Roo­walk ver­hilft Kin­dern zu Mobi­li­tät und Teilhabe

Kinder wollen die Welt entdecken. Mit allen Sinnen. Auf allen Wegen. Mit ihrem gesamten Körper. Und ohne Grenzen. An dieser Neugier und diesem Entdeckerdrang ändert auch eine körperliche Beeinträchtigung nichts. Doch im Alltag stehen viele Kinder vor großen Hürden und sind auf Unterstützung angewiesen. Gehhilfen und Rollstühle sollen Selbstständigkeit und Teilhabe fördern, doch die haben laut Maria Enge und Benjamin Pardowitz entscheidende Mankos. Gemeinsam haben die beiden Ingenieure ein Hilfsmittel entwickelt, das genau diese Schwächen ausgleichen soll.

Roo­walk (abge­lei­tet vom eng­li­schen Wort „Kan­ga­roo“) ist eine elek­trisch ange­trie­be­ne Geh­hil­fe, die es Kin­dern mit neu­ro­mus­ku­lä­ren Erkran­kun­gen ermög­li­chen soll, frei­hän­dig und auf­recht zu ste­hen sowie mit weni­ger Anstren­gung und vor allem eigen­stän­dig zu gehen – und das in allen Lebens­si­tua­tio­nen, drin­nen und drau­ßen, auf Tep­pich, Gras und Kopf­stein­pflas­ter sowie trotz Bord­stei­nen und Tür­schwel­len. Inspi­ra­ti­on für die­se Idee war Par­do­witz‘ Nich­te, die Cere­bral­pa­re­se hat. „Wäh­rend mei­ne ande­ren Nich­ten und Nef­fen über die Wie­sen pesen, kann sie nur dane­ben­ste­hen. Sie kommt mit ihrem Rol­la­tor nicht ein­mal über eine Tür­schwel­le oder in einen Auf­zug hin­ein“, berich­tet er. In einem die­ser Momen­te mach­te es Klick und die Idee für Roo­walk war geboren.

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„Kin­der, die nicht die Fähig­keit haben, einen Rol­la­tor mit ihren Hän­den zu bedie­nen, sit­zen häu­fi­ger im Roll­stuhl als sie es müss­ten“, sagt Par­do­witz. Das schrän­ke nicht nur die Akti­vi­tä­ten ein, son­dern brin­ge oft kör­per­li­che Fol­ge­schä­den mit sich. Und selbst wer sei­ne Hän­de nut­zen kann, muss die­se zur Fort­be­we­gung mit dem Hilfs­mit­tel nut­zen. Durch Roo­walk blei­ben die Hän­de dage­gen frei. Und auch der Raum vor dem Kind. Ande­re Geh­hil­fen bil­den durch das Gestell rund­her­um eine Begren­zung. „Die Kin­der, die damit lau­fen, schaf­fen es viel­leicht bis zum Bücher­re­gal, kön­nen aber kein Buch grei­fen“, so Enge. Wie­der sind die Kin­der also auf die Unter­stüt­zung ihrer Bezugs­per­so­nen angewiesen.

Die Tech­no­lo­gie von Roo­walk beruht auf dem Prin­zip eines Seg­ways, also über einen selbst­ba­lan­cie­ren­den Antrieb. Mini­ma­le Bewe­gun­gen im Ste­hen wer­den aus­ge­pen­delt. Bewe­gen sich die Nutzer:innen dann z. B. nach vorn, deu­ten also eine Inten­ti­ons­be­we­gung an, fährt das Gerät auto­ma­tisch nach. Bei klas­si­schen Geh­hil­fen muss dage­gen mehr Kraft auf­ge­wen­det wer­den, um neben dem eige­nen Kör­per­ge­wicht auch noch das zusätz­li­che Gewicht der Geh­hil­fe fort­zu­be­we­gen. Wird dem Kind durch die­ses Prin­zip zu viel Mus­kel­ak­ti­vi­tät abge­nom­men? „Wir möch­ten nur so viel wie nötig unter­stüt­zen, und so wenig wie mög­lich“, sagt Enge. Ziel es ist viel­mehr, die Mus­kel­ak­ti­vi­tät lang­fris­tig sogar zu stei­gern. „Je öfter man bestimm­te Bewe­gungs­mus­ter wie­der­holt, des­to bes­ser fes­ti­gen sich die­se Mus­ter im Gehirn und des­to leich­ter fällt es, die Bewe­gun­gen auch unab­hän­gig von der Geh­hil­fe zu machen“, erläu­tert Par­do­witz das Prin­zip der Neu­ro­plas­ti­zi­tät. „So wer­den die Mus­keln trai­niert und Mas­se aufgebaut.“

Dadurch dass Sat­tel und Hüft­gurt anpass­bar sind, wächst Roo­walk über die Jah­re mit, kann aktu­ell von Kin­dern im Alter zwi­schen drei und zwölf ver­wen­det wer­den. Auch eine Ver­si­on für jün­ge­re Kin­der ist in Pla­nung. Für Par­do­witz ein Bei­trag zur Prä­ven­ti­on, denn: „Je mehr und je frü­her sich die Kin­der bewe­gen, des­to bes­ser.“ Künf­tig könn­te zudem eine Vari­an­te für Erwach­se­ne folgen.

Ziel ist, dass Roo­walk ein Gerät für den All­tag wird. Bei den ers­ten Anwen­dungs­be­ob­ach­tun­gen, die mit Kin­dern mit Cere­bral­pa­re­se gemacht wur­den, hat sich laut Enge aber her­aus­ge­stellt, dass zumin­dest der Start in einem The­ra­pie­set­ting deut­lich leich­ter fällt. Gemein­sam mit Physiotherapeut:innen kön­nen die ers­ten Schrit­te gemacht wer­den, das Kind kann sich an das Gerät gewöh­nen – vor allem an das neue Gefühl, zu ste­hen und eigen­stän­dig zu gehen, und das ohne zu fal­len. „Man­che Kin­der sind durch Rol­la­to­ren gewohnt, etwas in der Hand zu haben, und gewin­nen dadurch Sicher­heit. Jetzt haben sie plötz­lich die Hän­de frei und lau­fen mit einer Gehil­fe, die nicht starr ist“, sagt Enge. Das bedeu­tet auch, Ver­trau­en in das Gerät auf­bau­en zu müs­sen, sich zu trau­en, ver­schie­de­ne Bewe­gun­gen aus­zu­pro­bie­ren und fest­zu­stel­len, dass nichts pas­siert. Als hilf­reich hat es sich bei den Test­läu­fen erwie­sen, wenn die Eltern und Therapeut:innen der Kin­der dabei sind. Denn die kön­nen die Fähig­kei­ten ihres Kin­des gut ein­schät­zen, wis­sen, was mach­bar ist und was nicht. Denn: Der Grad der Unter­stüt­zung kann zwar indi­vi­du­ell nach den Bedürf­nis­sen und abhän­gig von der Tages­form des Kin­des ein­ge­stellt wer­den, aber bis­lang nur manu­ell. Dass Roo­walk auto­ma­tisch spürt, wie viel es unter­stüt­zen muss, dar­an arbei­tet das Team der­zeit noch. Und eben­falls dar­an, dass die Geh­hil­fe grö­ße­re Hür­den wie Trep­pen­stu­fen über­win­den kann. Aktu­ell sind bis zu sie­ben Zen­ti­me­ter mach­bar. Wäh­rend Roo­walk auf har­ten und wei­chen Unter­grün­den funk­tio­niert, steht der Test auf fei­nem Sand oder einer mat­schi­gen Wie­se noch aus. „Wir haben die Visi­on, dass Kin­der damit am Strand oder auf dem Spiel­platz lau­fen kön­nen“, blickt Par­do­witz Rich­tung Zukunft. Und zwar, weil genau sol­che Orte auch Sehn­suchtsor­te eines jeden Kin­des sind und sol­che Unter­grün­de ein ganz beson­de­res Gefühl unter den Füßen geben.

„Die Kin­der zum ers­ten Mal in der Geh­hil­fe ste­hen zu sehen, bei ihren ers­ten Schrit­ten dabei zu sein und das Strah­len in ihren Augen zu sehen – das sind unse­re schöns­ten Momen­te“, betont Enge. Ein Jun­ge tes­te­te das Gerät zunächst im Haus, anschlie­ßend drau­ßen auf der Wie­se und stell­te fest: Der Unter­grund macht kei­nen Unter­schied. Es fühlt sich leicht an, zu lau­fen. Durch sei­ne Test­läu­fe deu­tet sich ein wei­te­rer Vor­teil an: Wäh­rend der Jun­ge wäh­rend des Trai­nings mit sei­nem Phy­sio­the­ra­peu­ten nor­ma­ler­wei­se nur Geh­stre­cken zwi­schen 50 und 90 Metern bewäl­ti­gen konn­te, gelan­gen ihm beim drit­ten Trai­ning mit Roo­walk 350 Meter. „Das war für uns die Bestä­ti­gung, dass das Gerät tat­säch­lich leicht­gän­gi­ger ist und weni­ger Ener­gie ver­braucht wird“, berich­tet Par­do­witz. Nicht nur die Tech­nik, auch das Design kam gut an. „Cool“ und „spa­cig“ lau­te­te das Fazit der Kinder.

Die elektrisch angetriebene Gehhilfe soll Kindern Selbstständigkeit und Teilhabe ermöglichen. Illustration: Roowalk
Die elek­trisch ange­trie­be­ne Geh­hil­fe soll Kin­dern Selbst­stän­dig­keit und Teil­ha­be ermög­li­chen. Illus­tra­ti­on: Roowalk

Eben­falls das Feed­back von Ärzt:innen sowie Ergo- und Physiotherapeut:innen ist posi­tiv. Die Geh­hil­fe wür­de Frei­raum und gleich­zei­tig Sicher­heit ermög­li­chen, wodurch die Kin­der ler­nen, ihr Gleich­ge­wicht zu hal­ten. Zudem beton­ten die Therapeut:innen die auf­rech­te­re Hal­tung sowie die gestei­ger­te Geh­ge­schwin­dig­keit und Schritt­län­ge. Posi­tiv bewer­te­ten sie dar­über hin­aus, dass die Hän­de frei sind. Das Ball­spie­len moti­vier­te die Kin­der zusätz­lich zu mehr Bewegung.

Die Anwen­dungs­be­ob­ach­tun­gen die­sen als Basis für die Erar­bei­tung eines Stu­di­en­de­signs. In Zusam­men­ar­beit mit der Lud­wig-Maxi­mi­li­an-Uni­ver­si­tät Mün­chen (LMU) soll der medi­zi­ni­sche Nut­zen der Geh­hil­fe nach­ge­wie­sen wer­den. Der Fokus wird auf Kin­dern mit Cere­bral­pa­re­se, GMFCS-Level 3 und 4, mit einer Kör­per­grö­ße zwi­schen 80 und 130 Zen­ti­me­tern lie­gen. Ziel wird es dann sein, als Hilfs­mit­tel gelis­tet zu werden.

Neben den tech­ni­schen Her­aus­for­de­run­gen, die Par­do­witz und Enge noch bewäl­ti­gen wol­len, gilt es außer­dem, finan­zi­el­le Hür­den zu neh­men. Das Start-up freut sich über wei­te­re För­der­mit­tel­ge­ber, die zum Bei­spiel Tei­le der Stu­die mit­fi­nan­zie­ren. Unter­stüt­zung erhof­fen sich die bei­den fach­frem­den Inge­nieu­re auch direkt aus der Hilfs­mit­tel­bran­che. Und zwar mit Blick auf die Markt­ein­füh­rung. Denn noch tut sich auf dem Weg dort­hin immer wie­der dich­ter Nebel auf – sei es mit Blick auf die Zer­ti­fi­zie­rung als Medi­zin­pro­dukt nach der Euro­päi­schen Medi­zin­pro­duk­te­ver­ord­nung (MDR), mit Blick auf die Ein­sor­tie­rung ins Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis oder auf Mög­lich­kei­ten der Kostenerstattung.

Pia Engel­brecht

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