Einleitung
Das Tragen von Helmen und Protektoren in Risikosportarten gehört mittlerweile zum Alltag. Lediglich für das am häufigsten von Verletzungen betroffene Kniegelenk gibt es im Sport bislang keinen praktikablen Schutz. Und das, obwohl der technische Fortschritt auch im Skisport die Geschwindigkeit der Profi- wie Freizeitsportler deutlich erhöht hat.
Die Kniegelenke werden zusätzlich durch die Materialentwicklungen von den Ski mit höherer Steifigkeit, zum Beispiel bei Carving-Ski 1, belastet. Zudem beeinflussen die veränderten Schneebeschaffenheiten durch glatte, gepresste bzw. harte Schneeauflagen und der Einsatz von Kunstschnee das Kniegelenk. Grund genug für den Deutschen Skiverband, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen und sich die vom Internationalen Skiverband (FIS) aufgestellte Verletzungsliste, welche im Rahmen des „Injury surveillance system“ (ISS) vom Oslo Trauma Research Center (OSTRC) 2 3 geführt und veröffentlicht wird, näher anzuschauen.
Verschiedene Studien zeigten, dass die Verletzungen des Kniegelenkes mit ca. 36 % 3 deutlich führend sind. Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass mehrere Faktoren positive oder negative Auswirkung auf die Verletzungshäufigkeit haben können. Diese werden in interne und externe Faktoren 4 unterteilt. Dabei gelten als externe Faktoren zum Beispiel Hangpräparationen, Kurssetzung und das Athleten-Equipment bestehend aus dem System Skischuh, ‑bindung und Ski. Als interne Faktoren gelten Punkte wie die genetische Prädisposition, das heißt die muskuläre Veranlagung des Athleten, die Kraft, die Ausdauer und die neuromuskuläre Kontrolle im Sinne der Feinkoordination 5 und des Balancegefühles 6.
So lässt sich feststellen, dass einzelne Faktoren miteinander korrespondieren können, aber auch mehrere Faktoren sich zeitlich überlagern und so möglicherweise zu einer entsprechenden Knieverletzung führen.
Methodik
Grundsätzlich gelten im alpinen Rennsport wie auch in anderen Sportarten allgemeingültige Präventionsmöglichkeiten zum Schutz des vorderen Kreuzbandes 2. Dies sind eine gute muskuläre Stabilisierung des Kniegelenkes durch die Oberschenkelmuskulatur. Vor allem die ischiokrurale Muskulatur (sogenannte Hamstrings), welche synergistisch zum vorderen Kreuzband wirkt, ist als zusätzlicher Schutzfaktor vor ACL-Rupturen zu nennen. Dies ist insbesondere auf die regelmäßig hohen Knieflektionswinkel durch die Einnahme der aerodynamischen Körperhaltung (tiefe Hocke) auf den Ski in Speeddisziplinen zurückzuführen. Dort wird über eine gut trainierte Ischiokruralmuskulatur eine pathologische anteriore Tibiatranslation deutlich reduziert oder verhindert.
Nach der Auswertung von 20 Kreuzbandverletzungen im alpinen Ski World Cup in den Jahren 2006 bis 2009 3 wurde generell zwischen drei Verletzungsmechanismen unterschieden: „Slip-Catch“ (Rutschen und Fassen), „Dynamic Snowplow“ (dynamischer Schneepflug) und „Landing Back-Weighted“ (Landung in Rücklage). Diese wurden per Videoaufnahme analysiert und die biomechanischen Abläufe bei den entsprechenden Verletzungen ausgewertet.
Trotz zunehmender Kenntnisse von Belastung, Überlastung und Verletzungsmechanismen ist es bisher nicht gelungen, durch Training der Muskulatur oder sonstiger trainingsspezifischer Maßnahmen die Kreuzbandrupturen signifikant zu reduzieren. Da momentan noch keine aktuellen Untersuchungen und Studien zu dem Einsatz von Knieorthesen im alpinen Skirennlauf vorliegen, wurden andere Kontakt- und Risikosportarten zum Vergleich der präventiven technischen Maßnahmen herangezogen.
Nach Durchsicht der Literatur (n = 48 papers) entschied sich die Kommission, die drei Sportarten American Football (Abb. 1 u. 2), Motocross (Abb. 3 u. 4) und Eishockey (Abb. 5) näher zu beleuchten. Bei allen drei Risikosportarten mit Rasanztraumen werden Orthesen zur Prävention sowie Knieorthesen zur Reduktion des mechanischen Stresses des Kniegelenkes eingesetzt.
Eine Studie von Sanders 7 aus 2011 stellt fest, dass bei Knieverletzungen im Offroadsport vor allem das vordere Kreuzband, die Menisci und das Innenband betroffen sind. Von 2.115 Offroad-Fahrern mit 39.611 Fahrstunden verletzten sich 57 Sportler (2,7 %) im Zeitraum von einem Jahr relevant am Kniegelenk.
Laut dieser Studie weisen Sportler, die nicht mit Knieorthesen ausgerüstet waren, deutlich mehr Kreuzbandrisse und Innnenbandverletzungen auf als Sportler, die Knieorthesen nutzten. Dadurch scheint, dass der Einsatz von Knieorthesen einen positiven Effekt auf die Verletzungshäufigkeit hat. Wie sieht das bei Sportarten mit ähnlichen Krafteinwirkungen und Unfallmechanismen aus?
Es konnte anhand langjähriger Beobachtungen festgestellt werden, dass präventive Knieorthesenversorgungen im American Football und Motocross (Offroadsport) regelmäßig und häufig beidseits im Wettkampf und Training eingesetzt werden.
In Studien früherer Jahre 8 wurde der Einsatz von Knieorthesen zum Teil kontrovers diskutiert, was jedoch auf die noch unzureichende Funktion der Orthesen zurückzuführen war. Mittlerweile lassen der Einsatz von Kohlefaserrahmen und Titangelenken stabilere Konstruktionen zu als noch vor Jahren.
Doch vor allem die effektivere Erfassung der Topografie der Ober- und Unterschenkelmuskulatur und die verbesserte Berechnung des Kompromissdrehpunktes der polyzentrischen Gelenke stabilisiert das Gelenk wesentlich exakter, ohne die Beweglichkeit zu beeinträchtigen.
Im Eishockey scheint damit ebenfalls ein Trend zur Präventiv-Versorgung angestoßen zu sein. Zuerst wird das verletzte Kniegelenk (z. B. Kreuzbandriss mit oder ohne Innenband- sowie Meniskusverletzung) mit einer individuell gefertigten Knieorthese in Kohlefaserbauweise versorgt. Da dies zu keiner Beeinträchtigung der Performance des Athleten führt, lassen sich Sportler dann präventiv an der unverletzten Gegenseite ein Brace anfertigen, um prophylaktisch einer weiteren Verletzung entgegenzuwirken.
Daraus erwuchs der Wunsch, eine objektive Beurteilung in Form einer In-vivo-Messung an der Sporthochschule Köln, Institut für Biomechanik und Orthopädie, unter der Leitung von Prof. Brüggemann durchzuführen. Untersucht wurde ein Probant mit einer einseitigen, vorderen Kreuzbandruptur, mithilfe einer EMG-Ableitung mit angelegter Orthese bei verschiedenen Sprung- sowie schnellen, sportartspezifischen Schrittkombinationen. Hier konnte folgende Feststellung gemacht werden.
Eine individuell gefertigte Knieorthese (der untersuchten Form) ist bei dynamischen Belastungen in der Lage:
- Abduktions- und/oder Adduktionsmomente zu übernehmen.
- Rotationsmomente zu einem Teil zu tragen.
- Dabei beeinflusst die Knieorthese die Muskelaktivierung vor und in der Stützphase nicht negativ.
Nach dieser EMG-basierten Auswertung fand sich eine Expertengruppe aus Nationalmannschaftsärzten, Chef-Trainern Ski-Alpin, Experten des Olympiastützpunktes Bayern, Sportwissenschaftlern und Medizinern der TU München, Fertigungsexperten aus der Materialtechnologie und erfahrenen Orthopädie-Technikern aus dem Bereich Knieorthetik zusammen. Die Gruppe analysierte bestehende Systeme und Überlegungen zu Modifikationen und stellte weitere Messungen auf einem Kniesimulator an (Abb. 10).
- Als erste Modifikation wurde die Anbindung von Knieorthesen mittels Klettverschlüssen bei Eishockey-Torwarten und Motocross-Fahrern untersucht. Hier kam es zur ersten Modifikation des kniegelenknahen Oberschenkelverschlusses in Form eines teilelastischen Bandes, um die sogenannte „Butterfly-Stellung“ des Eishockey-Torwarts schneller und besser zu gewährleisten (Abb. 7 u. 8). Das Entfernen des kniegelenknahen Oberschenkelverschlusses wurde ebenfalls bei Offroad-Fahrern getestet und als Variationsmöglichkeit aufgenommen.
- Als zweite Modifikation kam eine Rahmenkonstruktion zur Verwendung. Sie beinhaltete eine Fensterung der Ober- und Unterschenkelschale zur Besserung des Tragekomforts für den Athleten (Abb. 9).
- Als dritte Modifikation wurden teilflexible Schalen an Ober- und Unterschenkel getestet, die das Gleiten des alpinen Skirennläufers im flachen Gelände weniger beeinflussen und eine verbesserte Feinkoordination in schnellen Gleitpassagen ermöglichen sollen.
Anschließend wurden weitere Messungen auf einem Kniesimulator der Technischen Universität Berlin durchgeführt. In den Tests wurde die bisher eingesetzte traditionelle K‑COM-Knieorthese mit der sogenannte K‑COM-Präventionsorthese (Version Ski-World Cup) verglichen. Letztere enthält drei Modifikationen (Abb. 10 u. 11).
Auf dem Prüfstand konnten die vordere Schublade, die Innen- und Außenrotation und die Varus- und Valgus-Stellung im Vergleich beider Knieorthesen zueinander gemessen und verglichen werden.
So konnten Innen- und Außenrotation bei jeweils 20°, vordere und hintere Schublade bei jeweils 20 mm und die Gegenmomente bei Varus- und Valgus-Stellung von jeweils 6° gemessen und gegenüber gestellt werden.
Das Ergebnis stellte die Stabilisierung im Sinne des Rückhaltes der vorderen Schublade von über 430 N dar, was einen guten Wert aufzeigt.
Wie erwartet, konnte im Sinne der Rotation und des Varus- und Valgus-Stresses die modifizierte Knieorthese in beiden Szenarien „Real-Test“ und „Best Case“ das Ergebnis der Original K‑COM-Knieorthese nicht erreichen. Zudem gab es aufgrund der weichen Ausführung der Ober- und Unterschenkelschale einen signifikanten Stabilitätsunterschied. Dies steht den Ergebnissen des Schubladentestes (Tibiatranslation 20 mm) gegenüber. Hier konnte im „Best Case“-Szenario kein signifikanter Unterschied zwischen den zwei Orthesen gemessen werden. Nur in der Korrelation der Tibiatranslation von „Real“ vs. „Best“ war eine Signifikanz der modifizierten Orthese erkennbar.
Nach der Auswertung der gemessenen Testeinstellungen und den daraus resultierenden positiven Ergebnissen wurden Trainingsläufe mit drei Nationalkader-Athleten (DSV-Rennläufer) in einer Skihalle durchgeführt.
Es wurden drei Sportler beidseitig mit Knieorthesen versorgt (Männlich, Alter 21,3 ± 1,1 Jahre, Größe 176,3 ± 4,1 cm, Gewicht 76,2 ± 2,6 kg) (Abb. 12).
Trainingssession am Morgen
Einfahren (frei in der Halle sowie in einem gesteckten Slalom) mit und ohne angelegten Orthesen.
Trainingssession nachmittags
Einfahren (frei in der Halle und in einem gesteckten Slalom) mit angelegten Orthesen.
Darauf erfolgten fünf Fahrten mit Orthese und vier Fahrten ohne Orthese. Hierbei wurden Trainingszeiten gemessen, Videoaufzeichnungen analysiert und ausgewertet 9 10 sowie Performance und subjektive Eindrücke mittels Messungen und eines Fragebogens erhoben. Es konnten folgende Ergebnisse festgestellt werden:
- Subjektiv wurden anfänglich negative Einflüsse in Bezug auf Beweglichkeit und Beschleunigung von den Athleten angegeben.
- Es konnten durch Videoaufzeichnungen und Zeitmessungen keinerlei Unterschiede bei den Fahrten mit und ohne Orthese verzeichnet werden.
- Subjektiv wurde ein stabilisierender Faktor im Sinne der Verletzungsprophylaxe angegeben.
- Nach Abschluss aller Tests und Messungen wurde der anfänglich negative Einfluss von Knieorthesen relativiert und von den Athleten als minimal eingestuft.
Aufgrund der Praxis-Tests und Aussagen der Rennläufer wurde eine vierte Modifikation an den Orthesen durchgeführt: Eine U‑förmige Rahmenkonstruktion stabilisiert am Oberschenkel medial und lateral (Abb. 13 u. 14). Gleichzeitig wird der sich stark verändernde Anteil des m. rectus femoris durch ein weiches aber nicht dehnbares Band verbunden. Der kniegelenknahe Oberschenkelverschluss dorsalseitig entfällt und im Unterschenkelschalenbereich kommt eine medial und lateral anliegende Y‑förmige Schalenkonstruktion zum Einsatz.
Ergebnisse und Diskussionen
Die Auswertungen von Tests, Messungen und subjektiven Aussagen lassen folgende Schlussfolgerung und Ergebnisse zu:
- Es konnte gezeigt werden, dass Knieorthesen keinen signifikanten negativen Einfluss auf die Performance des Sportlers haben (Test Skihalle: Trainingszeitenvergleich + Videoanalyse).
- Die Muskelfunktion wird durch das Tragen von Orthesen nicht negativ beeinflusst (Sporthochschule Köln – Prof. Brüggemann).
- Die Weiterentwicklung der Rahmenkonstruktion und Softshell-Fassung bringt keine signifikante Verschlechterung der Stabilisierung im Sinne der vorderen Schublade (TU Berlin – Prof. Kraft).
- Die vierte Modifikation im Sinne der semielastischen Anlage des mittleren Drittels des m. rectus femoris sowie die Entfernung des kniegelenknahen Oberschenkelverschlusses führen zu einer deutlichen Akzeptanzverbesserung beim Sportler.
Es sollten weitere Überarbeitungen der Adaption der Knieorthese am Sportlerbein geprüft werden. Jedoch zeigt sich nach kurzer Eingewöhnungszeit 4 die zuerst geäußerte subjektive Einschränkung der Athleten als deutlich geringer. Nach Aussage der Probanten geben die Orthesen dem Knie ein Sicherheitsgefühl.
Eine individuelle Anfertigung ist Voraussetzung für ein gutes Ergebnis im Leistungssport. Nach weiteren Modifikationen kam eine große Anzahl von Orthesen mittlerweile im American Football im Motocross und Eishockey zum Einsatz. Inzwischen fahren auch einige Rennläufer bei alpinen Skirennen mit Orthesen auf einer oder beiden Seiten im Sinne der präventiven Versorgung. Wobei von doppelseitig versorgten Rennläufern auch schon Podiumsplätze erreicht werden konnten (Abb. 15 u. 16).
Schlussfolgerung
Die überarbeitete Konstruktion der K‑COM-Knieorthese in der World Cup-Ausführung findet bei den Profis immer mehr Anklang und gibt ihnen Sicherheit. Die großen Auflagenflächen der Ober- und Unterschenkelschale scheint dabei die Propriozeption subjektiv zu verbessern. Eine der vorderen Schublade entgegenwirkende Kraft durch die Orthese, konnte objektiv auf dem Kniesimulator nachgewiesen werden. Die Beweglichkeit des Athleten wird dabei nicht eingeschränkt. Die Adaption der Orthese am Sportlerbein mittels Klettverschlüssen muss weiter überarbeitet und optimiert werden. Sie kann, in einer mit besserem Tragekomfort ausgestatteten Adaption, für noch bessere Compliance sorgen. Da es nachgewiesen werden konnte, dass die Orthese das Kniegelenk schützt und nicht zu einer Leistungsbeeinträchtigung führt, scheint die Entwicklung einer Präventiv-Orthese zur Vermeidung von Kreuzbandrupturen, Frakturen und Knorpelschäden im alpinen Skisport angestoßen zu sein. Es gilt jetzt, noch besser geeignete Materialien zur Anbindung der Orthese an das Sportlerbein zu finden.
Der Autor:
Hartmut Semsch, OMM
ORTEMA GmbH
Kurt-Lindemann-Weg 10
71706 Markgröningen
Hartmut.Semsch@ortema.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
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- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
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