OT: „Passt perfekt, passt zu Dir“ – so der Werbespruch für die Online-Einlagenversorgung bzw. „E‑Versorgung“ der Barmer in Kooperation mit Meevo/Craftsoles – scheint doch nicht so gut zu einer qualitätsbasierten Versorgung auf Kassenrezept zu passen. Zumindest wurde das Angebot vorerst auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Wie geht es nun weiter?
Nico Stephan: Diese Entscheidung ist sicherlich ein erstes positives Ergebnis des geschlossenen Auftretens aller betroffenen Leistungserbringer und ihrer Organisationen sowie der gegenüber dem Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) vorgetragenen massiven Beanstandungen. Sie bestätigt unsere Rechtsauffassung, dass dieses Versorgungskonzept massiv gegen geltendes Recht verstößt. Dennoch dürfte die Angelegenheit noch nicht vollends ausgestanden sein – nicht zuletzt aufgrund der unbefriedigenden Einlassung und rechtlich unpräzisen Kommunikation der Barmer. Derzeit laufen Klageverfahren verschiedener Betriebe gegen die „E‑Versorgung“ vor den Sozialgerichten. Wir gehen davon aus, dass schnelle Entscheidungen in der Rechtsprechung für Klarheit sorgen werden.
OT: Wie schätzen Sie die rechtliche Zulässigkeit der von der Barmer angebotenen „E‑Versorgung“ ein?
Stephan: Sie ist nach meiner Auffassung nicht zulässig und verstößt eineindeutig gegen das deutsche Sozialrecht gemäß § 127 Abs. 1 Satz 4 und 5, SGB V. Sie unterläuft unter anderem die Qualitätsanforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses (HMV) sowie den Anspruch an eine wohnortnahe Versorgung und ignoriert die Empfehlungen des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband), der die Abgabe eines Hilfsmittels in einer präqualifizierten Niederlassung als Regelfall definiert. Schlussendlich stellen die Vermessung und Anpassung – also Abdruck und Einpassung ins Schuhwerk – bei der Versorgung mit medizinischen Einlagen auf Rezept Leistungen dar, deren Qualität die qualifizierten Fachleute in den Betrieben der Leistungserbringer sicherstellen müssen und die sie selbst vorzunehmen haben. Das können keine Laien übernehmen. Ich sehe ebenso einen Verstoß gegen die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA) erlassene Hilfsmittelrichtlinie, wonach die Leistungserbringer die in der jeweiligen ärztlichen Verordnung festgelegte Versorgung überprüfen sollen und im Zweifel unverzüglich Verbindung zu den Ärzt:innen aufnehmen müssen. Die Hilfsmittelrichtlinie ist Bestandteil der Bundesmantelverträge für die vertragsärztliche Versorgung. Vertragsärzt:innen müssen sich zwingend auf die in der Hilfsmittelrichtlinie hinterlegten Prozesse verlassen können. Die persönliche Kontrolle am Fuß durch qualifizierte Leistungserbringer findet dementgegen bei der „E‑Versorgung“ nicht statt.
Was nicht passt, wird passend gemacht?
OT: Die Barmer hat am 21.10. in einer Stellungnahme gegenüber der OT-Redaktion erklärt, dass sie den Vertrag mit Meevo/Craftsoles so lange ruhen lasse, bis die rechtlichen Fragen des BAS geklärt seien – speziell, ob der Vertrag in allen Punkten konform mit den Anforderungen des HMV sei. Es hieß, es würden „gegebenenfalls Anpassungen im HMV“ angestrebt. Wie sehen Sie dieses Bestreben der Barmer?
Stephan: Die dahinterstehende Position in puncto Versorgungsqualität ist zumindest bemerkenswert. In dem vom GKV-Spitzenverband erstellten HMV werden Produkte auf Antrag von Herstellern bzw. deren Bevollmächtigten aufgenommen. Fortschreibungen bzw. Änderungen im HMV sollen mit Qualitätsverbesserungen einhergehen. Die Krankenkassen müssen bei ihren Verträgen mit Hilfsmittelleistungserbringern die Anforderungen des HMV an die Qualität der Hilfsmittel und der Versorgung zugrunde legen. Diese Steuerungswirkung wurde bislang von obersten Gerichten bestätigt, auch wenn das HMV im rechtlichen Sinn nicht bindend ist. Bedeutet die Aussage der Barmer also, dass sie das HMV in jetziger Form generell infrage stellt und die mit der PG 08 – Einlagen – verbundenen Qualitätsvorgaben für die Versorgung und die damit verbundenen Dienstleistungen absenken möchte? Frei nach dem Grundsatz: Was nicht passt, wird passend gemacht – wenn die qualitativen Ansprüche des HMV nicht erfüllt werden, muss eben das HMV geändert werden?
OT: Können solche Bestrebungen der Barmer Erfolg haben?
Stephan: Normalerweise nicht. Der GKV-Spitzenverband ist bei der Umsetzung des gesetzlichen Auftrags gemäß § 139 SGB V nicht frei in seinem Ermessen. Er hat den gesetzlichen Auftrag neutral anhand objektiver Kriterien umzusetzen. Die im Hilfsmittelverzeichnis festgelegten Qualitätsstandards haben nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt im Sinne des § 2 Abs.1 S.3 SGB V zu berücksichtigen. Es gilt nicht der Maßstab evidenzbasierter Medizin, sondern das Prinzip der Risikovorsorge. Insofern spielt vor allem der Meinungsstand ärztlicher Fachgesellschaften eine wesentliche Rolle bei der Bewertung von Versorgungsprozessen. Was allerdings in den öffentlichen Aussagen der Barmer negativ aufstößt, ist, dass der Eindruck entsteht, einzelne Krankenkassen können entsprechend ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Interessen Einfluss auf die Gestaltung des HMV nehmen. Wenn dies der Realität entspräche, wäre die Neutralität des GKV-Spitzenverbands generell infrage gestellt.
Corona-Pandemie keine Ausrede
OT: Etliche Sanitätshäuser haben während der Corona-Zeit ja auch Kontakte einschränken müssen, online versorgt und damit auch geworben – wo liegt denn da der Unterschied zur „E‑Versorgung“ der Barmer?
Stephan: Da hat der Gesetzgeber temporär unter Abwägung verschiedener Risiken kurzzeitig Einschränkungen geduldet. Trotzdem sind selbst in Pandemie-Zeiten reine Online-Versorgungen nicht die Regel gewesen, sondern es wurde trotzdem im Sanitätshaus Maß genommen, Füße und Schuhwerk wurden gesichtet. Nur die Abgabe der fertigen Einlagen fand in Abwägung des Risikos zwischen einer Corona-Infektion und einer Fehlversorgung im Versand statt. Aber durch das Maßnehmen im Betrieb wurde das Risiko der Fehlversorgung zumindest minimiert. Bei dem Versorgungskonzept der Barmer in Kooperation mit Meevo/Craftsoles bestehen viel mehr Fehlerquellen, da nicht nur das fertige Produkt versendet wird, sondern genauso der Prozess vor und nach der Fertigung generell komplett kontaktlos verläuft. Darin liegt der große Unterschied. Das ist also nicht vergleichbar.
OT: Welche rechtlichen Risiken birgt die von der Barmer derzeit ausgesetzte „E‑Versorgung“ für die Patient:innen?
Stephan: Die Versicherten werden durch die Selbstvermessung bei diesem Versorgungsvertrag einem unklaren Haftungsrisiko ausgesetzt. Es werden Aufgaben auf die Patient:innen verlagert, die eigentlich in die Hand von Expert:innen gehören. Sind die Einlagen fehlerhaft oder treten infolgedessen sogar Gesundheitsschäden auf, kann die Durchsetzung von Gewährleistungs- und Haftungsansprüchen gegen die Leistungserbringer aufgrund einer solchen Vertragsgestaltung erheblich erschwert sein.
OT: Warum das?
Stephan: Käme es zu einem Prozess, weil die gefertigten Einlagen fehlerhaft sind, könnten die verklagten Leistungserbringer einwenden: Wir sind für den Fehler nicht kausal verantwortlich, da der Fehler auf einer nicht korrekt durchgeführten Vermessung gründet. Letztlich erschwert eine solche Vertragsgestaltung die Durchsetzung von Haftungs- und Gewährleistungsansprüchen. Zum Beispiel stellt sich die Frage: Liegt der Fehler in der Messung oder in der Fertigung? Außerdem müssen die Krankenkassen ihre Versicherten entsprechend des Patientenrechtsgesetzes bei Haftungs- und Gewährleistungsansprüchen durch den Medizinischen Dienst (MDK) unterstützen. Dann können sie aber nicht Bedingungen festschreiben, die genau das erschweren. Im Klartext: Für die Versicherten ergibt sich eine Schwächung ihrer Rechtsposition.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
(1) Krankenkassen, ihre Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften schließen im Wege von Vertragsverhandlungen Verträge mit Leistungserbringern oder Verbänden oder sonstigen Zusammenschlüssen der Leistungserbringer über die Einzelheiten der Versorgung mit Hilfsmitteln, deren Wiedereinsatz, die Qualität der Hilfsmittel und zusätzlich zu erbringenden Leistungen, die Anforderungen an die Fortbildung der Leistungserbringer, die Preise und die Abrechnung. Darüber hinaus können die Vertragsparteien in den Verträgen nach Satz 1 auch einen Ausgleich der Kosten für erhöhte Hygienemaßnahmen infolge der Covid-19-Pandemie vereinbaren. Dabei haben Krankenkassen, ihre Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften jedem Leistungserbringer oder Verband oder sonstigen Zusammenschlüssen der Leistungserbringer Vertragsverhandlungen zu ermöglichen. In den Verträgen nach Satz 1 sind eine hinreichende Anzahl an mehrkostenfreien Hilfsmitteln, die Qualität der Hilfsmittel, die notwendige Beratung der Versicherten und die sonstigen zusätzlichen Leistungen im Sinne des § 33 Absatz 1 Satz 5 sicherzustellen und ist für eine wohnortnahe Versorgung der Versicherten zu sorgen. Den Verträgen sind mindestens die im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 Absatz 2 festgelegten Anforderungen an die Qualität der Versorgung und Produkte zugrunde zu legen.
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