Reha­bi­li­ta­ti­on und ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung eines Pati­en­ten mit Contergan-Dysmelie

Th. Spiekerkötter, H.-J. Hesselschwerdt
Die hier vorgestellte Fallbeobachtung dokumentiert den Rehabilitationsverlauf eines Patienten mit Tetraphokomelie über einen Zeitraum von vier Monaten. Beginnend mit dem klinischen Status beschreibt der Artikel den Rehabilitationsverlauf einschließlich physiotherapeutischer Maßnahmen und orthopädietechnischer Neuversorgung mit bilateralen Orthoprothesen. Ferner wird das interdisziplinäre Behandlungsverfahren beschrieben, das zu einer erfolgreichen Rehabilitation bei einem so herausfordernden Fall beitragen konnte.

Vor­ge­schich­te

Der Pati­ent war mit ange­bo­re­ner Tetra­pho­ko­me­lie (Fehl­bil­dung aller Extre­mi­tä­ten; Ursa­che in die­sem Fall: Con­ter­gan) mit ver­kürz­ten obe­ren und unte­ren Glied­ma­ßen mit­tels zwei­er Orthop­ro­the­sen und einem Hand­stock jah­re­lang geh­fä­hig und übte sei­nen Beruf als Leh­rer aus. Die dama­li­ge Kon­fi­gu­ra­ti­on beinhal­te­te zwei C‑Legs® mit 1C40-C-Walk®-Füßen und Gieß­harz­schäf­ten in Zwei-Scha­len-Tech­nik mit Klett­ver­schlüs­sen (Abb. 1). In den Pha­sen ohne Orthop­ro­the­sen war der Pati­ent mit ver­mehr­tem Ein­satz der obe­ren Extre­mi­tä­ten roll­stuhl­mo­bil. Durch die dar­aus resul­tie­ren­de Über­be­an­spru­chung ent­wi­ckel­ten sich im Lau­fe der Zeit Schul­ter­ge­lenks­ar­thro­sen beid­seits, was im Jahr 2012 zur Implan­ta­ti­on einer Ober­flä­chen­er­satz­pro­the­se links führ­te. Nach der Schul­ter­ope­ra­ti­on war eine län­ge­re Scho­nung der Weich­tei­le erfor­der­lich, sodass Mobi­li­tät mit­tels der Orthop­ro­the­sen nicht mehr gege­ben war; der Pati­ent war nur noch auf den Roll­stuhl ange­wie­sen und muss­te sei­ne Berufs­tä­tig­keit einstellen.

Anzei­ge

In der Fol­ge kam es zu einem ver­mehr­ten Ver­lust der kör­per­li­chen Trai­niert­heit, und es kamen psy­cho­lo­gi­sche Dekom­pen­sa­tio­nen hin­zu, die zusätz­lich zur Ein­schrän­kung der Mobi­li­tät führ­ten. Im Sep­tem­ber 2016 befand sich der Pati­ent zur sta­tio­nä­ren Behand­lung im Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Frei­burg bei Lak­ta­ta­zi­do­se (Krank­heits­zu­stand mit nied­ri­gem pH-Wert in Gewe­be und Blut durch ver­mehr­ten Gehalt von Lak­tat, des Anions der Milch­säu­re) und Hypo­na­tri­ämie (zu nied­ri­ge Natri­um­kon­zen­tra­ti­on im Blut­se­rum) bei schwe­rer Exsik­ko­se (Aus­trock­nung durch Abnah­me des Kör­per­was­sers) sowie C2-Into­xi­ka­ti­on (Etha­nol­ver­gif­tung). Eine inten­siv­me­di­zi­ni­sche Ver­sor­gung mit Intu­ba­ti­on wur­de erfor­der­lich, eine Aspi­ra­ti­ons­pneu­mo­nie (Lun­gen­ent­zün­dung durch ein­ge­at­me­ten Magen­in­halt) wur­de erfolg­reich anti­bio­tisch saniert.

Da bei dem geschwäch­ten Pati­en­ten (Bart­hel-Index 50) eine Ent­las­sung nach Hau­se zunächst nicht mög­lich war, erfolg­te die Ent­las­sung in die Kurz­zeit­pfle­ge und von dort aus acht Wochen spä­ter die Ver­le­gung in die The­re­si­en­kli­nik Bad Kro­zin­gen zur wei­te­ren ortho­pä­di­schen Anschlussrehabilitation.

Reha­bi­li­ta­ti­on

Zur sta­tio­nä­ren Auf­nah­me in die Reha­kli­nik kam der 55-jäh­ri­ge Pati­ent als Lie­gend­trans­port; als ein­zi­ges Hilfs­mit­tel brach­te er einen Elek­tro­roll­stuhl mit Joy­stick-Steue­rung mit. Zwei Hand­stö­cke und die Orthop­ro­the­sen befan­den sich in der Woh­nung des Pati­en­ten und waren seit über drei Jah­ren nicht mehr benutzt wor­den. Die Zim­mer­mo­bi­li­tät war ein­ge­schränkt; der Trans­fer von der Unter­su­chungs­lie­ge zum Roll­stuhl und zur Toi­let­te war anfangs nur durch Hilfs­per­so­nen mög­lich, ver­bes­ser­te sich aber nach weni­gen Tagen deut­lich. Wei­te­re Befunde:

  • Obe­re Extre­mi­tä­ten: Hän­de mit Klump­hand­stel­lung rechts bei ver­kürz­tem Unter­arm und 4 Lang­fin­gern (Greif­funk­ti­on zwi­schen „Zei­ge­fin­ger“ und übri­gen 3 Lang­fin­gern); links stär­ke­rer und län­ge­rer Unter­arm, gerin­ge­re Klump­hand­stel­lung mit annä­hernd nor­ma­ler 4‑fingriger Hand mit Dau­men­ru­di­ment (Abb. 2)
  • Beweg­lich­keit bei­der Schul­ter­ge­len­ke bei 90° Ante­ver­si­on beid­sei­tig und 100°–150° Abduk­ti­on rechts bzw. links eingeschränkt
  • Unte­re Extre­mi­tä­ten: kur­ze, schmäch­ti­ge Ober­schen­kel, rechts klei­ner als links; es feh­len bei­de Unter­schen­kel; Poly­dak­ty­lie (Auf­tre­ten über­zäh­li­ger Fin­ger und Zehen) mit dop­pel­ter Groß­ze­hen­an­la­ge rechts und Hep­tad­ak­ty­lie links (Vor­han­den­sein von sie­ben Zehen); Bein­län­ge von Spi­na ili­a­ca ante­rior supe­ri­or bis Fuß­spit­ze rechts 35, links 45 cm (Abb. 3).
  • Beweg­lich­keit in bei­den sub­lu­xier­ten Hüft­ge­len­ken durch Beu­ge­kon­trak­tu­ren eingeschränkt

Mit dem Ergeb­nis der Schul­ter-OP war der Pati­ent bis­lang zufrie­den gewe­sen, es bestan­den jedoch schon seit Län­ge­rem Beschwer­den im Bereich der rech­ten Schul­ter mit zuneh­men­der Inten­si­tät, ver­bun­den mit einer erheb­li­chen Bewe­gungs­ein­schrän­kung. Des Wei­te­ren klag­te der Pati­ent über aus­ge­präg­te Schmer­zen im Bereich des gesam­ten Rückens.

Auf­grund der defor­mier­ten und ver­kürz­ten obe­ren und unte­ren Extre­mi­tä­ten erwies sich nur eine indi­vi­du­el­le Ein­zel­the­ra­pie mit Phy­sio- und Ergo­the­ra­peu­ten als ziel­füh­rend. Ergän­zen­de bal­neo­phy­si­ka­li­sche Maß­nah­men (deto­ni­sie­ren­de Elek­tro­the­ra­pie, Locke­rungs­mas­sa­gen, loka­le Wär­me und Bäder) waren zur Mit­be­hand­lung der dege­ne­ra­ti­ven Wir­bel­säu­len­be­schwer­den vorgesehen.

Ein­schät­zung nach ICF

Bei Tetra­pho­ko­me­lie mit Poly­dak­ty­lie ist der Pati­ent bis­her auf einen E‑Rollstuhl ange­wie­sen. Ent­spre­chend bestehen Ein­schrän­kun­gen im Bereich Akti­vi­tä­ten und Teil­ha­be, ins­be­son­de­re im Bereich der Mobi­li­tät. Ansons­ten ist der Pati­ent selbst­stän­dig mobil.

Reha-Zie­le nach ICF

Kör­per­funk­tio­nen und ‑struk­tu­ren:

  • Kräf­ti­gung der Rumpf­mus­ku­la­tur, Ver­bes­se­rung der seg­men­ta­len Sta­bi­li­tät und Entfaltbarkeit
  • Ver­bes­se­rung der Sen­so­mo­to­rik und der phy­sio­lo­gi­schen Bewegungsmuster
  • Regu­lie­rung gestör­ter neu­ro­mus­ku­lä­rer und vege­ta­ti­ver Funktionen

Akti­vi­tä­ten und Teilhabe:

  • Ermög­li­chen der Teil­nah­me am Gemein­schafts­le­ben, Abbau von Teilhabe-Barrieren
  • Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung durch Neu­an­pas­sung von 2 Orthop­ro­the­sen mit mikro­pro­zes­sor­un­ter­stütz­ter Stand­pha­sen­si­che­rung und hydrau­li­schen Knöchelgelenken
  • Hal­tungs­kor­rek­tur, Ein­üben öko­no­mi­scher Haltung

Ortho­pä­die­tech­ni­sche Anamnese

Nach­dem in den ers­ten Tagen der Reha­bi­li­ta­ti­on als Behand­lungs­ziel zunächst die Ver­bes­se­rung der Roll­stuhl­mo­bi­li­tät mit all­ge­mei­ner Mus­kel­kräf­ti­gung und Rob­orie­rung ver­folgt wur­de, wur­de im Rah­men einer aus­führ­li­chen Erör­te­rung am 16.11.2016 das Reha-Ziel einer Wie­der­errei­chung der Ver­sor­gungs­fä­hig­keit mit zwei Orthop­ro­the­sen fest­ge­legt. Durch die feh­len­de Nut­zung der Orthop­ro­the­sen in den ver­gan­ge­nen drei­ein­halb Jah­ren war die Mög­lich­keit einer erneu­ten ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung auch ange­sichts der erwor­be­nen Hüft­beu­ge­kon­trak­tur und der all­ge­mei­nen Schwä­chung zunächst unsicher.

Nach ers­ten Gesprä­chen über die tech­ni­sche Mach­bar­keit mit dem aus­füh­ren­den Ortho­pä­die-Tech­ni­ker und über die erfor­der­li­che psy­chi­sche und phy­si­sche Kraft­an­stren­gung bezüg­lich des „Pro­jekts Neu­ver­sor­gung“ mit dem Pati­en­ten und den Phy­sio­the­ra­peu­ten wur­de eine Neu­ver­sor­gung mit zwei Orthop­ro­the­sen in Auf­trag gege­ben. Auf­grund der bekann­ten Ein­schrän­kun­gen des Pati­en­ten (Dys­me­lie aller Extre­mi­tä­ten, Sub­lu­xa­ti­on bei­der Hüf­ten durch ana­to­misch beding­te man­geln­de Aus­prä­gung der Hüft­ge­len­ke (Abb. 4), Funk­ti­ons­ein­schrän­kun­gen der Hän­de) galt es somit eine Pass­teil­kom­bi­na­ti­on zu ermit­teln, die aus­rei­chend sicher und mobi­li­täts­ge­recht auf die Erfor­der­nis­se im Hand­ling ein­geht. Der Pati­ent wur­de als poten­zi­ell ein­ge­schränk­ter Außen­be­reichs­ge­her in die Mobi­li­täts­klas­se 2 ein­ge­stuft. Somit wur­de bezüg­lich der tech­ni­schen Merk­ma­le der neu­en Pro­be­ver­sor­gung fol­gen­de Pass­teil­kon­fi­gu­ra­ti­on festgelegt:

  • Schaft­tech­nik basie­rend auf der vor­he­ri­gen Ver­sor­gung in Zwei-Scha­len-Tech­nik mit Anstüt­zung der Tuber ischia­di­ci wegen Sub­lu­xa­ti­on bei­der Hüf­ten und Femur­dys­pla­sie rechts; mög­li­che Ver­bes­se­rung der Verschlusstechnik
  • Pro­the­senknie mit mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­ter, hydrau­li­scher Stand­pha­sen­si­che­rung zur maxi­ma­len Siche­rung des Pati­en­ten (Stol­per­schutz) und varia­bler Ein­stel­lung der Schwung­pha­sen­frei­ga­be sowie Mög­lich­keit des kon­trol­lier­ten Hinsetzens
  • mobi­li­täts­ge­rech­te pneu­ma­ti­sche Schwung­pha­sen­steue­rung für ein opti­mier­tes Ener­gie­ma­nage­ment hin­sicht­lich der Gang­effi­zi­enz wegen ein­ge­schränk­ter Mobilität
  • hydrau­li­sche Knö­chel­ge­len­ke zum Ermög­li­chen einer bes­se­ren Balan­ce auch auf unebe­nem Grund; Reduk­ti­on der Gelenk­mo­men­te auf Schrä­gen 1; Erhö­hung der Boden­frei­heit zur Min­de­rung von Sturz­ge­fah­ren und Ver­bes­se­rung der Ener­gie­aus­beu­te 2
  • Ein­bau manu­el­ler Rota­ti­ons­ad­ap­ter zur Transferverbesserung

Aus­ge­hend von die­sen Vor­ga­ben erwies sich die Aus­wahl an denk­ba­ren Pass­teil­kon­fi­gu­ra­tio­nen am Markt als überschaubar:

  • Knie­ge­lenk Plié 3® mit Pro­the­sen­fuß Kin­ter­ra® von der Fir­ma Free­dom Innovations
  • Knie­ge­lenk Ori­on 3® mit Pro­the­sen­fuß Ava­lon® von der Fir­ma Endolite

Zwar wäre auch die Ver­wen­dung des Kenevo®-Kniegelenks der Fir­ma Otto Bock denk­bar gewe­sen – lei­der wur­de zum Ver­sor­gungs­zeit­punkt jedoch kein hydrau­li­sches Knö­chel­sys­tem ange­bo­ten, das mit die­sem Knie nach Her­stel­ler­vor­ga­ben kom­bi­nier­bar oder mobi­li­täts­ge­recht ein­ge­stuft gewe­sen wäre.

Reha-Ver­lauf und ortho­pä­die­tech­ni­sche Versorgung

Am 25.11.2016 wur­de eigen­in­itia­tiv mit der Anpas­sung eines tuber­an­stüt­zen­den Schaft­sys­tems begon­nen und der Kos­ten­vor­anschlag an die betei­lig­ten Kos­ten­trä­ger wei­ter­ge­lei­tet. Nach Fer­tig­stel­lung der Test­schäf­te wur­de zunächst die Pass­teil­kon­fi­gu­ra­ti­on der Fir­ma Free­dom Inno­va­tions in einem zwei­wö­chi­gen Test­zy­klus mit beglei­ten­der Phy­sio­the­ra­pie und Gang­schu­lung aus­pro­biert. Der Pati­ent wur­de zuneh­mend kräf­ti­ger; es gelang eine Remo­bi­li­sa­ti­on zunächst im Bar­ren und spä­ter am Geh­wa­gen. Hier­durch waren Lauf­we­ge von bis zu 100 Metern mög­lich. Im wei­te­ren Ver­lauf der The­ra­pie wur­den die Weg­stre­cken länger.

Auf Betrei­ben eines vom Kos­ten­trä­ger ein­ge­schal­te­ten bera­ten­den Unter­neh­mens wur­de eine ver­gü­te­te Tes­tung des Endo­li­te-Pro­the­sen­sys­tems ange­regt und ein wei­te­rer Pro­the­sen­test ange­schlos­sen. Dadurch kam es zu einer gewis­sen Ver­zö­ge­rung in der Pro­the­sen­ge­brauchs­schu­lung durch den Pati­en­ten. Das Pro­gram­mie­ren des Aus­lö­se­punk­tes der Knie stell­te sich wegen der gerin­gen Geh­ge­schwin­dig­keit von 2 km/h all­ge­mein als gro­ße Her­aus­for­de­rung dar: Einer­seits ist eine maxi­ma­le Siche­rung des Pati­en­ten gebo­ten, ande­rer­seits will man eine Schwung­pha­se bei jedem Schritt und auch bei gerin­gen initia­len Impul­sen ermög­li­chen. Hier wur­den bei bei­den Knie­sys­te­men Grenz­be­rei­che ermittelt.

Nach­dem der Pati­ent mit dem alter­na­ti­ven Sys­tem sechs Tage lang ers­te Erfah­run­gen gesam­melt hat­te, wur­de bei der Zwi­schen­be­spre­chung aller Betei­lig­ten fest­ge­stellt, dass der Sys­tem­wech­sel auf die vor­ge­schla­ge­ne Pass­teil­kon­fi­gu­ra­ti­on Ori­on 3® mit Ava­lon® als posi­tiv und ziel­füh­rend wahr­ge­nom­men wur­de: Das Sys­tem bie­tet eine zusätz­li­che Stand­si­cher­heit im Knie­ge­lenk durch einen „Einfrier“-Modus (sichern­de Steh­funk­ti­on) und leich­te Hand­lings­vor­tei­le wegen des fest ein­ge­bau­ten Akkus. Ein ent­spre­chen­der neu­er Kos­ten­vor­anschlag wur­de am 23.01.2017 bei den Kos­ten­trä­gern eingereicht.

Im wei­te­ren Ver­lauf waren einer­seits täg­li­che inten­si­ve phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Behand­lun­gen zur Funk­ti­ons­er­wei­te­rung der gelenk­füh­ren­den Extre­mi­tä­ten sowie eine Mus­kel­kräf­ti­gung und Aus­dau­er­stei­ge­rung not­wen­dig. Par­al­lel ver­lie­fen Anpas­sungs­ar­bei­ten mit Abstim­mun­gen der Knie­pro­gram­mie­rung und Auf­bau­re­gu­lie­run­gen. Es wur­den zwei Paar Pro­be­schäf­te gefer­tigt, um eine beschwer­de­freie Basis für die Defi­ni­tiv­ver­sor­gung zu erzie­len. Gegen Ende der vier­wö­chi­gen Test­pha­se waren bis zu 300 Meter lan­ge Weg­stre­cken auch im Außen­be­reich auf unebe­nem Grund unter Ver­wen­dung eines lan­gen Geh­stocks rechts und eines Fritz-Stocks links mög­lich. Der Pati­ent war in der Lage, frei zu ste­hen, und konn­te die Pro­the­sen selbst­stän­dig an- und able­gen – aller­dings erschien die Lösung mit Klett­ver­schlüs­sen am Schaft wegen der Funk­ti­ons­de­fi­zi­te bei­der Hän­de nicht sehr prak­ti­ka­bel. Für die Defi­ni­tiv­ver­sor­gung soll­te also ein Ver­schluss­sys­tem ermit­telt wer­den, wel­ches das Anle­gen der Pro­the­sen deut­lich erleichtert.

Defi­ni­tiv­ver­sor­gung

Am 26.01.2017 wur­de mit der Fer­ti­gung der Defi­ni­tiv­ver­sor­gung begon­nen. Die Schäf­te aus Koh­le­fa­ser­la­mi­nat wur­den auf Basis der vor­her aus PETG gefer­tig­ten Pro­be­schäf­te erstellt. Die­se wie­der­um waren mit kon­ven­tio­nel­ler Gips­tech­nik in Bauch­la­ge in Spitz­fuß­stel­lung erstellt wor­den. Der Ver­schluss der Zwei-Scha­len-Schäf­te soll­te mit ein­la­mi­nier­ten BOA®-Systemen gefer­tigt wer­den. Durch Dre­hen des Ver­schluss­knop­fes ver­kürzt sich die durch­lau­fen­de Kor­del und ver­schließt so dosiert und sicher die bei­den Schaft­scha­len, die mit 3 mm Tepe­fom fest aus­ge­pols­tert sind. Die Hand­ha­bung ist dadurch für den Pati­en­ten deut­lich ver­ein­facht (Abb. 5a–c). Die Orion‑3®- Pro­the­senknie­ge­len­ke mit elek­tro­nisch gere­gel­ter Stand- und Schwung­pha­se ver­fü­gen über eini­ge Kon­struk­ti­ons­merk­ma­le, die beson­ders bei die­ser Ver­sor­gung ent­schei­den­de Vor­tei­le erbrach­ten. Dazu gehö­ren ins­be­son­de­re eine gang­ge­schwin­dig­keits­un­ab­hän­gi­ge Exten­si­ons­un­ter­stüt­zung, die bereits erwähn­te sichern­de Stand­funk­ti­on sowie ein ESP-unter­stütz­tes Hin­set­zen. Dahin­ter ver­birgt sich ein mit zuneh­men­dem Beu­ge­win­kel pro­gres­siv zuneh­men­der Fle­xi­ons­wi­der­stand, der auch beim Stol­per­schutz zum Ein­satz kommt.

Der Avalon®-Fuß ver­fügt über ein hydrau­li­sches Knö­chel­mo­dul, das 6° Dor­sal­ex­ten­si­on sowie 6° Plant­ar­fle­xi­on zulässt. Der Hydrau­lik­wi­der­stand lässt sich für bei­de Bewe­gungs­rich­tun­gen mit­tels Ein­stell­ven­til stu­fen­los wäh­len. Neben der sichern­den Funk­ti­on durch die Selbst­aus­rich­tung des Fußes auf die jewei­li­gen Boden­be­schaf­fen­hei­ten ist die erhöh­te Boden­frei­heit durch das Ver­blei­ben des Fußes in Dor­sal­ex­ten­si­on her­vor­zu­he­ben. Ein­ach­si­ge Knie­ge­len­ke ver­fü­gen nicht wie poly­zen­tri­sche über eine Ver­kür­zungs­funk­ti­on. Umso wich­ti­ger ist eine Kom­pen­sa­ti­on im Knö­chel­ge­lenk, damit Stür­ze durch Hän­gen­blei­ben der Fuß­spit­ze in der ter­mi­na­len Schwung­pha­se ver­hin­dert wer­den kön­nen und der Pati­ent ener­gie­öko­no­misch unter­stützt wird. Zudem unter­stützt die hydrau­li­sche Anpas­sung des Knö­chel­ge­lenks das Auf­ste­hen und Hin­set­zen durch ver­bes­ser­ten voll­flä­chi­gen Boden­kon­takt. Die Kos­me­tik wur­de dis­kon­ti­nu­ier­lich aus­ge­führt und mit Supers­kin® ver­edelt. So ent­steht kei­ner­lei Inter­fe­renz mit der Knie­be­we­gung, und die Akku-Auf­la­de­buch­sen der Knie­ge­len­ke sind frei zugänglich.

Reha-Ergeb­nis

Bei der Abschluss­un­ter­su­chung am 24.02.2017 zeig­te sich der Pati­ent mit dem erreich­ten Reha­bi­li­ta­ti­ons­er­geb­nis äußerst zufrie­den; die von ihm erziel­ten Fort­schrit­te lagen weit über sei­nen eige­nen Erwar­tun­gen. Er konn­te nun wie­der kur­ze Weg­stre­cken mit Fritz­Stock links und Nor­dic-Wal­king-Stock rechts mit Pau­sen lau­fen; auf dem Lauf­band waren 1,1 Kilo­me­ter mit 1 % Stei­gung und eine Geschwin­dig­keit von 2,3 km/h mög­lich. Der Pati­ent gab an, dass ins­be­son­de­re die Pass­form der Schäf­te mit Tuber­an­stüt­zung opti­mal gelun­gen sei. Beson­ders her­vor­ge­ho­ben wur­de auch das wegen der ein­ge­schränk­ten Hand­funk­ti­on beid­sei­tig ein­ge­setz­te BOA®-Seilzugsystem zum Ver­schluss der Schaft­scha­len anstel­le der Klettverschlüsse.

Es bestün­den zwar jetzt noch Pro­ble­me im Bereich der nicht ope­rier­ten Schul­ter, die lin­ke Sei­te sei aber völ­lig pro­blem­los. Der Pati­ent erwar­tet von sich in den nächs­ten drei Mona­ten eine Geh­fä­hig­keit mit nur noch einem Stock und ist ins­ge­samt vol­ler Zuver­sicht bezüg­lich sei­nes erwei­ter­ten Akti­ons­ra­di­us ein­schließ­lich Trep­pen­stei­gen und Besu­chen von Freun­den und Bekann­ten. Auch der zeit­wei­se Ein­satz als Lehr­kraft erscheint nun wie­der im Rah­men des Möglichen.

Fazit

Es bleibt fest­zu­hal­ten, dass nur eine enge inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit zur Errei­chung so her­aus­for­dern­der Reha­bi­li­ta­ti­ons­zie­le wie in die­sem Fall­bei­spiel bei­tra­gen kann. Auf­grund der Wil­lens­stär­ke und der Aus­dau­er des Pati­en­ten, der gelun­ge­nen tech­ni­schen Aus­füh­rung der Ortho­pä­die-Tech­nik sowie der Hil­fe­stel­lung und Unter­stüt­zung durch die ergo- und phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Abtei­lun­gen der The­re­si­en­kli­nik konn­te ein sehr zufrie­den­stel­len­des Reha­bi­li­ta­ti­ons­er­geb­nis erzielt werden.

Aus tech­ni­scher Sicht erwie­sen sich ins­be­son­de­re die gang­ge­schwin­dig­keits­un­ab­hän­gi­ge Exten­si­ons­un­ter­stüt­zung des ein­ge­setz­ten Knie­ge­lenks, die sichern­de Stand­funk­ti­on sowie ein ESP-unter­stütz­tes Hin­set­zen als ent­schei­den­de Vor­tei­le der gewähl­ten Ver­sor­gung. Zudem kommt der Erfin­dung des hydrau­li­schen Knö­chel­ge­lenks gera­de bei Ver­sor­gun­gen wie der geschil­der­ten eine hohe Bedeu­tung zu, die dafür ver­ant­wort­lich ist, dass es aus der moder­nen Ortho­pä­die-Tech­nik mitt­ler­wei­le eben­so wenig weg­zu­den­ken ist wie die elek­tro­nisch unter­stütz­ten Sys­te­me. Beson­ders bei dop­pel­sei­ti­gen Ver­sor­gun­gen tra­gen die­se Sys­te­me ent­schei­dend dazu bei, dem Ver­sor­gungs­an­spruch von Pati­en­ten gemäß § 31 SGB IX gerecht zu werden.

Für die Autoren:
Thors­ten Spiekerkötter
Rapp & Sei­fert Ortho­pä­die­tech­nik GmbH
Am Ala­man­nen­feld 2
79189 Bad Krozingen
ot@rapp-und-seifert.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Spie­ker­köt­ter Th., Hes­sel­schwerdt H.-J. Reha­bi­li­ta­ti­on und ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung eines Pati­en­ten mit Con­ter­gan-Dys­me­lie. Ortho­pä­die Tech­nik, 2017; 68 (11): 38–41
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