Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung: Gefahr nicht gebannt

Die Barmer Ersatzkasse hat mit ihrem Konzept einer Online-Einlagenversorgung auf Rezept per Selbstvermessung und im Versand einen Rückschlag erhalten: Seit dem 18.10.2021 ist das Angebot ausgesetzt. Wie es weitergeht, erklärt Rechtsanwalt Nico Stephan von der Medizinrechtskanzlei Stephan & Hein Rechtsanwälte im OT-Gespräch.

OT: „Passt per­fekt, passt zu Dir“ – so der Wer­be­spruch für die Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung bzw. „E‑Versorgung“ der Bar­mer in Koope­ra­ti­on mit Meevo/Craftsoles – scheint doch nicht so gut zu einer qua­li­täts­ba­sier­ten Ver­sor­gung auf Kas­sen­re­zept zu pas­sen. Zumin­dest wur­de das Ange­bot vor­erst auf unbe­stimm­te Zeit aus­ge­setzt. Wie geht es nun weiter? 

Anzei­ge

Nico Ste­phan: Die­se Ent­schei­dung ist sicher­lich ein ers­tes posi­ti­ves Ergeb­nis des geschlos­se­nen Auf­tre­tens aller betrof­fe­nen Leis­tungs­er­brin­ger und ihrer Orga­ni­sa­tio­nen sowie der gegen­über dem Bun­des­amt für Sozia­le Siche­rung (BAS) vor­ge­tra­ge­nen mas­si­ven Bean­stan­dun­gen. Sie bestä­tigt unse­re Rechts­auf­fas­sung, dass die­ses Ver­sor­gungs­kon­zept mas­siv gegen gel­ten­des Recht ver­stößt. Den­noch dürf­te die Ange­le­gen­heit noch nicht voll­ends aus­ge­stan­den sein – nicht zuletzt auf­grund der unbe­frie­di­gen­den Ein­las­sung und recht­lich unprä­zi­sen Kom­mu­ni­ka­ti­on der Bar­mer. Der­zeit lau­fen Kla­ge­ver­fah­ren ver­schie­de­ner Betrie­be gegen die „E‑Versorgung“ vor den Sozi­al­ge­rich­ten. Wir gehen davon aus, dass schnel­le Ent­schei­dun­gen in der Recht­spre­chung für Klar­heit sor­gen werden.

OT: Wie schät­zen Sie die recht­li­che Zuläs­sig­keit der von der Bar­mer ange­bo­te­nen „E‑Versorgung“ ein? 

Ste­phan: Sie ist nach mei­ner Auf­fas­sung nicht zuläs­sig und ver­stößt ein­ein­deu­tig gegen das deut­sche Sozi­al­recht gemäß § 127 Abs. 1 Satz 4 und 5, SGB V. Sie unter­läuft unter ande­rem die Qua­li­täts­an­for­de­run­gen des Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis­ses (HMV) sowie den Anspruch an eine wohn­ort­na­he Ver­sor­gung und igno­riert die Emp­feh­lun­gen des Spit­zen­ver­bands Bund der Kran­ken­kas­sen (GKV-Spit­zen­ver­band), der die Abga­be eines Hilfs­mit­tels in einer prä­qua­li­fi­zier­ten Nie­der­las­sung als Regel­fall defi­niert. Schluss­end­lich stel­len die Ver­mes­sung und Anpas­sung – also Abdruck und Ein­pas­sung ins Schuh­werk – bei der Ver­sor­gung mit medi­zi­ni­schen Ein­la­gen auf Rezept Leis­tun­gen dar, deren Qua­li­tät die qua­li­fi­zier­ten Fach­leu­te in den Betrie­ben der Leis­tungs­er­brin­ger sicher­stel­len müs­sen und die sie selbst vor­zu­neh­men haben. Das kön­nen kei­ne Lai­en über­neh­men. Ich sehe eben­so einen Ver­stoß gegen die vom Gemein­sa­men Bun­des­aus­schuss (G‑BA) erlas­se­ne Hilfs­mit­tel­richt­li­nie, wonach die Leis­tungs­er­brin­ger die in der jewei­li­gen ärzt­li­chen Ver­ord­nung fest­ge­leg­te Ver­sor­gung über­prü­fen sol­len und im Zwei­fel unver­züg­lich Ver­bin­dung zu den Ärzt:innen auf­neh­men müs­sen. Die Hilfs­mit­tel­richt­li­nie ist Bestand­teil der Bun­des­man­tel­ver­trä­ge für die ver­trags­ärzt­li­che Ver­sor­gung. Vertragsärzt:innen müs­sen sich zwin­gend auf die in der Hilfs­mit­tel­richt­li­nie hin­ter­leg­ten Pro­zes­se ver­las­sen kön­nen. Die per­sön­li­che Kon­trol­le am Fuß durch qua­li­fi­zier­te Leis­tungs­er­brin­ger fin­det dem­entge­gen bei der „E‑Versorgung“ nicht statt.

Was nicht passt, wird pas­send gemacht?

OT: Die Bar­mer hat am 21.10. in einer Stel­lung­nah­me gegen­über der OT-Redak­ti­on erklärt, dass sie den Ver­trag mit Meevo/Craftsoles so lan­ge ruhen las­se, bis die recht­li­chen Fra­gen des BAS geklärt sei­en – spe­zi­ell, ob der Ver­trag in allen Punk­ten kon­form mit den Anfor­de­run­gen des HMV sei. Es hieß, es wür­den „gege­be­nen­falls Anpas­sun­gen im HMV“ ange­strebt. Wie sehen Sie die­ses Bestre­ben der Barmer? 

Ste­phan: Die dahin­ter­ste­hen­de Posi­ti­on in punc­to Ver­sor­gungs­qua­li­tät ist zumin­dest bemer­kens­wert. In dem vom GKV-Spit­zen­ver­band erstell­ten HMV wer­den Pro­duk­te auf Antrag von Her­stel­lern bzw. deren Bevoll­mäch­tig­ten auf­ge­nom­men. Fort­schrei­bun­gen bzw. Ände­run­gen im HMV sol­len mit Qua­li­täts­ver­bes­se­run­gen ein­her­ge­hen. Die Kran­ken­kas­sen müs­sen bei ihren Ver­trä­gen mit Hilfs­mit­tel­leis­tungs­er­brin­gern die Anfor­de­run­gen des HMV an die Qua­li­tät der Hilfs­mit­tel und der Ver­sor­gung zugrun­de legen. Die­se Steue­rungs­wir­kung wur­de bis­lang von obers­ten Gerich­ten bestä­tigt, auch wenn das HMV im recht­li­chen Sinn nicht bin­dend ist. Bedeu­tet die Aus­sa­ge der Bar­mer also, dass sie das HMV in jet­zi­ger Form gene­rell infra­ge stellt und die mit der PG 08 – Ein­la­gen – ver­bun­de­nen Qua­li­täts­vor­ga­ben für die Ver­sor­gung und die damit ver­bun­de­nen Dienst­leis­tun­gen absen­ken möch­te? Frei nach dem Grund­satz: Was nicht passt, wird pas­send gemacht – wenn die qua­li­ta­ti­ven Ansprü­che des HMV nicht erfüllt wer­den, muss eben das HMV geän­dert werden?

OT: Kön­nen sol­che Bestre­bun­gen der Bar­mer Erfolg haben?

Ste­phan: Nor­ma­ler­wei­se nicht. Der GKV-Spit­zen­ver­band ist bei der Umset­zung des gesetz­li­chen Auf­trags gemäß § 139 SGB V nicht frei in sei­nem Ermes­sen. Er hat den gesetz­li­chen Auf­trag neu­tral anhand objek­ti­ver Kri­te­ri­en umzu­set­zen. Die im Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis fest­ge­leg­ten Qua­li­täts­stan­dards haben nach der Recht­spre­chung des Bun­des­so­zi­al­ge­richts (BSG) dem all­ge­mein aner­kann­ten Stand der medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­se zu ent­spre­chen und den medi­zi­ni­schen Fort­schritt im Sin­ne des § 2 Abs.1 S.3 SGB V zu berück­sich­ti­gen. Es gilt nicht der Maß­stab evi­denz­ba­sier­ter Medi­zin, son­dern das Prin­zip der Risi­ko­vor­sor­ge. Inso­fern spielt vor allem der Mei­nungs­stand ärzt­li­cher Fach­ge­sell­schaf­ten eine wesent­li­che Rol­le bei der Bewer­tung von Ver­sor­gungs­pro­zes­sen. Was aller­dings in den öffent­li­chen Aus­sa­gen der Bar­mer nega­tiv auf­stößt, ist, dass der Ein­druck ent­steht, ein­zel­ne Kran­ken­kas­sen kön­nen ent­spre­chend ihrer jewei­li­gen wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen Ein­fluss auf die Gestal­tung des HMV neh­men. Wenn dies der Rea­li­tät ent­sprä­che, wäre die Neu­tra­li­tät des GKV-Spit­zen­ver­bands gene­rell infra­ge gestellt.

Coro­na-Pan­de­mie kei­ne Ausrede

OT: Etli­che Sani­täts­häu­ser haben wäh­rend der Coro­na-Zeit ja auch Kon­tak­te ein­schrän­ken müs­sen, online ver­sorgt und damit auch gewor­ben – wo liegt denn da der Unter­schied zur „E‑Versorgung“ der Barmer?

Ste­phan: Da hat der Gesetz­ge­ber tem­po­rär unter Abwä­gung ver­schie­de­ner Risi­ken kurz­zei­tig Ein­schrän­kun­gen gedul­det. Trotz­dem sind selbst in Pan­de­mie-Zei­ten rei­ne Online-Ver­sor­gun­gen nicht die Regel gewe­sen, son­dern es wur­de trotz­dem im Sani­täts­haus Maß genom­men, Füße und Schuh­werk wur­den gesich­tet. Nur die Abga­be der fer­ti­gen Ein­la­gen fand in Abwä­gung des Risi­kos zwi­schen einer Coro­na-Infek­ti­on und einer Fehl­ver­sor­gung im Ver­sand statt. Aber durch das Maß­neh­men im Betrieb wur­de das Risi­ko der Fehl­ver­sor­gung zumin­dest mini­miert. Bei dem Ver­sor­gungs­kon­zept der Bar­mer in Koope­ra­ti­on mit Meevo/Craftsoles bestehen viel mehr Feh­ler­quel­len, da nicht nur das fer­ti­ge Pro­dukt ver­sen­det wird, son­dern genau­so der Pro­zess vor und nach der Fer­ti­gung gene­rell kom­plett kon­takt­los ver­läuft. Dar­in liegt der gro­ße Unter­schied. Das ist also nicht vergleichbar.

OT: Wel­che recht­li­chen Risi­ken birgt die von der Bar­mer der­zeit aus­ge­setz­te „E‑Versorgung“ für die Patient:innen?

Ste­phan: Die Ver­si­cher­ten wer­den durch die Selbst­ver­mes­sung bei die­sem Ver­sor­gungs­ver­trag einem unkla­ren Haf­tungs­ri­si­ko aus­ge­setzt. Es wer­den Auf­ga­ben auf die Patient:innen ver­la­gert, die eigent­lich in die Hand von Expert:innen gehö­ren. Sind die Ein­la­gen feh­ler­haft oder tre­ten infol­ge­des­sen sogar Gesund­heits­schä­den auf, kann die Durch­set­zung von Gewähr­leis­tungs- und Haf­tungs­an­sprü­chen gegen die Leis­tungs­er­brin­ger auf­grund einer sol­chen Ver­trags­ge­stal­tung erheb­lich erschwert sein.

OT: War­um das?

Ste­phan: Käme es zu einem Pro­zess, weil die gefer­tig­ten Ein­la­gen feh­ler­haft sind, könn­ten die ver­klag­ten Leis­tungs­er­brin­ger ein­wen­den: Wir sind für den Feh­ler nicht kau­sal ver­ant­wort­lich, da der Feh­ler auf einer nicht kor­rekt durch­ge­führ­ten Ver­mes­sung grün­det. Letzt­lich erschwert eine sol­che Ver­trags­ge­stal­tung die Durch­set­zung von Haf­tungs- und Gewähr­leis­tungs­an­sprü­chen. Zum Bei­spiel stellt sich die Fra­ge: Liegt der Feh­ler in der Mes­sung oder in der Fer­ti­gung? Außer­dem müs­sen die Kran­ken­kas­sen ihre Ver­si­cher­ten ent­spre­chend des Pati­en­ten­rechts­ge­set­zes bei Haf­tungs- und Gewähr­leis­tungs­an­sprü­chen durch den Medi­zi­ni­schen Dienst (MDK) unter­stüt­zen. Dann kön­nen sie aber nicht Bedin­gun­gen fest­schrei­ben, die genau das erschwe­ren. Im Klar­text: Für die Ver­si­cher­ten ergibt sich eine Schwä­chung ihrer Rechtsposition.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

SGB V, § 127 Ver­trä­ge, Absatz 1, Satz 4 und 5:
(1) Kran­ken­kas­sen, ihre Lan­des­ver­bän­de oder Arbeits­ge­mein­schaf­ten schlie­ßen im Wege von Ver­trags­ver­hand­lun­gen Ver­trä­ge mit Leis­tungs­er­brin­gern oder Ver­bän­den oder sons­ti­gen Zusam­men­schlüs­sen der Leis­tungs­er­brin­ger über die Ein­zel­hei­ten der Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln, deren Wie­der­ein­satz, die Qua­li­tät der Hilfs­mit­tel und zusätz­lich zu erbrin­gen­den Leis­tun­gen, die Anfor­de­run­gen an die Fort­bil­dung der Leis­tungs­er­brin­ger, die Prei­se und die Abrech­nung. Dar­über hin­aus kön­nen die Ver­trags­par­tei­en in den Ver­trä­gen nach Satz 1 auch einen Aus­gleich der Kos­ten für erhöh­te Hygie­ne­maß­nah­men infol­ge der Covid-19-Pan­de­mie ver­ein­ba­ren. Dabei haben Kran­ken­kas­sen, ihre Lan­des­ver­bän­de oder Arbeits­ge­mein­schaf­ten jedem Leis­tungs­er­brin­ger oder Ver­band oder sons­ti­gen Zusam­men­schlüs­sen der Leis­tungs­er­brin­ger Ver­trags­ver­hand­lun­gen zu ermög­li­chen. In den Ver­trä­gen nach Satz 1 sind eine hin­rei­chen­de Anzahl an mehr­kos­ten­frei­en Hilfs­mit­teln, die Qua­li­tät der Hilfs­mit­tel, die not­wen­di­ge Bera­tung der Ver­si­cher­ten und die sons­ti­gen zusätz­li­chen Leis­tun­gen im Sin­ne des § 33 Absatz 1 Satz 5 sicher­zu­stel­len und ist für eine wohn­ort­na­he Ver­sor­gung der Ver­si­cher­ten zu sor­gen. Den Ver­trä­gen sind min­des­tens die im Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis nach § 139 Absatz 2 fest­ge­leg­ten Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät der Ver­sor­gung und Pro­duk­te zugrun­de zu legen. 

 

 

 

Tei­len Sie die­sen Inhalt