Ursa­chen und Reha­bi­li­ta­ti­on nicht-trau­ma­ti­scher Querschnittlähmungen

Mit 130 Behandlungsplätzen gilt das Querschnittgelähmten-Zentrum am BG Klinikum Hamburg als die größte Einrichtung in Deutschland für die Versorgung von Menschen mit Rückenmarkschäden. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erklärt Prof. Dr. med. Roland Thietje, seit 2006 Chefarzt des Zentrums und stellvertretender Ärztlicher Direktor des BG Klinikums sowie Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, Rettungsmedizin, Physikalische Therapie und Rehabilitationswesen, welche Ursachen zu einer Querschnittlähmung (QSL) führen können und was das für die Rehabilitation bedeutet.

OT: Wie vie­le Erst­be­hand­lun­gen an Ihrem Zen­trum gehen auf trau­ma­ti­sche und wie vie­le auf nicht-trau­ma­ti­sche Ursa­chen zurück?

Anzei­ge

Roland Thiet­je: Im Schnitt neh­men wir zwi­schen 230 und 280 Patient:innen für eine Erst­be­hand­lung pro Jahr auf. Davon haben etwa die Hälf­te trau­ma­ti­sche und die ande­re Hälf­te nicht-trau­ma­ti­sche Quer­schnitt­läh­mun­gen. Wobei das Jahr 2021 und das Jahr 2020 Aus­nah­men bil­de­ten: Durch die Covid-19-Pan­de­mie gab es eine ein­ge­schränk­te Mobi­li­tät und damit weni­ger dra­ma­ti­sche Unfäl­le, die Quer­schnitt­läh­mun­gen zur Fol­ge hat­ten. In den letz­ten ein­ein­halb Jah­ren über­wo­gen daher bei Erst­auf­nah­men Patient:innen mit krank­heits­be­ding­ten Rücken­mark­ver­let­zun­gen in unse­rem Zentrum.

OT: Was sind die häu­figs­ten Ursa­chen für nicht-trau­ma­ti­sche Querschnittlähmungen?

Thiet­je: Wir sehen seit Jah­ren eine kon­ti­nu­ier­li­che Stei­ge­rung bei den Fäl­len mit Infek­tio­nen in der Nähe des Rücken­marks. Die zweit­häu­figs­te Ursa­che sind Ein­blu­tun­gen ins Rücken­mark, zum Bei­spiel durch blut­ver­dün­nen­de Medi­ka­men­te, die immer häu­fi­ger gera­de älte­ren Men­schen ver­schrie­ben wer­den, oder Infark­te des Rücken­marks. An drit­ter Stel­le der Ursa­chen­häu­fig­keit tritt an unse­rer Kli­nik in den Rücken­mark­ka­nal metasta­sie­ren­der Krebs auf.

Mehr Erfah­rung – mehr Personal

OT: Inwie­weit wir­ken sich die ver­schie­de­nen Ursa­chen auf die Reha­bi­li­ta­ti­on aus? Gel­ten für alters­as­so­zi­ier­te Erkran­kun­gen, die QSL zur Fol­ge haben, nicht ande­re Behandlungsziele?

Thiet­je: Rücken­mark­ver­let­zun­gen sind bis heu­te nicht heil­bar. Bei unfall­be­ding­ten Quer­schnitt­läh­mun­gen ist das ers­te Ziel eine – soweit mög­lich – Repa­ra­tur der Wir­bel­säu­le als sta­bi­li­sie­ren­de Struk­tur, damit die Betrof­fe­nen früh­zei­tig mobi­li­siert wer­den und schnell mit der Reha­bi­li­ta­ti­on begin­nen kön­nen, um dann ein mobi­les und selbst­be­stimm­tes Leben zu füh­ren. Bei trau­ma­ti­schen Quer­schnitt­läh­mun­gen steht die Läh­mung mit ihren Begleit­erschei­nun­gen wie Bla­sen- und Darm­ma­nage­ment im Vor­der­grund. Wir kön­nen hier kla­re The­ra­pie­zie­le defi­nie­ren und siche­re Pro­gno­sen lie­fern. Viel kom­ple­xer sieht das bei den nicht-trau­ma­ti­schen Quer­schnitt­läh­mun­gen aus. In die­sen Fäl­len ist die kom­plet­te oder inkom­plet­te Läh­mung eine Fol­ge einer oder meh­re­rer Vor­er­kran­kun­gen, die bereits mit Ein­schrän­kun­gen von Herz, Kreis­lauf, Lun­ge oder auch kogni­ti­ver Fähig­kei­ten ein­her­gin­gen. Es braucht viel Erfah­rung im mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Team, alle Ursa­chen und deren Aus­wir­kun­gen zu erken­nen, um ein jeweils sinn­vol­les The­ra­pie­ziel zu for­mu­lie­ren und gemein­sam mit den Patient:innen sowie den Ange­hö­ri­gen umzu­set­zen. Schließ­lich haben die­se Patient:innen für vie­le klas­si­sche reha­bi­li­ta­ti­ve Maß­nah­men gar nicht mehr die Kraft und den Atem. Die indi­vi­du­el­len Zie­le müs­sen des­halb auch stän­dig über­prüft werden.

OT: Was bedeu­tet das für Ihr Querschnittgelähmten-Zentrum?

Thiet­je: Wir müs­sen viel mehr Auf­wand betrei­ben, brau­chen also inzwi­schen einen ganz ande­ren Per­so­nal­schlüs­sel als noch vor Jah­ren, als die trau­ma­ti­schen Quer­schnitt­läh­mun­gen ganz klar über­wo­gen. Wir brau­chen aber nicht nur mehr Mitarbeiter:innen, son­dern erfah­re­ne Mitarbeiter:innen. Letz­te­re sind schwer zu fin­den, Ers­te­res muss wirt­schaft­lich dar­stell­bar sein.

High­tech im OT-Trend

OT: Wel­che Rol­le spie­len Orthopädietechniker:innen bzw. tech­ni­sche Inno­va­tio­nen bei der Ver­sor­gung von Quer­schnitt­ge­lähm­ten an Ihrem Zentrum?

Thiet­je: Orthopädietechniker:innen sind schlicht und ergrei­fend unver­zicht­ba­re Part­ner in der Ver­sor­gung unse­rer Patient:innen. Das gilt für die Roll­stuhl­ver­sor­gung eben­so wie für die Ver­sor­gung mit Orthe­sen oder Geh­hil­fen. Natür­lich wir­ken sich die alters­as­so­zi­ier­ten Ursa­chen für Rücken­mark­ver­let­zun­gen auch in die­sem Bereich aus. Wer über weni­ger Kraft und Luft für die Reha­bi­li­ta­ti­on ver­fügt, kann nicht selbst einen Roll­stuhl antrei­ben. Bei älte­ren Patient:innen beob­ach­ten wir daher den Trend zur Ver­sor­gung mit elek­tri­schen Roll­stüh­len, wenn eine kom­plet­te Quer­schnitt­läh­mung vor­liegt. In vie­len Fäl­len füh­ren Rücken­mark­ver­let­zun­gen „nur“ zu inkom­plet­ten Läh­mun­gen. Die­se Patient:innen ver­fü­gen über ein­ge­schränk­te Geh- und Steh­funk­tio­nen. Sie brau­chen von Orthopädietechniker:innen Geh­wa­gen, Rol­la­to­ren, Ein­la­gen oder Orthe­sen, wobei intel­li­gen­te Orthe­sen zuneh­mend an Bedeu­tung gewin­nen. Die gro­ße Kunst der Orthopädietechniker:innen als Leis­tungs­er­brin­ger besteht dar­in, die Men­schen sach­ge­recht zu ver­sor­gen. Die teu­ers­te High­tech-Ver­sor­gung bringt nichts, wenn Patient:innen damit nicht umge­hen kön­nen oder wol­len. Wir dür­fen weder die Patient:innen noch die Soli­dar­ge­mein­schaft der Kran­ken­kas­sen­mit­glie­der als Kos­ten­trä­ger überfordern.

Kom­pe­ten­zen bündeln

OT: Wo sehen Sie Ver­bes­se­rungs­po­ten­zia­le für die Behand­lung und Ver­sor­gung von quer­schnitt­ge­lähm­ten Patient:innen in Deutschland?

Thiet­je: In allen für die Ver­sor­gung von Patient:innen mit Quer­schnitt­läh­mun­gen rele­van­ten Berei­chen schlum­mern Poten­zia­le: In unse­ren Zen­tren könn­te weit mehr Per­so­nal arbei­ten, wenn nicht das Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot unmit­tel­ba­ren Ein­fluss auf die Per­so­nal­dich­te hät­te. Auch bei der ambu­lan­ten Heil- und Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung sehe ich durch­aus Luft nach oben. Der Spa­gat zwi­schen sach­ge­rech­ter Ver­sor­gung und Wirt­schaft­lich­keit gelingt nicht immer. Mein Lieb­lings­the­ma: Die Ver­net­zung aller Leis­tungs­er­brin­ger unter­ein­an­der hat noch immer zu vie­le Lücken. Aus der man­geln­den oder man­gel­haf­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on ent­ste­hen nicht immer pas­sen­de und den­noch teu­re­re Ver­sor­gun­gen. Im vier­ten Bereich – der ambu­lan­ten Pfle­ge – wün­sche ich mir auch kon­text­be­zo­ge­ne­re Betreu­ung, die die gesam­te Kom­ple­xi­tät der Erkran­kun­gen berücksichtigt.

OT: Was könn­ten Poli­tik und Ver­bän­de tun, um die­se Poten­zia­le auszuschöpfen?

Thiet­je: Mir mei­nen Traum von einem Medi­zi­ni­schen Zen­trum zur Behand­lung von Men­schen mit Mehr­fach­be­hin­de­rung (MZEB) an unse­rem Quer­schnitt­ge­lähm­ten-Zen­trum erfül­len (lacht, Anm. der Red.). Im Ernst, an einem sol­chen Zen­trum könn­ten wir den uns ja bereits in ihrer gan­zen Kom­ple­xi­tät bekann­ten Fäl­len eine ambu­lan­te Ver­sor­gungs­struk­tur mit allen not­wen­di­gen Leis­tungs­er­brin­gern bis hin zur Ernäh­rungs­be­ra­tung anbie­ten. Erfah­run­gen und Kom­pe­ten­zen des Kli­nik­teams könn­ten direkt in die wei­te­re Ver­sor­gung der Patient:innen flie­ßen. Natür­lich muss auch ein sol­ches Zen­trum wirt­schaft­lich betrie­ben wer­den. Es wür­de sich aber auch für die Kos­ten­trä­ger rech­nen. Vie­le Ver­bän­de, die sich für die Belan­ge von Men­schen mit Behin­de­run­gen ein­set­zen, waren in den letz­ten Jah­ren unglaub­lich aktiv. Sie haben sich unter­ein­an­der und mit poli­ti­schen Vertreter:innen ver­netzt. Es bedarf die­ser Soli­da­ri­sie­rung aller Betei­lig­ten, um mit kon­zer­tier­ten Aktio­nen zur poli­ti­schen Ebe­ne durch­zu­drin­gen. Denn nur gemein­sam kön­nen wir die Bedar­fe bes­ser for­mu­lie­ren und gegen­über Poli­tik und Kos­ten­trä­gern trans­por­tie­ren. Getreu mei­nem Cre­do: Nicht kla­gen, son­dern kon­struk­ti­ve Ideen ent­wi­ckeln. Auf die­se Wei­se fal­len Ideen auf frucht­ba­ren Boden.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

Hin­ter­grund­wis­sen
Rund 140.000 Men­schen leben nach Schät­zun­gen aus dem Jahr 2019 der Deutsch­spra­chi­gen Medi­zi­ni­schen Gesell­schaft für Para­ple­gio­lo­gie e. V. (DMGP), des Deut­schen Roll­stuhl-Sport­ver­ban­des e. V. (DRS), der Deut­schen Stif­tung Quer­schnitt­läh­mung (DSQ) und der För­der­ge­mein­schaft der Quer­schnitt­ge­lähm­ten in Deutsch­land e. V. (FGQ) in Deutsch­land mit einer Quer­schnitt­läh­mung. Hin­zu kom­men zwi­schen 2.300 und 2.500 Men­schen mit neu erwor­be­nen Rücken­mark­schä­di­gun­gen pro Jahr.* Nach Anga­ben der Fach­ge­sell­schaf­ten und Ver­bän­de über­wo­gen 2018 mit 55 Pro­zent erst­mals die durch Erkran­kun­gen ver­ur­sach­ten nicht-trau­ma­ti­schen Quer­schnitt­läh­mun­gen. Der Anteil an den neu­en Quer­schnitt­läh­mun­gen, die durch Unfäl­le – also trau­ma­tisch – ent­stan­den, ging auf 45 Pro­zent zurück. Das durch­schnitt­li­che Ein­tritts­al­ter in die Quer­schnitt­läh­mung stieg zwi­schen 1995 und 2018 von 34,6 Jah­ren auf 60,5 Jah­ren an. *Mehr Infor­ma­tio­nen zum The­ma „nicht-trau­ma­ti­scher Quer­schnitt“ fin­den Sie in der Herbst-Aus­ga­be des Maga­zins „Der PARA­ple­gi­ker“.

 

 

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