Welche Rolle individuelle Covergestaltungen von Prothesen für die Selbstakzeptanz von Prothesenträgern spielen können, erklärt die Silber- und Bronzemedaillen-Gewinnerin der Paralympics in Rio de Janeiro (2016), Weltmeisterin (2018), Weltcup-Siegerin (2018) und Deutsche Meisterin (2018) im Gespräch mit der OT-Redaktion.
OT: Wie haben Sie als Kind und Jugendliche Ihre Prothesenversorgung wahrgenommen?
Denise Schindler: Als Kind will man sich einfach nur bewegen. Beim Orthopädietechniker musste ich aber immer still sitzen und mich auch anfassen lassen. Daher habe ich das Anpassen und Tragen meiner Prothese lange Zeit als ein übles Muss empfunden. Erst mit zunehmendem Alter habe ich verstanden, dass mir gerade die Prothesenversorgung mit ihren für mich nicht immer angenehmen Prozessen hilft, Druckstellen zu verhindern und das Gehen, Laufen und Springen zu ermöglichen. Mit dieser Erkenntnis konnte ich aus der Zwangsbeziehung zum Orthopädietechniker und zur Prothese richtig Nutzen ziehen. Übrigens bin ich noch heute beim gleichen Orthopädietechniker.
OT: Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Prothesen reagiert?
Schindler: Ich bin zwar in Chemnitz geboren, aber in einer dörflichen Idylle in Bayern aufgewachsen. Dort war ich als einziges Kind mit einer Einschränkung quasi die Dorf-Attraktion und stigmatisiert wie ein Kriegsversehrter. Als Kind störte mich selbstverständlich diese Aufmerksamkeit. Man will ja in dem Alter eher ins Schema passen, statt aufzufallen. Das war nicht leicht. Deshalb habe ich versucht, meine Prothese so gut es ging, zu verstecken, indem ich lange Hosen trug oder im Freibad auch mal ein Handtuch über mich gelegt habe. Außerdem trug ich kosmetische Prothesen. Im Kaschieren meiner Behinderung war ich sehr gut!
OT: Was haben Sie bei der Ausgestaltung Ihrer Prothesen besonders geschätzt und was vermisst?
Schindler: Natürlich habe ich die Funktionalität der Prothesen geschätzt, die mir im ersten Schritt die Freiheit der Bewegung und im nächsten Schritt den Sport ermöglicht haben. Allerdings habe ich eine gewisse Leichtigkeit vermisst. Ich glaube, rückwirkend hätte es mir als Kind gutgetan, wenn ich beispielsweise meine Lieblingscomicfigur auf der Prothese hätte abbilden können. Die Prothese als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit zu sehen, hilft, sie anzunehmen.
OT: Was reizt Sie am 3D-Druck-Verfahren für Prothesen?
Schindler: Als Radrennfahrerin muss ich sehr technikaffin sein, denn unsere Räder sind pure Hightech. Sportlichkeit allein reicht nicht, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Insofern hatte ich einen leichteren Zugang zu digitalen Techniken als viele andere. Seit 2015 beschäftige ich mich mit 3D-Druck und bin begeistert, wie viel Einfluss ich als Trägerin auf die Gestaltung meiner Prothese nehmen kann. Anders als beim traditionellen Herstellungsprozess, bei dem zunächst ein Gipsabdruck genommen, danach ein Probeschaft und später der finale Schaft erstellt wird, kann ich mithilfe von Software Form und Funktionalität schnell in vielfältiger Weise ausprobieren. Zum Beispiel kann ich verschiedene Strukturen oder aerodynamische Formen austesten. Im Radsport macht es ja nachweislich einen Unterschied, welche Steifigkeit und Aerodynamik die Sportprothese aufweist.
OT: Warum wurden Sie 2019 Markenbotschafterin für die Firma Mecuris?
Schindler: Ehrlich gesagt, ich bin ein echtes Fashion-Victim. Ich liebe es, Frau zu sein, Hotpants zu tragen oder einen kurzen Rock. Meine Prothese gehört zu mir, sodass ich sie nicht mehr verstecken will. Das heißt aber auch, dass meine Prothese jeweils zu meinem Outfit passen sollte, wie ein Paar Schuhe. Wie jeder andere Mensch auch, ziehe ich mich je nach Gelegenheit und Stimmung anders an, möchte meine Persönlichkeit mit Kleidung und Prothesencover ausdrücken. Ich freue mich jedes Mal riesig, wenn ich an der Gestaltung eines Prothesencovers gemeinsam mit den Kollegen von Mecuris arbeiten kann. Mittlerweile habe ich drei Cover: fürs Baden, für den Alltag und für Gala-Auftritte. Wenn Sie sich für Badelatschen oder High Heels entscheiden, wähle ich zwischen meinem türkis-schwarzen Cover für meine Badeprothese, meinem schwarzen Alltagscover oder meinem weißen Gala-Cover für den Auftritt auf dem roten Teppich. Damit bringt mir die Prothese nicht nur die Bewegungsfreiheit für das Freibad oder den roten Teppich, sondern auch Spaß, Leichtigkeit und Selbstbewusstsein.
Dieses positive Lebensgefühl kann ich als Markenbotschafterin anderen Menschen mit Amputationen vermitteln. Gerade frisch Amputierten fällt es besonders schwer, die neue Lebenssituation anzunehmen, wobei es für alle Amputierten schwer ist, ein Leben lang auf eine Prothese angewiesen zu sein.
Prothesencover finde ich, entschuldigen Sie den Ausdruck, geradezu „geil“, weil so viel Bedeutung da drinsteckt: Sie sind ein Statement, ein Schlüssel für die eigene Identität und die Selbstakzeptanz, die wiederum die Wahrnehmung eingeschränkter Menschen durch nicht eingeschränkte beeinflusst. Als in der Öffentlichkeit stehende Frau kann ich etwas an der Wahrnehmung von Prothesenträgern ändern. Wenn ich beispielsweise mit meiner Prothese mit Gala-Cover über den roten Teppich gehe und damit ein Stigma durchbreche, sehe ich, wie sich etwas in den Köpfen der Menschen bewegt. Etwas scheinbar so Einfaches wie ein individuelles Cover verändert Denkprozesse.
OT: Wo sehen Sie weitere Potenziale für die digitale Prothesenversorgung?
Schindler: Die Digitalisierung bietet zahlreiche Potenziale für die Prothesenversorgung: Sie wird nachhaltig in die klassischen Orthopädie-Technik einziehen, diese ergänzen, aber nicht ersetzen. Zudem macht sie den Beruf des Orthopädietechnikers noch spannender, ja sogar sexy. Letzteres hilft sicher bei der Nachwuchssuche. Digitalisierung steht für Individualisierung der Prothesenversorgung, heute kommt ja vieles noch von der Stange. Darüber hinaus beschleunigt und verbessert sie die Herstellungsprozesse etwa durch Scans, sodass dem Orthopädietechniker mehr Zeit für seine Patienten bleibt. Und viertens: Der 3D-Druck ist noch in den Babyschuhen. Da kommen jedes Jahr Innovationen hinzu, die die Prothesenversorgung auch in Zukunft bereichern werden. Eine davon ist aus meiner Sicht das Plattformangebot von Mecuris, das ja eine Brücke zwischen OT und IT – zwischen Orthopädietechnikern und digitalem Know-how – baut. Die digitale Technik verbessert die Orthopädie-Technik und das Feedback der Handwerker verbessert die Plattform. Ich erhoffe mir vor allem noch mehr Individualität durch die 3D-Fertigung zum Beispiel, dass ich bald mit meiner Alltagsprothese auch baden gehen kann oder dass sich mehr Menschen eine Prothese für den Breitensport leisten können, damit sie wieder oder überhaupt erst den Sport für sich entdecken. Damit könnte man auch Folgeschäden wie Rückenschmerzen für Prothesenträger vermindern.
OT: Welche Rolle spielt der Sport in Ihrem Prozess zur Selbstakzeptanz?
Schindler: Ganz klar war für mich der Sport ein Wendepunkt in meinem Leben. Unter den gerade erwähnten Rückenschmerzen habe ich als unsportliches Kind und Jugendliche sehr gelitten. Mit dem Sport etwa durch den Aufbau einer guten Grundmuskulatur kann man solche Folgeerscheinungen ausgleichen, stärkt damit den Körper und natürlich das Selbstbewusstsein. Eine Grundsportlichkeit ist auch hilfreich, wenn man wieder mal eine Entzündung hat und für eine gewisse Zeit auf den Rollstuhl angewiesen ist. Es ist eben nicht immer kinderleicht, eine Amputation zu haben.
Dennoch muss man nicht wie ich gleich „am Rad drehen“. Aber die Erfolge im Radrennsport haben mich natürlich bestärkt – ich bin viel selbstsicherer und entspannter. Daher konnte ich eben auch viele Jahre bewusst auf kosmetische Prothesen verzichten. Das war ein längerer, aber natürlicher und geradezu befreiender Prozess, den ich dem Sport zu verdanken habe. Als Mensch mit einem Handicap steckt man schnell in der Schublade „das kann ich nicht mehr“. Auch andere vermitteln einem die Botschaft „das kannst du nicht mehr“. Mit dem Leistungssport kann ich mir sagen „das kann ich“ und ich kann mein Lebensgefühl, meine Mentalität weitergeben, indem ich die Botschaft sende „du kannst das“. Dieser Spirit hilft mir in den weniger guten Momenten meines Lebens, aber auch Menschen, die noch nicht so weit auf dem Weg der Selbstakzeptanz sind.
OT: Was bedeutet die Corona-Pandemie für ihre Zukunftspläne als Sportlerin?
Schindler: Der Coronavirus SARS CoV-2hat auch mein Leben ganz schön durcheinandergebracht. Eigentlich hätte in diesem Sommer meine dritte Paralympics-Teilnahme auf dem Programm gestanden. Nun sind die Spiele in Tokio auf 2021 verschoben. Das ist auch gut so: Angesichts des Kampfes gegen die weltweite Pandemie gibt es wichtigeres als olympische oder paralympische Spiele. Ich bin sehr dankbar, dass ich gesund bin. Nachdem ich die letzten neun Jahre aus dem Koffer gelebt habe, kann ich sogar meinen ersten Sommer zu Hause ein wenig genießen, auch wenn ich mir dafür andere Umstände gewünscht hätte. So nutze ich die Zeit für ein Reset, um zu trainieren, Kraft zu tanken und mehr Zeit mit Freunden zu verbringen.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
Update: Denise Schindler startet bei den Paralympics in Tokio für Deutschland in der Disziplin Para Radsport.
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