Gemeinsam haben die beiden Krankenkassen eine potenzielle Reichweite von rund 20 Millionen GKV-Versicherten. Die Vereinbarung basiert auf der neuen Struktur des Hilfsmittelverzeichnisses (HMV) des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) und dem aktuellen Qualitätsstandard der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV), festgehalten im Kompendium der Organisation. Versorgungsdaten von 2.500 Meisterbetrieben sind in das Ergebnis eingeflossen, denn die Grundlage für die Kalkulation der Fertigungszeiten sowie Leistungsbeschreibungen bildet das vom BIV-OT herausgegebene Handbuch zum Versorgungsstandard in der PG 24. Was sich durch den Vertrag für die Betriebe ändert, erklärt Albin Mayer, BIV-OT-Vizepräsident und Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses, der die Verhandlungen seitens des Bundesinnungsverbandes führte.
OT: Herr Mayer, Sie haben die Verhandlungen zum neuen PG-24-Vertrag mit Barmer und Techniker Krankenkasse (TK) im Namen des BIV-OT geführt. Was bedeutet dieser Vertrag für die Branche?
Albin Mayer: Dieser Vertrag mit Barmer und Techniker ist ein Meilenstein für alle Betriebe, die Menschen mit einer Amputation versorgen und die dafür nötige individuelle Prothese handwerklich in der eigenen Werkstatt fertigen. Die Leistungen unseres Handwerks wurden anerkannt, die einzelnen Arbeitsschritte detailliert in den Verhandlungen erläutert und akzeptiert. Letzten Endes bedeutet dies, dass jetzt endlich eine ordentliche handwerkliche Kalkulation die Grundlage für einen Vertragspreis ist.
Enormer Mehrwert für prothetische Versorgung
OT: Die Vereinbarung basiert auf der Struktur des neuen Hilfsmittelverzeichnisses (HMV) des GKV-Spitzenverbands. Was verbessert sich dadurch – für die Betriebe und nicht zuletzt für die ca. 20 Millionen Versicherten der beiden gesetzlichen Krankenkassen?
Mayer: Wir alle haben uns sehr gefreut, dass der GKV-Spitzenverband die PG 24 – untere Extremitäten – neu erarbeitet hat. Die Betonung liegt hier bewusst auf „neu erarbeitet“. Denn damit sind alle aktuellen Herstellungstechniken in der Schaftgestaltung sowie die entsprechenden Zusatzausstattungen ausführlich und klar beschrieben. Selbst für die Funktionsteile zum Beispiel der Kniegelenke oder Füße wurden eindeutige Strukturen geschaffen. Die Dienstleistungsbestandteile für elektronisch unterstützte Funktionsteile werden ebenfalls dargestellt. Eine zeitgemäße Beschreibung haben genauso die Interimsprothesen erhalten. Insgesamt werden Leistung und Ausführung einer prothetischen Versorgung sehr deutlich dargelegt – inklusive der Arbeitsschritte, die eingehalten werden müssen. Dazu gehört das Erproben im häuslichen Umfeld. Für die Versicherten bedeutet diese Neuregelung einen enormen Mehrwert in der prothetischen Versorgung. Denn den Leistungserbringern ist es nun möglich, nach dem aktuellen Stand der Technik zu versorgen und für diese Dienstleistung adäquat vergütet zu werden. Vorher war das nicht der Fall.
OT: Worin liegt der deutlichste Unterschied?
Mayer: Vorher lief alles über eine Mischkalkulation mit sehr ungenauer Beschreibung. Der eine oder andere Leistungserbringer hat sehr exakt und genau gearbeitet. Andere haben nur das getan, was unbedingt sein musste. Das ist zwar nicht korrekt gewesen, doch so hat sich der Markt leider entwickelt. Jetzt aber hat jeder Leistungserbringer die Möglichkeit, mit einer hohen Qualität prothetisch zu versorgen. Alle Orthopädietechniker können nun ihr ganzes Können einsetzen, ihr Fachwissen unter Beweis stellen und bekommen dies auch vergütet – zum Wohle der Menschen mit Amputationen.
Weiterbildung erforderlich
OT: Welche grundlegenden Änderungen bringt der neue Vertrag den Betrieben im Alltag?
Mayer: Das Ergebnis für den einzelnen Betrieb ist positiv, denn der Vertrag ist aus der Sicht des Handwerks wirtschaftlich. Die Dienstleistung am Kunden ist darin ebenso zu 100 Prozent berücksichtigt wie die Fertigung einer Prothese. Verglichen mit seinen Vorgängern blieb bei diesem Vertrag kein Stein auf dem anderen. Natürlich ist das HMV in Bezug auf die PG 24 eine neue Herausforderung. Kalkulatorisch und bei der Leistungsbeschreibung hat sich einfach alles verändert. Man kann das neue Handbuch mit dem alten nicht vergleichen. Die Betriebe müssen sich jetzt weiterbilden und im Umgang mit dem Vertrag innerhalb ihrer Strukturen schulen. Die Kostenträger erwarten zu Recht eine sehr hohe Qualität und wir müssen unsere Kunden bestmöglich versorgen, um Lebensqualität zu erhalten.
OT: Was ändert sich bei der Kalkulation der Fertigungszeiten sowie den Leistungsbeschreibungen?
Mayer: Änderungen in der Kalkulation wurden durch neue Arbeitsschritte oder andere technische Herstellungsprozesse erforderlich und entsprechend eingesetzt. Die Fertigungszeiten haben sich in den meisten Fällen nach oben entwickelt, in wenigen nach unten. Das liegt in der Bewertung der aktuellen Fertigungstechnik begründet sowie an den besonderen Anforderungen, die heute gestellt werden. Die letzten Kalkulationen wurden vor gut 15 Jahren erbracht, in Nachfolge der Bundesprothesenliste (BPL). Hier sei beispielhaft die Vorfußprothese erwähnt. Damals, zu Zeiten der BPL, wurden der aktuelle Stand und der tatsächliche Aufwand für eine Vorfußprothese nicht berücksichtigt. Vor 15 Jahren hat man das etwas korrigiert, doch aus Gründen des Zeitmangels nicht grundsätzlich neu gestaltet. Wir haben diese Kalkulationen komplett neu aufgebaut, analog der Versorgungsart und Technik von heute. Auch die Europäische Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation, MDR) hat Auswirkungen auf die Kalkulation. Da ist völlig klar, dass ein höherer Aufwand den Preis nach oben korrigiert. Bei Interimsprothesen stellen die Hersteller jetzt MDR konforme Interimspakete für Struktur und Funktionsteile zur Verfügung. Mit den Herstellern wurde das Erproben verschiedener Funktionsteile innerhalb der sechsmonatigen Interimszeit vereinbart. Die Leistungsbeschreibung der Interimsprothese beschreibt deutlich, dass mindestens zwei Funktionsteile erprobt werden müssen. Das wird dokumentiert und bei der Beantragung der Definitivversorgung vorgelegt. Somit wird der Prüfungs- und Genehmigungsprozess beschleunigt.
OT: Welche Punkte sind insbesondere für kleinere Betriebe interessant?
Mayer: Alles ist wichtig, jeder einzelne Punkt, der verhandelt wurde. Es gilt, die neuen Vereinbarungen eins zu eins umzusetzen, die beschriebene Leistung zu erbringen und auf eine hohe Qualität des Produkts zu achten. Der Vertrag ist sowohl für kleinere Unternehmen ein Erfolg als auch für größere. Er ermöglicht, wieder neue Impulse in der Werkstatt zu setzen – durch Investitionen in neue Techniken, Fortbildungen etc. Das war bisher aufgrund der kargen finanziellen Lage im Handwerk gerade für kleinere Betriebe ein Hindernis.
Komplexe Verhandlungen
OT: Wie lange haben die Verhandlungen gedauert, wie konstruktiv waren die Verhandlungsrunden?
Mayer: Das war schon eine unendliche Geschichte, zumindest haben wir das gemeinsam im Lauf der Verhandlungen so wahrgenommen. Vor vier Jahren war bekannt, dass es eine neue Struktur der PG 24 im HMV geben wird. Deshalb wollte niemand einen neuen Vertrag auf Basis des alten HMV abschließen – weder die Barmer und die TK noch der BIV-OT. Die Verhandlungen waren zunächst für zwölf Monate angesetzt, für diese Zeit vereinbarten wir eine Übergangslösung auf Basis des Altvertrags mit einer prozentualen Steigerung und fügten noch die Entgelte für einige Einzeltätigkeiten der Versorgung hinzu. Aber aufgrund der sehr hohen komplexen Anforderung innerhalb der PG 24 reichte die Zeit nicht aus, wir haben um weitere zwölf Monate verlängert. Es waren sehr schwere und harte Verhandlungen, aber sie waren nicht unfair! Wer den neuen Vertrag genau liest, der erkennt die Mammutaufgabe. Die Beschreibungen der Leistungen ist eine umfangreiche Arbeit, genauso wie andererseits das Preisniveau. Für die beiden Kostenträger eine Herausforderung. Gerade die Einigung um die Höhe der Preise wurde von allen Seiten hart erkämpft. Doch TK und Barmer haben von Beginn an erkannt, dass auch wirtschaftlich etwas geschehen muss, wenn man seinen Versicherten eine Versorgung nach Stand der Technik anbieten will. Natürlich müssen Kassen auf Beitragsstabilität und Kosten achten. Der Wille zum Verhandeln, zur lösungsorientierten Kommunikation war daher immer gegeben. Im Ergebnis haben wir den Spagat zwischen Beitragsstabilität und Versorgungsqualität sehr gut gemeistert.
OT: Die meisten haben solche Verhandlungen noch nicht erlebt. Wie muss man sich das Prozedere vorstellen?
Mayer: Das ist schwer zu beschreiben. Man sitzt in einer Konferenz mit zehn bis 20 Teilnehmern. Es gibt zwei Seiten bzw. Parteien, die unterschiedliche Sichtweisen haben – vor allem beim Geld. Da Kosten aber nur im Verhältnis zu den Leistungen zu sehen sind, wird auch um die Leistungen gerungen. Was ist nötig und was nicht? Daher sind neben den Experten in Sachen Prozesse, betriebswirtschaftliche Kalkulationen etc. natürlich auch Experten aus dem Fach am Tisch. Es folgen viele Diskussionen in fachlicher Sicht und dann im Hinblick auf die Vergütung. Weil ein Einzelner das Ganze kaum überblicken kann und auch die entsprechenden Marktdaten nicht zur Verfügung hat, gibt es ja uns als Verbände. Wir greifen hier auf bundesweite und valide Daten zurück, können auf anerkannte Expertise in jeder Produktgruppe zurückgreifen, denn für Krankenkassen muss jede Forderung natürlich transparent und valide hinterlegt sein. Bei der Verhandlung über die Versorgung von gut 20 Millionen Versicherten bedeutet wohnortnahe Versorgung, dass man bundesweite Daten benötigt – hier reicht eine Kalkulation von Einzelhäusern nicht aus.
OT: Wie hat sich die Pandemie auf die Verhandlungen ausgewirkt?
Mayer: Besondere Herausforderungen und Schwierigkeiten entstanden durch die Videokonferenzen, direktes Verhandeln war ja auf weiten Strecken nicht möglich. Dadurch kommen Missverständnisse auf. Zeitweise bestand sogar die Gefahr des Scheiterns der Verhandlungen. Deshalb haben wir auf der Seite der Leistungserbringer innerhalb der Verhandlungsrunde eine Arbeitsgruppe gebildet, um zunächst die vertragliche Struktur und die Leistungsbeschreibungen zu erarbeiten. Das Wirtschaftliche blieb erst einmal außen vor. Das war eine gute Entscheidung, auch wenn infolgedessen weitere Monate ins Land gingen. Doch die spezielle Situation der Pandemie trägt einen großen Anteil am Zeitverlust. Alles in allem waren es sehr konstruktive Verhandlungen und mein aufrichtiger Dank geht an das ganze Team von Barmer und TK sowie an meine Mitstreiter aus dem BIV-OT, vor allem an die enorm fleißigen Ehrenamtsträger.
OT: Was sollten die Betriebe jetzt tun, wenn sie den Vertrag ab 1. Oktober 2021 umsetzen wollen?
Mayer: Zuerst dem Vertrag beitreten. Der BIV-OT bietet unter „Mein Sanitätshaus“ das entsprechende Tool. Voraussetzung ist die Präqualifizierung (PQ). Unbedingt erforderlich ist, den gesamten Vertrag zu lesen – nicht nur den Preisteil. Hilfreich ist sicher eine Vertragsschulung. Und das wäre schon alles, um teilzunehmen.
OT: Inwieweit kann dieser Vertrag als Vorbild für andere Vertragswerke dienen?
Mayer: Es handelt sich bereits um den siebten Vertrag in der PG 24 nach dem neu strukturierten HMV, den der BIV-OT geschlossen hat. Aber natürlich ist dieser Vertrag mit der Barmer und TK ein Vorbild für andere Kostenträger. Schon allein die Reichweite von mehr als 20 Millionen Versicherten bundesweit verstärkt die Ausstrahlung. Diese beiden Krankenkassen sind die größten Kostenträger.
OT: Welches Echo kam bislang aus der Branche und von Krankenkassen?
Mayer: Von der Branche haben wir beim BIV-OT noch kein sehr großes Echo gehört. Die Obermeister und Delegierten haben den Vertrag sehr begrüßt und dem BIV-OT gedankt. Sie haben dem BIV-OT ja den Verhandlungsauftrag gegeben. Das Echo seitens der Kostenträger war bisher positiv. Auch wenn der Vertrag mit Kostensteigerungen verbunden ist, so gehen sie einen deutlichen Schritt in Richtung Versorgungsqualität für ihre Versicherten. Doch es gibt natürlich auch Stimmen, die sagen, das alles sei zu teuer. Allerdings halten sich die Steigerungen im Rahmen und wurden sehr transparent auf den Tisch gelegt. Daher darf man das nicht überbewerten. Qualität und Versorgungszeit wurden bei den Kostenträgern bisher als sehr positiv gewertet. Das eigentliche Lob muss von den Menschen mit Amputationen kommen – dann haben wir gemeinsam alles richtig gemacht.
Fachkräfte ordentlich vergüten
OT: Der Verband der Ersatzkassen e. V. (VDEK) fordert in seinen aktuellen gesundheitspolitischen Positionen zur Bundestagswahl 2021 die Rückkehr von Hilfsmittel-Ausschreibungen, moniert lange Verhandlungen und spricht von „unrealistischen Preisforderungen“, die „mitunter 100 bis 200 Prozent“ über den vorherigen Preisen lägen. Wie ordnen Sie diese Forderungen ein?
Mayer: Es ist ja bekannt, dass Versicherte sich massiv über Hilfsmittel innerhalb der Ausschreibung beschwert haben. Nicht akzeptable Lieferzeiten, kein Service, Reparaturen mit Wartezeiten bis zu vier Monaten, keine wohnortnahe Versorgung – und vor allem schlechte Qualität. Die meisten Versicherten mussten extra noch eine wirtschaftliche Eigenleistung zur Finanzierung leisten. Alles bekannt, alles gemeldet von Bürgerinitiativen und Patientenverbänden. Eigentlich muss man nur die Begründung des Gesetzgebers lesen, die zum Verbot der Ausschreibungen geführt hat: „Zu dem erhofften Qualitätswettbewerb im Rahmen von Ausschreibungen ist es nicht gekommen. Angesichts der nach wie vor bestehenden Risiken durch Ausschreibungen für die Versorgungsqualität wird die Ausschreibungsoption in § 127 Absatz 1 aufgehoben.“ Wer heute das Gegenteil behauptet, befindet sich auf der völlig falschen Straße. Ausschreibungen stellen die Versicherten an den Rand der Gesellschaft, vor allem die Menschen mit Behinderungen. Ich persönlich empfinde so eine Aussage als beschämend.
OT: Was sagen Sie zu den „unrealistischen Preisforderungen“ bzw. Preissteigerungen?
Mayer: Preissteigerungen von 200 Prozent? In diese Diskussion würde ich gerne in aller Öffentlichkeit gehen! Ein Beispiel: Vor 14 Jahren hat ein Badewannenlifter 495 Euro gekostet. Innerhalb der Ausschreibung lag der Preis bei 110–165 Euro. In den neuesten Verträgen von 2021 liegt der Lifter zwischen 165–225 Euro. Die Laufzeiten der Fallpauschalen lagen vor 14 Jahren in der überwiegenden Mehrheit bei 1–2 Jahren, neuerdings erstrecken sich die Laufzeiten bis zu vier Jahre, was de facto auch einer Preissenkung gleichzustellen ist.
Also weit unter den Preisen, die vor der Ausschreibung galten – und keine 200-prozentige Steigerung! Hier werden nur Schlagzeilen erzeugt, ohne Hintergründe und Wahrheiten zu benennen. Zu den Verhandlungen: Die dauern nur dann zu lange, wenn die Einigungsbereitschaft fehlt. Wir haben komplexe OT-Verträge mit allen Produktgruppen in einem Vertrag innerhalb von drei Monaten verhandelt. Das geht. An dieser Aussage des VDEK ist klar und deutlich zu erkennen, wie man über die Leistungserbringer denkt. Wir versorgen Menschen mit Erkrankungen und Behinderungen hautnah, lindern Schmerzen, korrigieren Fehlstellungen. Wir schaffen Mobilität, Zuversicht und bringen Menschen zurück ins Leben. All diese komplexen Aufgaben werden von Fachkräften erledigt. Die haben ein Anrecht auf eine ordentliche Vergütung. Mit Dumpingpreisen stellen wir die Fachkräfte und die Qualität infrage.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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