieden sind und „mit den Füßen abstimmen“. Das ist sozusagen der natürliche Weg der Marktüberwachung, der alle Geschäftsleute zwingt, einen guten Job zu machen. Die MDR sorgt lediglich dafür, dass diese Prozesse formalisierter werden.
OT: Wenn sich ein Betrieb nicht vorbereitet fühlt – was kann der jetzt noch tun?
Friehoff: Die Corona-Pandemie hat die MDR-Vorbereitung sicher nicht gefördert. Für die Häuser war die Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung (PSA) im Zweifel wichtiger als die MDR. Wer sich beim Thema QM noch wackelig fühlt, sollte jetzt schleunigst für eine Aktualisierung des QM-Systems sorgen. Da gibt es zahlreiche Dienstleister und Angebote im Markt, die in diesem Segment unterstützen. Entsprechende Informationen gibt es ebenso beim Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT), bei der Egroh und anderen Organisationen bzw. Zusammenschlüssen der Leistungserbringer.
OT: Erwarten Sie sofortige Kontrollen?
Friehoff: Schwer zu sagen. Ich weiß, dass es eine verstärkte Prüfungstätigkeit geben soll. Auf jeden Fall sollte sich niemand darauf verlassen, dass alles schon irgendwie gut gehen wird – nach dem Motto: Ich bin doch noch nie kontrolliert worden! Das würde ich nicht riskieren. Nur ein ruhiges Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.
Kostenerstattung nicht in Sicht
OT: Wird sich die MDR auf die Kosten der Hilfsmittelversorgung auswirken – und wird dies honoriert?
Friehoff: Es wird schwierig, höhere Entgelte aufgrund des wachsenden Aufwands durchzusetzen. Wir haben ja bereits enorme Schwierigkeiten, die gesetzlichen Krankenkassen zu einem Ausgleich der gestiegenen Kosten unter anderem für PSA zu bewegen. Schon bisher hatten die Kassen keine „Spendierhosen“ an – und unter dem Druck der Corona-Pandemie erst recht nicht. Das wird beinharte Verhandlungsarbeit und nicht in kurzer Zeit hinzukriegen sein. Selbst eine Vereinheitlichung der Dokumentation durch eine Anpassung der Formulare, wie wir sie im Rahmen der MDR-Anforderungen gerade umsetzen, wird auf sich warten lassen. Bis dahin werden die Betriebe weiter denselben Inhalt in viele verschiedene Formblätter eintragen müssen.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Die AG MDR im DGIHV hat Handlungsempfehlungen zusammengestellt, mit denen orthopädietechnische Betriebe und Sanitätshäuser die Herausforderungen der MDR besser meistern.
MDR-Leitfaden für Hersteller von Sonderanfertigungen – liefert Informationen zu den wesentlichen Pflichten, die sich aus der MDR ergeben, darunter Dokumentationspflichten, klinische Bewertung und Nachbeobachtung oder den Umgang mit Vorkommnissen.
MDR-Leitfaden für Händler im Bereich Hilfsmittel – gibt eine Übersicht zu allen relevanten Punkten für Händler, darunter Ändern von Verpackungen, des Namens, der Zweckbestimmung oder der Konformität, Überwachung und klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen.
Entscheidungshilfen Hilfsmittel MDR – enthält Entscheidungshilfen, die eine schnelle und einfache Einordnung der jeweils eigenen Rolle entsprechend der MDR-Verordnung bei der Abgabe von Hilfsmitteln erlauben sowie die daraus folgenden Pflichten aufzeigen.
Grafische Veranschaulichungen der MDR-Umsetzung – stellen die zu durchlaufenden Prozessschritte dar:
MDR-Grafik für Händler von Medizinprodukten
MDR-Grafik für Hersteller von Sonderanfertigungen
FAQ der AG MDR – beantwortet oft gestellte Fragen zur MDR:
Angabe der Verwendungsdauer bei Sonderanfertigungen – formuliert die vier wichtigsten Hinweise für orthopädietechnische und orthopädieschuhtechnische Betriebe:
Klinische Bewertungen und Risikoanalysen der DGIHV – Risikoanalysen fassen die generellen Risiken der jeweiligen Produktfamilie zusammen und dienen gemeinsam mit der entsprechenden Klinischen Bewertung als Grundlage für das Risikomanagementsystem innerhalb des betrieblichen Qualitätsmanagements. Der BIV-OT stellt diese Dokumente seinen Mitgliedern zum Download zur Verfügung:
DGIHV Klinische Bewertung Risikoanalyse Einlagen
DGIHV Klinische Bewertung Risikoanalyse Prothesen der oberen Extremität
DGIHV Klinische Bewertung Risikoanalyse Orthesen obere Extremität
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