In diesem Kontext verbessert das Exoskelett „Paexo“ den Komfort bei Überkopftätigkeiten. In der hier vorgestellten Prinzipstudie werden in einer Laborsituation metabolische und elektromyografische Parameter während einer typischen Überkopfarbeit erhoben, um die Wirkung des Exoskeletts objektiv zu bewerten. Aus den Resultaten folgt, dass die Anwendung des Exoskeletts den metabolischen Aufwand des Nutzers signifikant verringert. Die elektromyografische Analyse belegt, dass mit dem Exoskelett insbesondere die Belastung der Schulterregion deutlich reduziert wird.
Einleitung
Arbeitsbedingte muskuloskelettale Erkrankungen (MSE) sind in Deutschland und Europa der häufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit und damit ein bedeutender Kostenfaktor für Unternehmen und Gesundheitssysteme1. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beziffert die Produktionsausfallkosten durch Krankheiten des Bewegungsapparats im Jahr 2016 für Deutschland auf 17,2 Mrd. Euro2. Überkopfarbeit kann dabei eine Ursache von MSE sein, die oft von Schmerzen begleitet sind. Dies gilt insbesondere, wenn Zusatzgewichte in Form von Werkzeugen gehalten werden müssen 3 4 5. Bei Arbeiten mit erhobenen Armen über 90° Anteversion, die einen Anteil von mehr als 10 % der Arbeitszeit einnehmen, zeigt sich ein bis zu zwei Drittel erhöhtes Risiko von MSE im Schulterbereich. Hieraus kann man folgern, dass diese Haltungen im direkten Zusammenhang mit extrem erhöhten Belastungen des Schultergelenks stehen 6. Ergonomische Maßnahmen wie der Einsatz von Handhabungshilfsmitteln (z. B. handgeführte Manipulatoren) haben sich in einigen Bereichen als vorteilhaft erwiesen. Jedoch sind die geringe Nutzerakzeptanz aufgrund von Zeitverzögerungen, des erhöhten „Bewegungsaufwandes“ sowie der Mangel an notwendiger Flexibilität bei der Arbeitsausführung ein großer Nachteil 7. Somit können diese industriellen Roboter die notwendige Flexibilität menschlicher Bewegungen in der Produktion momentan nicht adäquat ersetzen.
Eine Alternative zur Unterstützung von Überkopfarbeiten stellt die Nutzung von Exoskeletten dar. Exoskelette sind am Körper getragene externe Strukturen, die bei einer Vielzahl von Aufgaben unterstützend wirken können und somit in der Lage sind, die Leistung des Nutzers zu verbessern. Individuell an den Menschen angepasste Exoskelette haben das Potenzial, die beschriebenen Nachteile bisheriger Robotersysteme zu reduzieren. Dabei müssen sie den hohen Ansprüchen an Funktionalität, Sicherheit und Komfort im Arbeitsalltag entsprechen und zu einer hohen Akzeptanz führen. In diesem Kontext kommt dem objektiven Nachweis des Anwendernutzens eine große Bedeutung zu. Im vorliegenden Beitrag werden erste Untersuchungen vorgestellt, mit denen der Effekt eines passiven Exoskeletts bei einer typischen Überkopfarbeit messtechnisch erfasst und geprüft wird. Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl die Erfassung metabolischer Parameter als auch die muskulär bedingte Belastung des Schultergelenks.
Methoden
Verwendetes Exoskelett
„Paexo“ (Abb. 1) ist ein neuartiges passives Exoskelett, das mit 1,9 kg äußerst leicht im Vergleich mit funktionell ähnlichen Systemen ist 89. Die passiven Aktuatoren speichern die Energie aus der Bewegung und geben sie ab, wenn sie benötigt wird. Beim Tragen des Exoskeletts erfährt der Nutzer während des Arbeitens mit erhobenen Armen (Überkopftätigkeiten) eine spürbare Entlastung des Schultergelenks, indem das Armgewicht abhängig von der Haltung des Oberarms kompensiert wird. Die Oberarme sind dazu in einer Armschale gelagert, die über eine Schiene mit einem Gelenk verbunden ist. Dieses Gelenk ist mit einer beweglichen Strebe verbunden und kann sich ähnlich dem Schulterblatt über den Rücken bewegen. Die Kraft wird über einen Gurt in die Hüftregion eingeleitet (Prinzip Wanderrucksack).
Die Streben auf dem Rücken können sich unabhängig voneinander bewegen und erlauben so eine vollständige Bewegungsfreiheit des Oberarms und des Rückens. Das Gelenk ist vollständig frei beweglich und befindet sich in Höhe des Schulterblattes. Über verschiedene Einstellmöglichkeiten kann das Exoskelett individuell an den Nutzer angepasst werden. Dabei sind in erster Linie die Einstellung anthropometrischer Größen sowie die Anpassung der Unterstützungskraft wichtig. Ist das Exoskelett bereits an den Nutzer angepasst, kann es in weniger als 20 Sekunden wie ein Wanderrucksack angelegt werden. „Paexo“ wurde zusammen mit Anwendern der Automobilindustrie entwickelt und in der Serienfertigung getestet 10.
Simulation einer typischen Überkopfarbeit unter Laborbedingungen
Zur Simulation einer typischen Überkopfarbeitssituation (Abb. 1) wurde im Biomechaniklabor ein modifiziertes Regal mit einem höhenverstellbaren Aufgabenmodul ausgestattet (Abb. 2a). Auf dem Modul befinden sich die Adaptionen für die über Kopf auszuführenden Aufgaben. Zur Schaffung gleicher Voraussetzungen für jeden Probanden wurden die Ösenhaken des Moduls auf Augenhöhe des Probanden positioniert (Abb. 2b). Die Testaufgabe für die Probanden bestand darin, mit einem Akkuschrauber (1,5 kg) während der gesamten Messzeit mit der rechten oberen Extremität über Kopfhöhe zu arbeiten; die linke obere Extremität fungierte unterstützend (Aus- und Einschrauben von Schrauben, Abb. 3).
Probandengruppe
Als Probanden wurde eine Gruppe von 12 Personen ohne bekannte orthopädische oder neurologische Erkrankungen rekrutiert (24 ± 3 Jahre, 176 ± 15 cm, 73 ± 15 kg, 6 männlich, 6 weiblich). Die Probanden hatten keinerlei Vorerfahrung in der Nutzung von Exoskeletten.
Versuchsdurchführung
Nach einer Erläuterung des Studiendesigns wurden alle Probanden in die korrekte Ausführung der Messaufgabe eingewiesen, einschließlich eines ca. 20-minütigen „Trainings“ mit komplett angelegter Messtechnik.
Für den eigentlichen Messablauf wurden die Probanden in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe führte die Aufgabe zweimal mit Exoskelett und einmal ohne Exoskelett (A‑B-A) aus, die zweite Gruppe zweimal ohne Exoskelett und einmal mit Exoskelett (B‑A-B). Hierdurch sollte die Auswirkung von Adaptationseffekten auf die Resultate minimiert werden. Die Messdauer jeder Ausführung betrug fünf Minuten, um das Erreichen des physiologischen „Steady-State“ zu gewährleisten. Die Pausenzeit zwischen jeder Einzelausführung betrug ca. 20 Minuten. Vor jeder Ausführung wurden in einer zweiminütigen sitzenden Position die Ruhewerte der metabolischen Parameter erfasst. Nach der Belastung erfolgte die Werteermittlung für weitere zwei Minuten ebenfalls in sitzender Position.
Die elektromyografischen Signale wurden von den Anteilen des M. deltoideus (acromialis, clavicularis und spinalis) und des M. trapezius (ascendens, transversa und descendens) sowie des M. biceps brachii gemessen. Dies ermöglicht die Erfassung eines detaillierten Bildes der Aktivität der Schultermuskulatur während der Durchführung der Arbeitsaufgabe. Die Messung des M. triceps brachii war aufgrund der Armschalen nicht möglich.
Messtechnik
Metabolische Parameter
Die Messung der Sauerstoffaufnahme („O2 rate“, Breath-by-Breath-Methode) erfolgte mit dem mobilen Ergospirometriesystem „MetaMax®3B“ (Cortex Biophysik GmbH, Leipzig, Deutschland). Bei dieser Messung ist die simultane Erfassung der Herzfrequenz mit einem Sporttester „T31“ integriert (Polar Electro GmbH, Büttelborn, Deutschland).
Elektromyografische Parameter
Zur Erfassung der elektromyografischen Parameter wurde das kabellose System „Noraxon Telemyo DTS“ (Noraxon, Scottsdale, USA; Messfrequenz 1000 Hz) genutzt. Dabei wurden Elektroden vom Typ „Blue Sensor P“ (Ambu GmbH, Frankfurt, Deutschland) verwendet.
Datenaufbereitung
Metabolische Parameter
Zur Bestimmung der Ruhewerte (Sauerstoffaufnahme und Herzfrequenz) wurden alle Werte der jeweils letzten Minute vor der Ausführung der Messaufgabe gemittelt. Aus den Daten der fünfminütigen Messaufgabe wurden ebenfalls die Mittelwerte der letzten Minute, also im anzunehmenden „Steady-State“, berechnet. In der letzten Minute der abschließenden Ruhemessung erfolgte eine weitere Datenerhebung. Die beschriebene Parameterermittlung wurde für die Messdurchgänge mit und ohne Exoskelett gleichermaßen angewendet. Die Werte aller Probanden bildeten die Grundlage für die Errechnung der Gruppenmittelwerte beider Messsituationen.
Elektromyografische Parameter
Die Rohsignale der EMG-Werte wurden gleichgerichtet und Artefakte (u. a. „Übersprechen“ von EKG-Signalen) durch spezielle Algorithmen eliminiert 11. Abschließend erfolgte eine Signalglättung mit einem RMS-Filter (Fenstergröße 100 ms). Aus den fünfminütigen Aufzeichnungen wurde ein Amplitudenmittelwert für jeden Muskel gebildet, Basis für die Gruppenmittelwerte der beiden zu vergleichenden Situationen.
Zur Bestimmung der Muskelermüdung wurde der „Muscle Fatigue Index“ (MFI) bestimmt 12. Dieser Index beschreibt eine Verschiebung der mittleren Frequenz des elektromyografischen Signals in Richtung niedriger Frequenzen, wenn ein Muskel unter näherungsweise statischen Bedingungen ermüdet. Dazu wurde die gesamte Zeitreihe des Roh-EMG in zehnsekündige Perioden ℗ unterteilt und in jedem dieser Abschnitte die mittlere Frequenz bestimmt. Der Anstieg der Regressionsgeraden, die sich aus den mittleren Frequenzen im Zeitverlauf errechnen lässt, bildet den numerischen Wert des MFI. Der MFI wird dabei in der Einheit (s*P)-1 angegeben. Negative Werte repräsentieren die Ermüdung eines Muskels.
Statistik
Zur Prüfung von Unterschieden zwischen den Gruppenmittelwerten wurde der nichtparametrische Wilcoxon-Test verwendet. Als Signifikanzniveau wurden die Irrtumswahrscheinlichkeiten p < 0.05 (signifikante Differenz) und p < 0.01 (hochsignifikante Differenz) festgelegt.
Ergebnisse
Metabolische Parameter
Die gemessenen Ruhewerte vor und nach der Belastung zeigen für die Messdurchgänge mit und ohne Exoskelett sowohl für Sauerstoffaufnahme als auch Herzfrequenz keine signifikanten Differenzen. Während der Arbeitsaufgabe wurde eine signifikante Reduktion der Herzfrequenz um 7 % und für die Sauerstoffaufnahme um 11 % gemessen, wenn das Exoskelett genutzt wird (Abb. 4 u. 5).
Elektromyografische Parameter
Für die Parameter, die sich aus der mittleren EMG-Amplitude ableiten, ergeben sich ausnahmslos signifikante Effekte, deren Ausprägung muskelspezifisch ist. Die mittlere Amplitude sinkt bei Nutzung des Exoskeletts für alle Anteile des M. deltoideus und für den M. biceps brachii zwischen 40 und 48 %, für die Anteile des M. trapezius zwischen 18 und 34 % (Abb. 6).
Der Muskelermüdungsindex MFI beträgt ohne Exoskelett zwischen ‑0.44 und ‑0.62 (s*P)-1 für die Anteile des M. deltoideus sowie für den M. biceps brachii und sinkt für diese Muskeln signifikant auf Werte zwischen ‑0.08 und ‑0.21 (s*P)-1, wenn die Arbeitsaufgabe mit Exoskelett ausgeführt wird. Der MFI für die Anteile des M. trapezius ist ohne Exoskelett verglichen mit den anderen analysierten Muskelanteilen deutlich geringer. Mit Exoskelett wurde eine signifikante Reduktion des Parameters für den unteren Anteil dieses Muskels gemessen (Abb. 7).
Diskussion
Mit der vorliegenden Prinzipstudie soll die biomechanische Wirkung des Exoskeletts „Paexo“ im Rahmen einer Laborsituation, die den Bedingungen realer Arbeitsabläufe nahekommt, mit objektiven Messverfahren untersucht werden. In der Arbeitsmedizin gilt die (Oberflächen-)Elektromyografie als Standardverfahren, um die individuelle Muskelbeanspruchung und ‑ermüdung zu testen 13. Der parallel erfasste Sauerstoffverbrauch kann unter definierten Bedingungen (Belastungsintensität nicht im maximalen Bereich und Belastungszeit nicht über etwa 30 Minuten) als Indikator für den metabolischen Energieverbrauch angesehen werden 14. Zusammen mit der Herzfrequenz ist die Sauerstoffaufnahme somit ein Maß für die Gesamtbeanspruchung des Organismus bei nichtmaximaler Arbeit, die aus physiologischer Sicht durch das Erreichen eines „Steady-State“-Niveaus gekennzeichnet ist 15.
Die nichtsignifikanten Differenzen der Ruhewerte der metabolischen Parameter belegen, dass die im Versuchsdesign festgelegten Pausenzeiten zu einer vollständigen Erholung der Probanden führen und dass somit die Vergleiche der Arbeitsaufgaben aussagekräftig sind. Die bei Nutzung des Exoskeletts ermittelten reduzierten Werte für Herzfrequenz und Sauerstoffaufnahme entsprechen einer Reduktion der Gesamtbeanspruchung des Organismus, die in ähnlicher Weise in einer früheren Studie ermittelt wurden 16. Die Stärke des Effekts, der für den Nutzer des Systems deutlich positiv spürbar ist 17, wurde in einer solchen Größenordnung beispielsweise im Bereich orthetischer Hilfsmittel nur bei Vergleichen von Komponenten nachgewiesen, die extrem differente Funktionsprinzipien aufweisen1819.
Die elektromyografischen Parameter dokumentieren in eindeutiger Weise die drastische Reduktion der muskulären Beanspruchung, wenn der Anwender das Exoskelett nutzt. Die Resultate korrelieren mit Befunden aus anderen Arbeiten, die ähnliche Effekte für einzelne Muskeln im Bereich der Schulter nachwiesen 20 21. Mit der vorliegenden Untersuchung ist aufgrund der komplexen Erfassung mehrerer Muskelgruppen erkennbar, dass die Reduktion der muskulären Beanspruchung in den Anteilen des M. deltoideus und im M. biceps brachii am stärksten ausgeprägt ist. Da zudem die beiden Arbeitsaufgaben in vergleichbaren Gelenkwinkelstellungen ausgeführt wurden (Abb. 3), kann aus den Befunden im Sinne einer Plausibilitätsbetrachtung geschlossen werden, dass die notwendigen Muskelkräfte insbesondere im M. deltoideus beträchtlich reduziert sind 22. Eine Folge der Reduktion von Muskelkräften ist die Reduktion der internen Gelenkkompressionskräfte, was aus prognostischer Sicht über längere Zeiträume zu verringerten Verschleißerscheinungen führen könnte 23 24.
Bei der Analyse der Werte für den Muskelermüdungsindex ist zu beachten, dass die Bestimmung des MFI für statische Bedingungen gültig ist 25 26. Die hier untersuchte Arbeitsaufgabe kann näherungsweise als statisch beschrieben werden. Die ermittelte Reduktion des MFI, gleichbedeutend mit einer drastischen Verringerung der lokalen Muskelermüdung bei Nutzung des Exoskeletts, ist wiederum muskelspezifisch (stärkste Effekte im M. deltoideus und im M. biceps brachii). Die Verringerung des MFI korreliert auch mit den metabolischen Werten, da unter aeroben Energiebereitstellungsprozessen eine verringerte Sauerstoffaufnahme ein Maß für eine verringerte notwendige Versorgung des Skelettmuskels mit Sauerstoff ist 27.
Fazit und Ausblick
Die Ergebnisse zeigen, dass die Verwendung des getesteten Exoskeletts prinzipiell zu einer Belastungsreduktion in der zu unterstützenden Schulterregion führt. Die auch unmittelbar positiv empfundene Wirkung ist demzufolge mit einer hohen Akzeptanz durch den Nutzer verbunden. Um zu testen, ob diese Belastungsreduktion auch für komplexe Anwendungsfälle und variierende Nutzergruppen als zutreffend anzunehmen ist, werden in Zukunft weitere wissenschaftliche Untersuchungen mit unterschiedlichen Probandengruppen und in Form von Feldstudien durchgeführt. Der heutige Wissens- und Forschungsstand lässt noch keine verlässlichen Aussagen hinsichtlich einer langjährigen generellen positiven gesundheitlichen Wirkung der Belastungsreduktion und der Umverteilung von Kräften im Kontext des Berufsalltages zu 28. Dies unterstreicht ebenfalls die Notwendigkeit weiterer systematischer Untersuchungen. Dadurch wird auch sichergestellt, dass neue Erkenntnisse in die zukünftige Entwicklung industrieller Exoskelette einfließen können. Dabei ist der Dialog zwischen Anwendern, Arbeitswissenschaftlern und Herstellern essentiell. Der primäre Aspekt dabei ist das Wohl des Nutzers mit der bestmöglichen Entsprechung seiner Bedürfnisse, um eine möglichst hohe Anwenderakzeptanz sicherzustellen.
Für die Autoren:
Dr. Thomas Schmalz
Ottobock SE & Co. KGaA, Bereich Clinical Research & Services/Biomechanics
Hermann-Rein-Straße 2a
37075 Göttingen
schmalz@ottobock.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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