Einleitung
In Deutschland liegt die Brustkrebsinzidenz bei rund 71.600 Fällen pro Jahr; somit ist Brustkrebs die mit Abstand häufigste Krebserkrankung der Frau. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 64 Jahren. Trotz der gestiegenen Erkrankungszahlen sterben heute durch Fortschritte in der Therapie weniger Frauen an Brustkrebs als noch vor zehn Jahren; die 5‑Jahres-Überlebensrate liegt bei 88 Prozent 1. Inzwischen können ca. 70 Prozent der an Brustkrebs erkrankten operierten Frauen brusterhaltend behandelt werden; bei etwa 30 Prozent wird die Brust entfernt (Mastektomie, Ablatio mammae) 2.
Von diesen Frauen lassen sich wiederum 30 bis 40 Prozent die Brüste mit Eigengewebe oder mit Silikonimplantaten operativ aufbauen. Die anderen Betroffenen entscheiden sich aus onkologischen, technischen oder persönlichen Gründen nach der Brustentfernung für eine externe Brustprothese. Jährlich werden nach mündlichen Herstellerangaben in Deutschland zwischen 120.000 und 150.000 externe Prothesen angepasst. Bei dieser Zahl handelt es sich um die Prävalenz, das heißt, erfasst werden Frauen in Deutschland, die mit einer Brustprothese leben und alle zwei Jahre mit einer Prothese versorgt werden. Nach einer Mastektomie dienen externe Brustprothesen als kosmetischer Ersatz für die verlorene Brust und vielfältigen Aussagen zufolge auch zum orthopädischen Gewichtsausgleich. Hierzu existieren verschiedene Versorgungsmöglichkeiten (unter denen Frauen theoretisch wählen können), die als medizinisches Hilfsmittel anerkannt sind; aktuell sind 210 Prothesentypen im Hilfsmittelverzeichnis 3 gelistet. Die Kosten werden von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen 456. In Deutschland ist ausschließlich der Sanitätsfachhandel verantwortlich für die Versorgung mit Hilfsmitteln und somit auch mit Brustprothesen. Etwa 3.000 Sanitätshäuser bieten externe Brustprothesen an.
Eine internationale Literaturrecherche zur brustprothetischen Versorgung, in die 16 Publikationen eingeschlossen werden konnten, identifizierte sechs zentrale Themen 7:
- Auswirkungen des Brustverlustes
- Information/Wissen
- Prothesenversorgung und ‑anpassung
- Zufriedenheit mit der Prothese
- Prothesentypen
- psychosozialer Einfluss der Prothese auf das Leben
Die Studien belegen eine relativ hohe Gesamtzufriedenheit mit Prothesen von ca. 70 % 8910 sowie eine höhere Zufriedenheit mit gewichtsreduzierten gegenüber normalgewichtigen Prothesen (94 vs. 62 %) 11. Defizite werden vor allem hinsichtlich der Informationen über den Zugang zur Versorgung, der Mitentscheidung bei der Prothesenwahl und der Wahlmöglichkeiten deutlich 12131415. In einer Studie an der Universität Witten/Herdecke wurde nun erstmals für Deutschland die brustprothetische Versorgung von Frauen nach Mastektomie unter den spezifischen Bedingungen des deutschen Gesundheitssystems evaluiert. Dieser Artikel zeigt Teilergebnisse der Studie mit dem Fokus auf der Perspektive der betroffenen Frauen sowie der Sanitätshausfachangestellten. Daten und Ergebnisse bezüglich der Pflegenden und der Hersteller werden hier nicht dargestellt.
Methode
Für diese Untersuchung wurden insgesamt 40 Interviews mit betroffenen Frauen und Sanitätshausfachangestellten, Pflegenden und Herstellern geführt. Eine Zustimmung der Ethik-Kommission der Universität Witten/ Herdecke liegt vor (81/2013). Die Datenerhebung erfolgte mittels leitfadengestützter Interviews. Hierbei besteht für die Studienteilnehmerinnen die Möglichkeit, im Interview möglichst frei zu berichten; gleichzeitig folgt der Interviewverlauf einem bestimmten vorgegebenen Themenweg. Die Themenblöcke wurden anhand der internationalen Literaturrecherche festgelegt (siehe oben). Die Interviews wurden transkribiert; für die systematische Auswertung wurden alle Transkripte mit den Tonbandaufnahmen in die qualitative Datenanalyse-Software MAXQDA 11 übertragen und anschließend darin bearbeitet. In diesem Artikel werden zitierte Interviewaussagen aus Gründen der besseren Verständlichkeit in standardsprachlicher Form wiedergegeben.
Um die Erfahrungen und Perspektiven der Frauen und der „Stakeholder“, das heißt einzelner Akteure in der brustprothetischen Versorgung, miteinander in Beziehung setzen zu können, wurde der methodische Ansatz der qualitativen Evaluationsforschung gewählt. Deren Ziel ist es, Prozesse zu untersuchen, die Einfluss auf die Outcomes haben, und subjektive Sichtweisen der Beteiligten sichtbar und somit transparenter und nachvollziehbarer zu machen 16. Zunächst wurden die Interviews offen codiert, sodann wurden Kategorien herausgearbeitet, aus denen ein Phasenmodell entwickelt wurde. Anschließend wurden die Daten der Sanitätshausfachangestellten analysiert und in dieses Modell integriert.
Stichprobe
Über Kooperationen mit vier zertifizierten Brustzentren in unterschiedlichen Regionen Deutschlands wurden 20 Frauen mit Brustkrebs nach Brustentfernung in die Studie eingeschlossen. Das Durchschnittsalter der Frauen betrug zum Zeitpunkt der Erhebung 63 Jahre (48 bis 76 Jahre), ca. die Hälfte ist verheiratet. Die durchschnittliche Zeit seit der Brustkrebsdiagnose betrug 1,8 Jahre (10 Monate bis 4,6 Jahre); die Interviewdauer lag im Durchschnitt bei 42 Minuten (17:17 Min. bis 1:29 Std.).
In der Gruppe der Sanitätshausfachangestellten wurden jeweils 8 Interviews mit Pflegenden und Sanitätshausfachangestellten geführt, zudem ergänzend Interviews mit verantwortlichen Personen der vier großen Herstellerfirmen im Bereich Brustprothetik. Die durchschnittliche Interviewdauer bei den Sanitätshausfachangestellten betrug 1:12 Stunde (54:04 Min. bis 1:57 Std.). Acht der zehn Sanitätshausfachangestellten haben an ein- bis mehrtägigen Fortbildungen teilgenommen, die von den Herstellerfirmen angeboten werden (Tab. 1).
Ergebnisse
Die brustprothetische Versorgung nach Mastektomie steht für die Frauen hinter der Brustkrebserkrankung und dem Brustverlust zurück. Aus diesem Grund wird das Erleben der Frauen in zwei Phasen unterteilt 17. Die hier dargestellten beiden Phasen sind das Ergebnis der Analyse und der Interpretation der Studienergebnisse. Phase 1 („Erleben von Schock und Krise“) umfasst die Diagnose und den damit verbundenen Brustverlust sowie die daraus resultierenden Bedürfnisse in der Erstversorgung mit einer Brustprothese. Phase 2 („Streben nach Normalität“) beschreibt das Leben mit der Krebserkrankung, dem Brustverlust und den psychosozialen Einfluss der Prothese auf das Leben der Frauen. Dabei wird deutlich, wie wichtig die Aufrechterhaltung von Kontrolle in sozialen Situationen bzw. die eigene Empfindung der Normalität des äußeren Erscheinungsbildes sind. In dieser Phase wird der Prozess der brustprothetischen Versorgung bedeutsamer. Nachfolgend wird zunächst Phase 1 kurz dargestellt; der Schwerpunkt in diesem Artikel liegt in der Darstellung von Phase 2.
Phase 1: „Erleben von Schock und Krise“
In der ersten Phase“ (Abb. 1) haben betroffene Frauen in der Konfrontation mit der existenziellen Krise weder Erfahrung noch Wissen über die Erstversorgung mit einer Prothese. Im Vordergrund stehen der Schock der Brustkrebsdiagnose und die daraus resultierende existenzielle Krise. Betroffene Frauen setzen sich zwar mit der Krebsdiagnose und dem Brustverlust auseinander – den Ablauf der Erstversorgung mit einer externen Prothese beschreiben diese Frauen dagegen als fast nebenbei stattfindend bzw. unspektakulär. Die betroffenen Frauen sind, wie eine der befragten Patientinnen angibt, in dieser ‚Situation „glücklich und froh, dass es so etwas wie eine Prothese gibt“, und finden es wichtig, dass die Organisation durch das Brustzentrum sofort innerhalb des stationären Aufenthaltes vermittelt wird und sie sich nicht selbst darum kümmern müssen. Somit ist ihr erstes Bedürfnis nach einem Ausgleich gestillt. In dieser Situation haben sie weder eine Vorstellung von den entsprechenden Produkten oder Erwartungen an die Prothese noch an die Situation der Anpassung und geben sich zu Beginn zufrieden mit dem, was ihnen angepasst wird. Kurzum: Sie nehmen die brustprothetische Versorgung in diesem Moment in der Regel unhinterfragt an.
Phase 2: „Streben nach Normalität“
Das langfristige Erleben des Brustverlustes bei den Befragten ist abhängig davon, was „Frausein“ für sie bedeutet bzw. wie für sie geschlechtliche Identität definiert ist. Für die meisten der befragten Frauen bedeutet Normalität, zwei Brüste zu haben: „Wenn man beide Brüste hat, ist man wieder eine richtige Frau.“ Das Erleben, „einseitig“, ungleich bzw. nicht symmetrisch zu sein, ist zentral. Als besonders belastend wird der Brustverlust den Befragten zufolge in Situationen erlebt, in denen sie unbekleidet sind und Scham erleben, beispielsweise in der Sauna oder beim Schwimmen. Hier erleben sich die Frauen als „entblößt“, „ohne Schutz“ und „verletzlich“ (Abb. 2).
Frauen nach Brustverlust beschreiben ihre Bedürfnisse selten direkt, sondern eher über das Handeln in Alltagssituationen, in denen sie Prothesen tragen, und über die damit verbundenen Gefühle. Vor dem Hintergrund der leiblichen und seelischen Verletzungen der eigenen Identität ist das Bedürfnis nach Normalität im Alltag von großer Bedeutung. Dabei ist es vor allem wichtig, dass die Prothese im Verhältnis zur verbliebenen Brust „gleich ist“ und somit zu ihrem Körper passt und dass die Symmetrie wiederhergestellt ist. Der Brustverlust soll vor allem nicht nach außen, das heißt im öffentlichen Raum, deutlich werden. Eine Prothese hilft den Frauen, hier Normalität herzustellen. Allen Frauen, die eine Prothese nutzen, vermittelt diese Sicherheit im öffentlichen Raum und bedeutet somit Kontrolle über die Situation, weil der Brustverlust nicht gesehen wird und nicht auffällt. Eine der befragten Frauen beschreibt diese Situation wie folgt: „Wenn ich draußen bin damit [mit der Prothese, d. Verf.], fühle ich mich wohl damit. Und dann denke ich auch, das sieht keiner […], denn es fällt ja auch nicht auf; die Größe ist genau die gleiche wie bei meiner anderen Brust, und damit fühle ich mich dann schon sicher, wenn ich draußen bin. Das ist gut.“
Die meisten befragten Frauen legen die Prothese im privaten Raum ab, wenn sie z. B. allein zu Hause oder im privaten Umfeld und höchstens von ihrer (Kern-) Familie umgeben sind. Sie brauchen die Prothese nicht für „sich selbst“. Nur wenige befragte Frauen in dieser Studie tragen die Prothese immer, das heißt sowohl im privaten Raum als auch in der Öffentlichkeit. Diese Frauen tragen die Prothese von morgens bis abends, wenn sie ins Bett gehen.
Einige der befragten Frauen nutzen die Prothese vorübergehend als Überbrückung bis zum Wiederaufbau, quasi als „Mittel zum Zweck“. Für diese Frauen bedeutet Normalität, langfristig wieder zwei Brüste zu haben. Häufig steht diese Haltung bereits bei der Diagnose fest und verändert sich auch nicht über die Zeit – unabhängig davon, als wie positiv die Prothese empfunden wird. Diese Frauen können die externe Brustprothese nicht in ihr Körperbild integrieren; eine Teilnehmerin beschreibt diese Einstellung wie folgt: „Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber es [gemeint ist die Prothese; d. Verf.] gehört nicht zu meinem Körper. Es ist im Grunde genommen ein Stützmittel, eine Übergangslösung, und ich bin froh, wenn ich die OP habe, dass ich das auch wieder los bin.“ Demgegenüber tragen zwei der befragten Frauen keine Prothese – sie ist für sie nicht (mehr) notwendig; beide akzeptieren ihren veränderten Körper.
Brustprothetische Versorgung
Die Daten zu den Sanitätshausfachangestellten zeigen, dass die im Folgenden beschriebenen Merkmale eines Sanitätshauses – die miteinander in Beziehung stehen – Einfluss auf die Qualität der brustprothetischen Versorgung haben. Es lassen sich im Rahmen dieser Studie zwei Gruppen unterscheiden, wobei diese Darstellung vereinfacht ist; es gibt sicher auch Mischformen:
- In Sanitätshäusern mit hoher Versorgungsqualität treffen Unternehmer die Entscheidung für einen Schwerpunkt im Bereich Brustprothetik, erzielen hohen Umsatz und Gewinn durch Prothesen und BHs und halten ein großes Warenlager mit einem umfangreichen Sortiment mehrerer Anbieter vor. Hier verfügen Sanitätshausfachangestellte über eine große Expertise durch viel Erfahrung in der Versorgung sowie durch die Teilnahme an Kursen und haben einen persönlichen Gestaltungsspielraum in der brustprothetischen Versorgung. Im Sanitätshaus gibt es einen separaten, ansprechenden, nicht einsehbaren eigenen Verkaufsbereich mit Dekoration von Brustprothesen, BHs und Badeanzügen, Umkleiden bzw. Kabinen mit Ganzkörperspiegel, guter Beleuchtung oder Tageslicht und Sitzgelegenheit.
- Demgegenüber haben Sanitätshäuser mit geringer Versorgungsqualität die unternehmerische Entscheidung für einen anderen Versorgungsschwerpunkt getroffen; die Brustprothesenversorgung läuft ergänzend nebenher. Umsatz und Gewinn durch Prothesen und BHs sind niedrig, es wird nur ein kleines Warenlager mit einem spärlichen Sortiment, häufig von nur einem Anbieter, vorgehalten. Hier haben Sanitätshausfachangestellte aufgrund geringerer Erfahrung in der Versorgung und seltenerer Teilnahme an Kursen kaum Expertise und nur geringfügigen persönlichen Gestaltungsspielraum. Die Versorgung findet in allgemein genutzten, eher schmucklosen Umkleiden statt, die aufgrund der Mehrfachnutzung häufig mit einer Liege ausgestattet sind
Für betroffene Frauen, die ein Sanitätshaus aufsuchen, ist anfangs weder ersichtlich, dass es unterschiedliche Hersteller gibt, noch, mit welchen Herstellern das betreffende Sanitätshaus zusammenarbeitet. Ebenso wenig wissen sie, wie viele Brustprothesen das Sanitätshaus zur Auswahl vorrätig hat oder wie es sich mit Bestell- bzw. Lieferwegen verhält. Gleichzeitig sind für die Mehrheit der Frauen weder Hersteller noch Merkmal ihrer Prothese von Bedeutung; sie haben kein „formales Wissen“ darüber, beides hat für sie keine Priorität.
Informationen über gesetzliche Ansprüche, die dabei entstehenden Kosten und den Abrechnungsmodus im Rahmen der brustprothetischen Versorgung erhalten alle Frauen ausschließlich mündlich durch Sanitätshausfachangestellte. Hinsichtlich der Kosten und Zuzahlungen für „besonders gute Prothesen“ zeigt sich ein heterogenes Bild: Einige Sanitätshäuser verlangen Zuzahlungen von 20 Euro und mehr – bis hin zu 320 Euro für eine Prothese ohne Rezept; andere Sanitätshäuser kommen ohne Zuzahlung aus, ihrer Meinung nach ist die Versorgung eine Mischkalkulation.
Die Entscheidung darüber, mit welcher Prothese und welchem BH versorgt wird – unabhängig von der Erst- oder Folgeversorgung –, treffen Sanitätshausfachangestellte häufig völlig eigenverantwortlich – abhängig vom Sortiment im Warenlager des Sanitätsfachgeschäftes sowie von ihrer Erfahrung in der brustprothetischen Versorgung. Sie treffen ihre – eher intuitive – Entscheidung für eine bestimmte Versorgung dabei jedoch nicht beliebig oder zufällig, sondern auf der Grundlage von Überlegungen zum individuellen Fall und zur Silhouette bzw. zur Kontur des Körpers der jeweiligen Kundin. Dabei greifen sie als Expertinnen auf Wissen zurück, das sie in den Seminaren der Hersteller erworben haben. Häufig besteht eine Affinität zu einer bestimmten Herstellerfirma und einer „Lieblingsprothese“ dieser Firma, die sie als Standardprothese einsetzen. Von dieser Prothese sind sie persönlich überzeugt; sie haben damit selbst positive (Leib-)Erfahrungen gemacht. Eine befragte Sanitätshausfachangestellte äußerte sich zu diesem Aspekt wie folgt: „Ich gebe lieber das ab, wovon ich überzeugt bin, was auch vom Anfassen her für mich persönlich angenehm ist.“
Diese Prothesen sind universal in vielen Situationen flexibel einsetzbar; sie passen vielen Frauen, das heißt, sie können am besten abgegeben werden und sind vom Preis-Leistungs-Verhältnis für das Sanitätshaus attraktiv. Allerdings handelt es sich je nach Interviewpartnerin und Sanitätshaus dabei um ganz unterschiedliche Produkte, die jeweils als „Lieblingsprothese“ eingesetzt werden. Lediglich eine der befragten Sanitätshausfachangestellten weist die Versorgung mit einer „Lieblingsprothese“ von sich.
Da Sanitätshausfachangestellte aufgrund ihrer Expertise die Anpassung durchführen, findet selten eine unabhängige und umfassende Information und Beratung der Frauen statt. Besonders deutlich wird das Informationsdefizit betroffener Frauen, wenn es um unterschiedliche Eigenschaften von Brustprothesen geht: Keine der betroffenen Frauen kennt den Unterschied zwischen normalgewichtigen und Leichtprothesen und weiß, welchen Prothesentyp sie selbst trägt – obwohl während der Interviews durch Ansicht der Prothesen klar wird, dass 15 der 19 Frauen eine Leichtprothese tragen.
Verständlich werden diese Erfahrungen der Frauen vor dem Hintergrund der Aussagen der Sanitätshausfachangestellten. Die Entscheidung, welche Prothesen angeboten werden – hier in Bezug auf das Gewicht der Prothesen –, trifft das Sanitätshaus. Es gibt zwei Perspektiven, die quasi auf einem Expertenstreit beruhen: Orthopäden betonen den notwendigen Gewichtsausgleich, um einer Schiefstellung der Wirbelsäule vorzubeugen; demgegenüber vertreten Lymphologen die Ansicht, dass Prothesen möglichst leicht sein sollten, um einem Lymphödem vorzubeugen. Sanitätshausfachangestellte übernehmen die eine oder andere Meinung und halten dann Prothesen analog zu ihrer Haltung vor. So gibt es im Rahmen dieser Studie mehrere Sanitätshäuser, die ausschließlich Leichtprothesen anbieten. Für die betroffenen Frauen bedeutet dies, grundsätzlich nicht zwischen normalgewichtigen und Leichtprothesen wählen zu können. Gleichzeitig kommt dies den Wünschen der betroffenen Frauen näher, dass die Prothese leichter sein soll.
Zufriedenheit und positives Leiberleben
Eine brustprothetische Versorgung gelingt, so das Ergebnis dieser qualitativen Studie, wenn Frauen Informationen über Prothesen, deren Material, unterschiedliche Modelle und Typen erhalten, ihnen somit Alternativen aufgezeigt werden, unter denen sie wählen können. Eine als positiv empfundene Information und Beratung umfasst verschiedene Gesichtspunkte. Zu Beginn ist es bedeutsam, einen Zugang zum Thema zu finden. Den Frauen ist wichtig, dass die Sanitätshausfachangestellte eine Prothese individuell für sie auswählt und die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Prothesen erläutert. Eine Patientin berichtet über ihre Erfahrung im Sanitätshaus das Folgende: „Sie [die Sanitätshausfachangestellte; d. Verf.] hat sich die Brust angeguckt und sagte: ‚Ja, das ist die und die Form, und da bräuchten wir den und den Aufbau; es gibt ja unterschiedliche Formen.‘ Dementsprechend hat sie mir dann drei [Prothesen; d. Verf.] herausgelegt und mir diese gezeigt und mir das Für und Wider erklärt.“
Eine erfolgreiche Auswahl, mit der Frauen sich anschließend wohlfühlen, erfolgt über das Ansehen, Begreifen, Aus- und Anprobieren, das heißt, sie treffen ihre Entscheidung aufgrund ihrer leiblichen Erfahrung. Dabei sind die Frauen mit ihrer Prothese dann zufrieden, wenn diese möglichst natürlich aussieht, sich „normal“ anfühlt und im Verhältnis zur verbliebenen Brust „gleich“ ist. Eine der Befragten äußerte sich zur Haptik ihrer Prothese wie folgt: „Das ist eine, wo ich sage‚ die fühlt sich wie eine natürliche Brust an. Wenn man darauf fasst [fasst auf die Prothese, d. Verf.], ist nicht viel Unterschied zur normalen Brust.“
Ein solches Vorgehen findet sich bei einigen Sanitätshausfachangestellten wieder: Sie überlassen den Frauen die Auswahl der Prothese, auch wenn sie selbst eine persönliche Haltung – zum Beispiel zum Gewicht einer Prothese – haben und den Frauen zu einem Gewichtsausgleich raten. Dazu ist es notwendig, sowohl normalgewichtige als auch Leichtprothesen im Warenlager vorzuhalten. Sie lassen den Frauen die Wahl, indem sie sie erspüren lassen, welche Prothese für sie angenehmer ist. In allen Interviews mit Sanitätshausfachangestellten wird deutlich, dass die Möglichkeit zu wählen und vor Ort verschiedene Modelle zu testen, nur von Sanitätshäusern angeboten wird, die als privates Unternehmen einen Schwerpunkt auf den Bereich der Brustprothetik legen.
Unzufriedenheit und eingeschränktes, negatives Leiberleben
Mangelnde Information ohne Wahlmöglichkeit führt dazu, dass Frauen unzufrieden mit der Beratung und häufig auch mit ihrer Prothese sind. Sie haben keine Autonomie, um selbst agieren und entscheiden zu können, und erleben sich häufig erneut – wie schon bei der Erstversorgung im Krankenhaus – der Situation ausgeliefert. Mehr als die Hälfte der befragten Frauen sind entweder unzufrieden mit ihrer Brustprothese, oder sie hat für sie – trotz schlechter Versorgung – keine Bedeutung, weil sie andere Prioritäten in ihrem Leben setzen.
Typisch in diesen Interviews ist, dass betroffene Frauen auf Fragen über Prothesen immer wieder antworten, keine Ahnung zu haben – ihnen sei nichts gezeigt worden. Sie haben erlebt, dass ihnen lediglich ein oder zwei Prothesen angepasst wurden. Auf die Frage, ob man ihr unterschiedliche Prothesen gezeigt habe, antwortet exemplarisch eine Interviewteilnehmerin: „Nur von der Größe her, nicht von der Qualität her, und das war auch wenig.“ Die Frage, ob es sich um Prothesen mehrerer Hersteller gehandelt habe, verneint die Teilnehmerin: „Nur verschiedene Größen, bis die dann gepasst hat.“
In Bezug auf weitere Aspekte wie Haftprothesen, unterschiedliche Prothesenformen, klimaregulierende Eigenschaften oder Silikoneinlagen zum Schwimmen haben ebenfalls die wenigsten Frauen Informationen erhalten. Eine häufige Antwort in diesem Zusammenhang lautete: „Nein, das habe ich noch nie gehört.“
Bedeutung der Prothese tritt in den Hintergrund
Einige Frauen zeigen sich trotz einer schlechten brustprothetischen Versorgung nicht unzufrieden; sie arrangieren sich mit der Prothese, weil sie keine große Bedeutung in ihrem Leben hat. Hintergrund sind prägende Erfahrungen in ihren Biografien. Eine Teilnehmerin berichtet beispielsweise davon, dass viele ihrer Verwandten an Krebs erkrankt und gestorben seien.
Diskussion
Anhand der Ergebnisse wird sehr deutlich, dass die betroffenen Frauen das System des Sanitätsfachhandels und die dahinterstehenden Geschäftsmodelle nicht kennen. Sie haben ein Rezept und verbinden damit die Vorstellung einer guten Versorgung, die sie nicht hinterfragen. Sie wissen nicht um die „eigentlich freie Wahl“ des Sanitätshauses und haben weder eine Idee davon, welche Kriterien eine individuelle Versorgung kennzeichnen, noch, was ein Sanitätshaus vorhalten sollte. Sie sind dem System quasi hilflos ausgeliefert und können so auch eventuelle Zuzahlungen nicht einordnen. Da sie vorher im Krankenhaus von den Professionellen eher das Gefühl vermittelt bekommen haben, dass die brustprothetische Versorgung nicht relevant sei, können sie niemandem eine Rückmeldung über eine schlechte Versorgung geben. Sie erleben kaum Autonomie und Handlungsfähigkeit. Gleichzeitig verfügen Frauen in dieser Phase der Krebserkrankung nur über wenige Möglichkeiten, sich selbst zu informieren 18, und sind in dieser Frage weitgehend abhängig von Sanitätshausfachangestellten. Das erklärt, warum nur wenige Frauen eigene Wege für eine bessere Versorgung suchen: Sie können dies zu diesem Zeitpunkt der Erkrankung nicht und haben diesbezüglich keine Ressourcen.
Gleichzeitig steht die brustprothetische Versorgung im Spannungsfeld zwischen den definierten Anforderungen einer wirtschaftlichen Versorgung und der Kostenbegrenzung durch den Gesetzgeber einerseits und den Erlösen des Sanitätshauses andererseits. „Beiden Welten“ gerecht zu werden birgt eine gewisse Paradoxie und bedeutet einen Konflikt in der direkten Versorgungssituation im Sanitätshaus zwischen wirtschaftlichen Erlösen und optimaler brustprothetischer Versorgung, bei der nicht immer die Frau im Vordergrund steht. Das Leistungsspektrum der Sanitätshäuser umfasst unterschiedliche Segmente, wobei sich der Sanitätshausmarkt sehr heterogen darstellt, das heißt, er reicht von modernen Komplettanbietern bis hin zu kleinen alteingesessenen Betrieben mit begrenzten Sortimenten 19. Sanitätshäuser sind als Unternehmen wirtschaftlich ausgerichtet und definieren ihr Angebot über Erlösmodelle. Es zeigt sich, dass nur dann, wenn ausreichend Brustprothesen abgegeben werden, ein ausreichend großes Warensortiment und ansprechende Räume vorgehalten werden.
Vergleicht man nun die Aussagen der Sanitätshausfachangestellten mit denen der befragten Frauen, wird der Unterschied deutlich: Wahrnehmungen, Erfahrungen, Bedeutungszumessungen und Erwartungen zu allen Aspekten in der brustprothetischen Versorgung stimmen häufig nicht überein. Häufig treffen Sanitätshausfachangestellte die Wahl, mit welcher Brustprothese versorgt wird; hier nehmen theoretisches Wissen und praktische Erfahrung Einfluss. Letztendlich dürfen Sanitätshausfachangestellte in der konkreten Versorgung externer Brustprothesen abgeben, was sie wollen; sie sind dabei völlig frei – es gibt auf dieser Ebene keinerlei Kontrolle oder Nachweise. Zudem gibt es zum Teil keine objektiven Kriterien für eine Versorgung; in diesem Zusammenhang sei noch einmal auf das Thema „Gewichtsreduzierung von Prothesen“ hingewiesen – auch hier entscheiden Sanitätshausfachangestellte häufig „nach Gefühl“. Sind die Vorgaben des Sanitätshauses sehr eng, befinden sich Sanitätshausfachangestellte in dem Dilemma, sich permanent zwischen Individuum und Institution entscheiden zu müssen. Auch das erklärt zumindest zum Teil die eingeschränkte Beratung und die fehlenden Wahlmöglichkeiten. Eine weitere Herausforderung besteht in der Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Sanitätshäusern: Es ist dem Unternehmen überlassen, mit wie vielen Herstellern es zusammenarbeitet. Schulungen werden fast ausschließlich über Hersteller von Brustprothesen angeboten, Außendienstmitarbeiter stellen eine Zusammenarbeit über ein Beziehungsmanagement sicher.
Fazit
Die Befragungsergebnisse weisen deutlich auf die Kluft zwischen den Bedürfnissen brustamputierter Frauen und der Versorgung im Sanitätshaus hin. Da die betroffenen Frauen ihre Wahlmöglichkeiten häufig nicht kennen, nehmen sie die ihnen dargebotenen Prothesen teils unhinterfragt an – selbst wenn sich möglicherweise eine bessere Lösung für sie finden ließe. Auch wenn es sich um eine qualitative Studie handelt und die Ergebnisse nicht verallgemeinert werden können, ist erkennbar, dass sowohl auf Seiten der Sanitätshäuser als auch auf Seiten der Kliniken Handlungsbedarf besteht, um Frauen in der belastenden Situation nach einer Brustamputation besser über ihre Versorgungsmöglichkeiten zu informieren.
Die Autorin:
Dr. Regina Wiedemann
Pflegewissenschaftlerin
Universität Witten/Herdecke
Department für Pflegewissenschaft
Stockumer Strasse 12,
58453 Witten
regina.wiedemann@uni-wh.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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