Inno­va­ti­ons­be­schleu­ni­ger in der DDR

Vor 31 Jahren, am 3. Oktober 1990, trat die Deutsche Demokratische Republik (DDR) der Bundesrepublik Deutschland (BRD) bei. Der Tag der Deutschen Einheit steht auch für die Einheit des Orthopädietechnik-Handwerks. „Es gab einige technische Innovationen, die wir nach dem Ende der DDR durchaus vermisst haben“, blickt Baldur Berg, der 1983 seine Ausbildung zum Orthopädiemechaniker im väterlichen Betrieb in Salzwedel begann, auf die Transformation von der DDR zur BRD zurück.

Zu den von ihm zunächst ver­miss­ten Inno­va­tio­nen gehör­ten Ver­schie­be­ad­ap­ter und Brust­pro­the­sen. „Die Adap­ter für die Modu­lar­pro­the­sen – in der DDR Rohr­ske­let­te genannt – konn­ten in zwei Rich­tun­gen ver­scho­ben wer­den. Als Otto­bock uns 1990 erst­mals sei­ne Adap­ter vor­stell­te, war ich daher erstaunt, dass die­se nicht zu ver­schie­ben waren“, erzählt Berg. „Zum Glück gibt es längst wie­der ver­schieb­ba­re Adap­ter auf dem Markt.“

Eben­so über­rascht war der Ortho­pä­die­me­cha­ni­ker-Meis­ter, dass die in der DDR genutz­ten Brust­pro­the­sen ver­schwan­den, bei denen sich das Volu­men über die Luft­zu­fuhr per Ven­til in der Rück­sei­te der Pro­the­se pass­ge­nau regeln ließ. „Fast 30 Jah­re nach dem Zer­fall der DDR woll­te mir ein Ver­tre­ter eines Brust­pro­the­sen­her­stel­lers die­ses Prin­zip als Welt­pre­mie­re vor­stel­len. Er schien tat­säch­lich nichts von der Vor­ge­schich­te die­ser Er­ndung zu wis­sen“, so Berg.

OTB und VEB König­see als Innovationsbeschleuniger

Die erwähn­te Brust­pro­the­se stamm­te – wie zahl­rei­che ande­re DDR-Inno­va­tio­nen – aus dem 1953 gegrün­de­ten Leit­be­trieb Ortho­pä­die­tech­nik Ber­lin (OTB). Als Aus­zu­bil­den­der besuch­te Berg mit sei­ner Ost-Ber­li­ner Berufs­schul­klas­se Mit­te der 1980er-Jah­re die OTB-Pro­duk­ti­ons­stät­te. Kos­me­ti­sche Hand­pro­the­sen mit Hand­schu­hen sowie Sto­ma­beu­tel sei­en dort eben­falls gefer­tigt wor­den. „Die Hand­schu­he ent­stan­den nach Sili­kon­ab­drü­cken von Mit­ar­bei­ter­hän­den, nach denen die ver­schie­de­nen Grö­ßen dann bei­spiels­wei­se Nor­bert, Her­bert oder James hie­ßen“, so Berg.

Im Bereich der Arm­pro­the­tik gab es von der OTB drei Ver­sor­gun­gen zur Aus­wahl, wie er berich­tet: eine kos­me­ti­sche pas­si­ve Arm­pro­the­se, eine funk­tio­nel­le Unter­arm­pro­the­se mit Kraft­zug­ban­da­ge über einen Schul­ter­gurt, sodass sich die Hand öff­nen oder schlie­ßen ließ, sowie die Ober­arm­pro­the­se Myoelektrik.

Zu den Inno­va­ti­ons­be­schleu­ni­gern der DDR gehör­te auch der VEB König­see Ortho­pä­die Tech­nik, der aus dem 1948 ent­eig­ne­ten Unter­neh­men Ortho­pä­di­sche Indus­trie Otto Bock ent­stan­den war. Der VEB in Thü­rin­gen habe ein modu­lar auf­ge­bau­tes Rohr­ske­lett aus Metall im Pro­gramm gehabt, an das mit dem oben genann­ten Schie­be­ad­ap­ter Knie- und Ober­schen­kel- oder Hüft­mo­du­le aus Holz oder Faser­ver­bund­stof­fen andock­bar waren. „Im Wes­ten wur­de das Modu­lar­pro­the­se genannt“, erklärt Berg. „Grund­sätz­lich war der Auf­bau gleich.“

MDR hemmt Innovationskraft

Im Hin­blick auf die heu­ti­ge Inno­va­ti­ons­kraft ein­zel­ner Sani­täts­häu­ser und ihrer Mitarbeiter:innen zeigt sich Berg skep­tisch: „Ange­sichts des hohen Niveaus indus­tri­ell gefer­tig­ter Pass­tei­le lohnt es sich für ein­zel­ne Sani­täts­häu­ser nicht mehr, eige­ne Ent­wick­lun­gen anzu­stre­ben. Die mit der Ein­füh­rung der euro­päi­schen Medi­zin­pro­duk­te-Ver­ord­nung (Medi­cal Device Regu­la­ti­on – MDR) ver­bun­de­nen Regu­la­ri­en hem­men die Moti­va­ti­on zusätzlich.“

Vor allem aber ver­mis­se er die deut­lich ein­fa­che­re Ver­wal­tung, die zu DDR-Zei­ten herrsch­te. Ledig­lich die Erst­ver­sor­gung nach einer Ampu­ta­ti­on ver­ord­ne­ten Fachärzt:innen für Ortho­pä­die. „Alles Wei­te­re wie Repa­ra­tur von Pro­the­sen oder Orthe­sen ging direkt über uns“, erklärt Berg, der inzwi­schen beim Sani­täts­haus Bal­dur Berg die Geschäf­te führt. Im Ver­si­che­rungs­aus­weis, den alle DDR-Bürger:innen besa­ßen, wur­den alle Ver­sor­gun­gen bzw. Repa­ra­tu­ren notiert – leicht nach­voll­zieh­bar für die Mitarbeiter:innen der Sani­täts­häu­ser. Auf die­ser Grund­la­ge wur­den Repa­ra­tu­ren vor­ge­nom­men oder neue Hilfs­mit­tel her­aus­ge­ge­ben. Die Kos­ten für Repa­ra­tu­ren wur­den direkt mit den Kran­ken­kas­sen abge­rech­net. „Für neue Hilfs­mit­tel muss­ten wir zwar Kos­ten­vor­anschlä­ge bei der Kran­ken­kas­se ein­rei­chen, konn­ten aber im per­sön­li­chen Gespräch mit den Krankenkassenmitarbeiter:innen unse­re geplan­te Vor­ge­hens­wei­se erläu­tern, sodass wir schnell und unkom­pli­ziert eine Geneh­mi­gung für die jewei­li­ge Neu­ver­sor­gung erhiel­ten“, so der Ober­meis­ter der Lan­des­in­nung für Ortho­pä­die-Tech­nik Sach­sen-Anhalt. „Zuzah­lun­gen gab es in der DDR nicht. Als ab dem Jahr 1997 auf bestimm­te Hilfs­mit­tel eine zwan­zig­pro­zen­ti­ge Zuzah­lung und ab 2004 eine Zuzah­lung zu Hilfs­mit­teln in Höhe von fünf bis zehn Euro erho­ben wur­de, stieß das bei etli­chen Men­schen, die in der DDR gelebt hat­ten, auf gro­ßes Unver­ständ­nis“, betont Berg.

Ruth Jus­ten

Zur Per­son
Bal­dur Berg über­nahm 2001 den 1974 gegrün­de­ten väter­li­chen Betrieb in Salz­we­del, zunächst gemein­sam mit sei­nem Bru­der Kars­ten und seit 2006 allei­ne. Der Ortho­pä­die­me­cha­ni­ker-Meis­ter sitzt seit 2001 im Vor­stand der Lan­des­in­nung für Ortho­pä­die-Tech­nik Sach­sen-Anhalt und ist seit 2014 deren Ober­meis­ter. Die Lan­des­in­nung wur­de am 3. Novem­ber 1990 gegrün­det. Bal­dur Berg war zudem von 2011 bis 2020 Vor­stands­mit­glied des Bun­des­in­nungs­ver­ban­des für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT). Das Sani­täts­haus Bal­dur Berg ver­eint aktu­ell 28 Mitarbeiter:innen an sechs Standorten. 
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