Das System „Sensomative Wheelchair“ erfasst das Sitzverhalten und gibt den Nutzer:innen gezielt Feedback. Mitbegründer und Geschäftsführer Dr. Roland Zemp, PhD in Biomechanik, hat für ein Gespräch mit der OT-Redaktion selbst Platz auf der Matte genommen und gezeigt, wie das System funktioniert.
OT: Welche Idee steckt hinter dem Konzept „Sensomative Wheelchair“?
Dr. Roland Zemp: Ein bekanntes und häufiges Problem bei Rollstuhlfahrer:innen ist die Entstehung eines Dekubitus. Die Ursache eines Druckgeschwürs ist sehr multifaktoriell. Aber ein einfacher und wichtiger Weg, das Risiko zu senken ist regelmäßige Entlastung. Hier kann unser System „Sensomative Wheelchair“ unterstützen, indem es Sensorinformationen sammelt und den Nutzer:innen ein individuelles Feedback gibt. Mit unserem Konzept wollen wir die Arbeit der Therapeut:innen aber nicht ersetzen, sondern unterstützen. Es ist ein Hilfsmittel, um die therapeutischen Vorgaben umzusetzen.
OT: Wie funktioniert das System?
Zemp: Das System besteht aus einer dünnen Matte, die unter das Rollstuhlkissen in die Hülle gelegt wird, sowie einer über Bluetooth verbundenen App. Gemeinsam mit den Therapeut:innen kann damit festgelegt werden, wie lange, wie häufig und wie ich entlasten möchte. Das ist individuell möglich, denn nicht alle Rollstuhlfahrer:innen haben die gleichen Anforderungen und Möglichkeiten Entlastungen durchzuführen. Im Kalibrierungsprozess muss ich dem System sagen, was eine gute Entlastung ist und was nicht. Jede Position muss dafür mindestens drei Mal ausgeführt werden. Auch diese Einstellungen erfolgen idealerweise gemeinsam mit den Therapeut:innen. So kann man sicher sein, dass die Entlastung auch tatsächlich gut ist.
OT: Wie sieht das konkret im Alltag aus?
Zemp: Jede Entlastung, die ausgeführt wird, wird erkannt und gezählt. Das funktioniert im Hintergrund, das heißt, die App muss nicht geöffnet sein. Das System erkennt, wenn die Entlastung nicht gut ist oder lange keine durchgeführt wurde und gibt über die Smartwatch oder das Handy ein Feedback, um daran zu erinnern – entweder über Ton, Vibration oder stumm. Die Statistik liefert am Ende des Tages einen guten Überblick. Hier sehe ich, wie viele Entlastungen ich zu welcher Zeit gemacht habe und auch, ob vor oder nach dem Erinnerungssignal. Die Statistik kann als PDF exportiert und dann bei Bedarf mit den Therapeut:innen besprochen werden.
OT: Sind die Daten der Nutzer:innen sicher?
Zemp: Ja, die Daten sind nur lokal auf dem Smartphone gespeichert und werden nicht weitergeleitet.
Spielerisch die Rumpfstabilität trainieren
OT: Es wurde 2018 eine Studie in Zusammenarbeit mit dem Institut Biomechanik der ETH Zürich und der Universitätsklinik Balgrist durchgeführt. Wie war diese Studie aufgebaut?
Zemp: Wir haben einen relativ frühen Prototyp mit neun Rollstuhlfahrer:innen über drei Wochen getestet. Während der ersten Woche haben wir nur die Matte verwendet, um zu schauen, wie oft die Personen entlasten. In der zweiten Woche haben wir das Feedback über das Smartphone eingebunden, mit der Erinnerung, sich zu entlasten, wenn dies nicht durchgeführt wurde. In der dritten Woche haben wir wieder nur die Matte verwendet, um herauszufinden, ob der Effekt des Feedbacks anhaltend war. Wir haben uns also den Effekt auf das Verhalten der Rollstuhlfahrer:innen angeschaut und zusätzlich auch die Benutzerfreundlichkeit der App: Was muss am Produkt verändert werden, damit ein maximaler Nutzen entsteht?
OT: Welche Ergebnisse lieferte die Studie?
Zemp: Wir haben festgestellt: Ohne Feedback wurde kaum eine Entlastung durchgeführt. Mit dem Feedbacksystem konnte dies enorm gesteigert werden. Jede Person hat davon profitiert. Dies war auch sichtbar bei der Entlastungsdauer. Darüber hinaus konnten wir viel aus den Gesprächen mit den Testpersonen lernen. Einige Proband:innen haben beispielsweise gesagt, dass es sehr spannend ist auf das Feedback zu warten, weil sie wissen wollten, in welcher Form die Information in der App präsentiert wird. Ein solcher Anreiz wäre aber sehr schlecht, denn wir möchten, dass das Feedback überhaupt nicht nötig ist. Aus diesem Grund haben wir angefangen, Gamification-Aspekte einzubauen. Wenn eine Person bspw. nach einer Rückenmarksverletzung auf einen Rollstuhl angewiesen ist, muss zuerst die Rumpfstabilität aufgebaut werden, damit eine stabile Sitzposition im Rollstuhl möglich ist. Das Hauptziel ist somit zunächst nicht das richtige Entlastungsverhalten, sondern die Rumpfstabilität zu trainieren. Mit unserer Matte ist dies spielerisch möglich. Zu Beginn kann der Nutzer oder die Nutzerin den aktuell möglichen Bewegungsumfang (links-rechts) festlegen. Anschließend geht es darum, Bäumen auszuweichen und Objekte einzusammeln oder einer vorgegebenen Kurve zu folgen. Mit einer Highscore-Liste werden die Nutzer:innen für das Training motiviert und die Fortschritte werden sichtbar gemacht. Das ist ein gutes Trainingstool, um spielerisch reinzukommen, die Rumpfstabilität zu trainieren und zeitgleich oder später mit dem Feedbacksystem das Entlastungsverhalten zu lernen bzw. zu optimieren.
OT: Gab es weitere Rückmeldungen von den Studienteilnehmer:innen?
Zemp: Ja, und zwar dass man das Feedback zwingend über die Smartwatch braucht. Das Handy ist in der Tasche, man hört es nicht gut oder die Umgebung hört es besser als der Rollstuhlfahrer oder die Rollstuhlfahrerin selbst. Eine leichte Vibration der Smartwatch ist angenehmer. Des Weiteren hatten wir beispielsweise bei dem Prototyp eine Akkulaufzeit von nur einem Tag. Das heißt, die Matte musste jeden Abend geladen werden. Das war für die Anwender:innen nicht gut durchführbar. Das ist beim aktuellen Produkt mit einer Akkulaufzeit von drei Monaten kein Problem mehr. Alle Studienteilnehmer:innen haben gesagt, sie würden das Produkt verwenden, wenn es sich nicht mehr um einen Prototyp handelt.
OT: Wurden weitere Studien durchgeführt?
Zemp: Wir haben weitere Tests in unterschiedlichen Kliniken mit Rollstuhlfahrer:innen durchgeführt. Wir erhalten aus diesen Tests immer wieder spannende Rückmeldungen, welche wir laufend in das System integrieren. Aktuell ein Problem ist, dass wir nur Android als Betriebssystem haben. Wenn die Matte auf den Markt kommt, muss und wird auch IOS verfügbar sein. Viele der Teilnehmer:innen haben gesagt, dass die Spiele in die App eingebaut sein müssen. Aktuell haben wir zwei Apps, das macht die Anwendung etwas komplizierter. Viele fanden auch die Games sehr spannend und würden diese primär verwenden. Wir denken, dass wir mit den beiden Konzepten Training der Rumpfstabilität und dem Feedbacksystem viel abdecken können. Es ist dabei immer möglich, nur das eine der beiden oder auch beide Konzepte gemeinsam zu verwenden.
OT: Wurden auch Therapeut:innen in die Entwicklung miteinbezogen?
Zemp: Wir waren von Anfang an mit Rollstuhlfahrer:innen und Therapeut:innen in engem Kontakt, weil es für uns wichtig war zu erkennen, wo die aktuellen Probleme liegen und wie das Produkt ideal in die Therapie integriert werden kann. Aktuell sind ca. 30 Matten im Umlauf, die an Kliniken sowie von Privatpersonen getestet werden, mit denen wir im Austausch sind.
Auf der Suche nach einem starken Partner
OT: Hat das Konzept Grenzen oder könnte man es weiterentwickeln?
Zemp: Das Konzept hat ein großes Potential und kann laufend weiterentwickelt werden. Insbesondere die Spiele können noch stark ausgebaut werden. Weiter wäre es auch denkbar, in Zukunft noch weitere Sensorinformationen in die Smartphone-App zu integrieren. Hier könnten beispielsweise die Beschleunigungsdaten der Smartwatch verarbeitet werden, um z. B. Transfers oder andere Bewegungsabläufe zu erkennen. Darüber hinaus könnte die App zu einer „Virtuellen Klinik“ ausgebaut werden, über welche die Benutzer mit Therapeut:innen oder Ärzt:innen im Austausch stehen könnten.
OT: Inwiefern unterscheidet sich „Sensomative Wheelchair“ von anderen vergleichbaren Produkten auf dem Markt?
Zemp: Der Hauptunterschied ist, dass unser System individuell auf die Rollstuhlfahrer:innen angepasst werden kann. Die Kombination aus Kissen, sitzender Person und Rollstuhl muss gemeinsam betrachtet werden, damit die Entlastungen richtig erkannt und sinnvolle Rückmeldungen an die Nutzer:innen gegeben werden können. Aus diesem Grund muss am Anfang das System zwingend sowohl gemäß der Anforderungen und Möglichkeiten der Nutzer:innen (verschiedene Entlastungsvarianten, ‑dauer, ‑häufigkeit etc.) als auch mit Blick auf den Rollstuhl und das Kissen individualisiert werden. Dies geschieht mit einem automatisierten Kalibrationsprozess. Nur so ist es möglich, qualitativ gute von ungenügenden Entlastungen zu unterscheiden. Dies wird von anderen vergleichbaren Produkten nicht gemacht und dort werden die gleichen Voreinstellungen für alle Nutzer:innen verwendet.
OT: Wann kommt das Produkt auf den Markt?
Zemp: Eigentlich hätte das schon lange erfolgen sollen. Leider ist aber unser damaliger Firmenpartner aufgrund der Covid-19-Pandemie und der Fokussierung auf das Kerngeschäft aus dem Projekt ausgestiegen. Daher sind wir aktuell auf der Suche nach einem neuen starken Wirtschaftspartner, welcher das Produkt mit uns gemeinsam auf den Markt bringt. Das Produkt ist nahezu serienreif, 200 Stück wurden produziert, die Matten werden in Kliniken getestet und der große Entwicklungsaufwand ist abgeschlossen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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