Im Gespräch mit der OT-Redaktion berichten sie von ihrer Arbeit im Programm- und Workshopkomitee sowie von den Kongresshighlights. Außerdem zeigen sie auf, welche Herausforderungen die Branche aktuell und künftig beschäftigen.
OT: Herr Pfefferkorn, während der vergangenen Ausgaben der OTWorld waren Sie Besucher und Referent, 2024 stehen Sie als Kongresspräsident an vorderster Front. Werden Sie mit einem anderen Gefühl nach Leipzig fahren?
Ingo Pfefferkorn: Die OTWorld ist alle zwei Jahre fester Bestandteil in meinem Terminkalender, sei es als Besucher oder als Referent. Als Orthopädietechniker und Kongresspräsident 2024 an vorderster Front zu stehen, ist für mich etwas ganz Besonderes und eine Ehre zugleich und erfüllt mich mit Stolz. Nach Leipzig zu reisen ist wie nach Hause zu kommen, nicht nur weil Leipzig meine Geburtsstadt ist, sondern weil Leipzig nun schon Jahrzehnte durch die OTWorld international für die Technische Orthopädie höchsten Stellenwert besitzt und der umfangreiche fachliche Austausch kaum Vergleichbares bietet.
OT: Herr Prof. Wirth, mit Ihnen und Herrn Pfefferkorn als Kongressspitze reichen sich bei der OTWorld Medizin und Technik die Hände. Wie spiegelt sich das in der Programmgestaltung wider?
Thomas Wirth: Alle Sitzungen und Workshops werden aus beiden Blickwinkeln geplant, sodass sich für alle Angebote verzahnte, aktuelle medizinische und orthopädietechnische Inhalte von interdisziplinärem Charakter ergeben.
OT: Um das Programm vielfältig, professionsübergreifend und damit für alle Zielgruppen zu gestalten, setzen Sie bei der Zusammenstellung zeitweise auch die Brille Ihrer Kolleg:innen auf. Fällt Ihnen dieses Umdenken immer leicht?
Wirth: Wir sind interdisziplinäres Arbeiten gewöhnt, es repräsentiert unsere tägliche Realität. Interdisziplinär meint sowohl zwischen medizinischen Fachdisziplinen als auch zwischen Berufsgruppen. So führen wir gerade in der Neuroorthopädie gemeinsame Sprechstunden mit Physiotherapeuten und Orthopädietechnikern durch, aber auch in der Extremitätenrekonstruktion und in der Behandlung von Wirbelsäulendeformitäten.
OT: Bereits für die OTWorld 2022 waren Sie, Herr Pfefferkorn, Mitglied des Programmkomitees, vorher des Kurskomitees, für 2024 haben Sie die Präsidentschaft übernommen. Was hat Sie dazu motiviert?
Pfefferkorn: Durch die Mitarbeit im Programm- und Kurskomitee der OTWorld der vergangenen Jahre ist mir der Part der wissenschaftlichen Programmorganisation bekannt. Das Amt des Kongresspräsidenten anzunehmen, ist nochmal eine ganz andere Herausforderung. Die Zeit, die für dieses Amt ehrenamtlich investiert werden muss, setzt Verständnis im beruflichen und familiären Bereich voraus. Die Unterstützung wird mir hier zuteil und hat mich zusätzlich motiviert, das Amt anzutreten.
Deutliche Versorgungslücken
OT: Prof. Wirth, bei der ersten Programmkomitee-Sitzung im Februar betonten Sie, dass Ihr Fach „momentan vor die Wand gedrückt ist“. Ein Grund für Sie, die Themen Kinder-/Jugend- und Neuroorthopädie in den Fokus der OTWorld 2024 zu rücken. Was braucht es für einen Wandel?
Wirth: Mein klinischer und wissenschaftlicher Schwerpunkt ist der Bereich der Kinder- und Jugendorthopädie und ‑traumatologie. Seit Jahren kämpft die Kinder- und Jugendmedizin um die Erhaltung ihrer stationären und ambulanten Behandlungskapazitäten, muss Bettenreduzierungen und Schließungen ganzer Abteilungen verkraften, weil sie im Rahmen der ökonomisierten Medizin im Zeitalter der DRG (Diagnosis Related Groups, Patientenklassifikationssystem für ein pauschalisiertes Abrechnungsverfahren, Anm. der Red.) dem Kostendruck bei deutlich höheren Vorhaltekosten nicht Stand halten kann. Auch die Kinder- und Jugendorthopädie und ‑traumatologie hat dieses Schicksal ereilt. Einfach gesagt: Kinder- und Jugendorthopädie lohnt sich nicht, kostet Geld, statt positive Erlöse zu generieren, ist also für Kliniken unwirtschaftlich. Das macht ein wunderbares Teilgebiet auch für junge Menschen wenig ansprechend. Sich in diesem Umfeld auf einem guten Niveau gegen den Druck der Verwaltungen zu behaupten, erfordert viel Selbstbewusstsein und ist sehr mühsam. Aber wir spüren bereits deutliche Versorgungslücken und inakzeptabel lange Wartezeiten auf notwendige Behandlungen. Dazu kommt der Pflegekraftmangel auf den Stationen und in den Funktionsbereichen, sodass man deshalb gelegentlich weitere Leistungsreduktionen hinnehmen muss. Diese Umstände machen das Fach auch für den Nachwuchs unattraktiv, sodass ich mit großer Skepsis in die Zukunft blicke. Für einen Wandel braucht es zunächst eine auskömmliche Finanzierung der kinder- und jugendorthopädischen und ‑traumatologischen Leistungen, um das Argument, nur Defizite mit diesem Teilgebiet zu erzeugen, zu entkräften. Dann brauchen wir bessere Verdienstmöglichkeiten in diesem Teilgebiet, um den Nachwuchs darauf zu stoßen, sowie eine viel bessere und breitere Präsenz und Ausbildung an den Universitäten und in den orthopädischen Universitätskliniken. Die Fachgesellschaften und Berufsverbände engagieren sich sehr für diese Ziele. Natürlich sind gerade diese genannten Schwierigkeiten ein wichtiger Grund, die Kinder- und Jugendorthopädie mit all ihren Teilbereichen, beispielsweise der Neuroorthopädie, in den Fokus zu rücken.
OT: Das praxisorientierte Workshop-Programm steht bereits. Was ist Ihr Highlight?
Wirth: Das Programm wird von vielen Highlights gesäumt. Für mich sind natürlich die kinderorthopädischen Themen besonders spannend, und ich freue mich vor allem auf die Workshops zu den Wirbelsäulendeformitäten und komplexeren Systemerkrankungen wie Skelettdysplasien und Erkrankungen mit weichen Knochen.
OT: Herr Pfefferkorn, Sie selbst werden zwei Workshops auf der OTWorld anbieten. Worauf können sich die Teilnehmer:innen freuen?
Pfefferkorn: In den Workshops „Osseointegration“ und „Materialien – Verbindungstechniken“, in Kooperation mit der FOT, stehen Themen praxisorientiert im Fokus, die in der Orthopädie-Technik diskutiert werden. Die osseointegrierten Prothesensysteme nehmen zu und verlangen Antworten auf Patientenklientel, OP-Verfahren, Adaptionsmöglichkeiten, Compliance für eine qualitätsgerechte Prothesenversorgung. Die Orthopädie-Technik zeichnet sich in der Hilfsmittelfertigung durch die Verwendung unterschiedlicher Materialien und Werkstoffe aus. Ein Materialmix ist nicht selten die Lösung für bestimmte erforderliche Eigenschaften des herzustellenden Hilfsmittels. Wie sind diese Materialien sicher, belastbar zusammenzufügen, was ist hier verbindungstechnisch aktuell, wirtschaftlich und sogar nachhaltig möglich und was schließt womöglich einander aus?
Nachhaltigkeit im Fokus
OT: Ihnen liegt das Thema Materialforschung am Herzen. Wo stehen wir heute? Wo kann bzw. soll es hingehen?
Pfefferkorn: Im Hinblick auf Materialforschung hat sich in der Orthopädie-Technik in den vergangenen Jahren vieles getan. Kunststoffe haben ein breites Anwendungsgebiet. Thermoplast- und Faserverbundkunststoffe und Elastomere werden vielfältig in der Hilfsmittelfertigung eingesetzt. Digitalisierte Prozesse mit z. B. additiven Herstellungsverfahren wie dem 3D-Druck beschäftigen die Forschung hinsichtlich erforderlicher Materialeigenschaften für Hilfsmittel. Nachhaltigkeit und Ökologie sind Stichworte, die bei der Materialkomponente immer mehr an Bedeutung gewinnen, sind doch viele Sonderanfertigungen derzeit noch aufwendig zu entsorgen. Hier gibt es noch viel zu tun.
OT: Bereits bei der ersten Sitzung im Februar betonte das Programmkomitee, die Kongressteilnahme übersichtlicher, einfacher und transparenter gestalten zu wollen. Ist das gelungen?
Wirth: Wir haben sehr großen Wert auf gut nachvollziehbare und sichtbare Strukturen innerhalb des Programms gelegt, und ja, ich finde, dass diese Strukturanpassung von unserer Seite aus gelungen ist. Am Ende entscheidet aber der Kongressteilnehmer, ob unser Ansinnen gelungen ist.
OT: Die Mitarbeiter:innen im Sanitätsfachhandel werden 2024 gezielt eingebunden. Warum dieser Schritt?
Wirth: Viele Mitarbeiter im Sanitätsfachhandel haben ihr Interesse an Vertiefungsmöglichkeiten ihrer Kenntnisse zum Ausdruck gebracht, um besser beraten und auf die Bedürfnisse der Patienten eingehen zu können. Deshalb ist ihre Einbindung über spezielle Angebote ein logischer Schritt.
OT: Herr Pfefferkorn, als Vorsitzender bzw. Mitglied anderer Vereinigungen sind Sie mit Kongressen bestens vertraut. Welche Unterschiede stellen Sie im Vergleich zur OTWorld fest?
Pfefferkorn: Die OTWorld ist die größte und vielfältigste Veranstaltung, die sich mit Themen der Technischen Orthopädie weltweit auseinandersetzt. Das macht sie einzigartig.
OT: Die OTWorld steht nicht nur für einen interprofessionellen, sondern auch für einen internationalen Austausch. Wie findet sich dies im Programm wieder?
Wirth: In die Sitzungen und Workshops werden gezielt international renommierte Fachleute eingeladen. Dazu kommen nationale und internationale Keynote-Speaker, die ihre Expertise zu speziellen Fragen und Themenkomplexen bereitstellen.
Erleben wir eine Zeitenwende?
OT: Das Thema Digitalisierung beschäftigt die Branche auf vielen Ebenen. Herr Pfefferkorn, Sie sprachen im Vorfeld der FOT-Tagung von einer Zeitenwende. Was meinen Sie damit und welchen Einfluss hat das auf die Gestaltung des OTWorld-Kongresses?
Pfefferkorn: Das Wort Zeitenwende, von Bundeskanzler Olaf Scholz im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine geprägt und von der Gesellschaft für deutsche Sprache als Wort des Jahres 2022 gekürt, haben wir vom FOT-Vorstand als Leitthema und mit Fragezeichen für die Technische Orthopädie gewählt. Erleben wir auch in unserem Fach gewissermaßen eine Zeitenwende? Die Regularien der EU mit der MDR, die deutsche Wirtschafts- und Energiepolitik, die gegenwärtig fortschreitende Digitalisierung der Fertigungsprozesse bis hin zu Telemedizin, E‑Rezept, Künstlicher Intelligenz werden an unserem Handwerk nicht einfach vorüberziehen oder haben sich teilweise schon etabliert. Fragestellungen hierzu werden daher auch auf der OTWorld diskutiert und mögliche Antworten gesucht und eventuell gegeben werden.
OT: Auch wenn die OTWorld vor allem Wissen vermitteln soll, ist sie auch ein Ort zum Austausch über Politik. Aktuell wird viel über die Abschaffung der persönlichen Beratung bei Kompressionshilfsmitteln und Bandagen diskutiert. Können der Kongress und sein Erkenntnisgewinn dazu beitragen, nicht nur die Versorgung zu modernisieren und zu verbessern, sondern auch dabei helfen, die Rahmenbedingungen für eine qualitätsgesicherte Versorgung zu schaffen?
Pfefferkorn: Der Kongress ist eine sehr gute Plattform, um sich über qualitätsgesicherte Versorgungen auszutauschen und gerade Rahmenbedingungen zu fördern, die Qualität der Hilfsmittelversorgungen oberste Priorität einräumen. Nur den wirtschaftlichen Aspekt zu berücksichtigen, wäre eine einseitige Betrachtung der Dinge und gefährdet ein Optimum beim Kunden. Hier müssen politisch klare Aussagen getroffen und Weichen gestellt werden, um Qualitätssicherung deutlich zu fördern.
OT: Prof. Wirth, haben Sie für die Vertreter:innen der Medizin einen Programmtipp, welche Veranstaltung aus dem Bereich mit orthopädietechnischem Schwerpunkt sie sich nicht entgehen lassen sollten, um das Verständnis für die Tätigkeiten ihrer Kolleg:innen im interprofessionellen Versorgungsteam zu verbessern?
Wirth: Alle Veranstaltungen, bei denen Neuentwicklungen beispielsweise im Orthesenbau und der Einsatz computerisierter Planungs- und Fertigungsmethoden angesprochen werden. Auch die Themen um den Einsatz Künstlicher Intelligenz oder individualisierte Fertigung im 3D-Druck kann ich sehr empfehlen.
OT: Die Branche lebt vom Nachwuchs. Welche Veranstaltungen sollten Auszubildende und Studierende auf jeden Fall besuchen?
Pfefferkorn: Die OTWorld gibt dem Nachwuchs und der Jugend mit der Jugend.Akademie TO eine sehr gute Möglichkeit, sich in Leipzig kompakt und allseitig über die Branche zu informieren und die angebotenen, speziell ausgewählten Programmpunkte, Sessions und Workshops zu besuchen. Das sollte ein Muss für jeden Azubi oder Studenten sein. Außerhalb der OTWorld möchte ich in meiner Funktion als Vorstandsmitglied der Fortbildungsvereinigung für Orthopädie-Technik (FOT) erwähnen, dass die FOT die Jugend.Akademie TO unterstützt und mit ihrem Namenszug betont, dass Fortbildung ein Grundprinzip der Arbeit der Vereinigung darstellt. Azubis, Schüler und Studenten haben zum FOT-Jahreskongress stets freien Eintritt, um ihnen diese Form der Weiterbildung zu ermöglichen und ihnen einfachen Zugang zu Innovationen und Kontakten in der Branche zu gewähren.
Unverzichtbarer Bestandteil für das Fachpersonal
OT: Noch sind es rund acht Monate, bis die OTWorld erneut ihre Türen öffnet. Welchem nächsten Meilenstein fiebern Sie entgegen?
Pfefferkorn: Meilensteine in Vorbereitung der OTWorld sind die Programmkomiteeaufgaben, die bis zum Start der OTWorld ein steter Begleiter sein werden. Als Präsident der FOT fiebere ich natürlich dem in Kürze stattfindenden 67. Jahreskongress der FOT Ende September in Nürnberg entgegen. Aber auch die anderen Vereinigungen bieten interessante Möglichkeiten des fachlichen Austausches, die ich, wenn es meine Zeit ermöglicht, nutzen werde.
OT: Vor mehr als einem Jahr wurde Ihre Kongresspräsidentschaft bekannt gegeben. Können Sie schon ein erstes Fazit ziehen, wie zufrieden Sie mit der bisherigen Planung sind und wo Ihrer Meinung nach noch Impulse nötig sind, um die OTWorld im kommenden Jahr erfolgreich durchzuführen?
Wirth: Ich bin sehr zufrieden mit der hoch professionellen Planung des Kongresses zum jetzigen Zeitpunkt. Viele Programmteile stehen bereits. Auf Verbesserungen gerichtete Ideen und Impulse braucht man ständig. Zur Bereitstellung eines sehr guten und attraktiven wissenschaftlichen Programms gehören viele gute Abstract-Einreichungen. Die OTWorld muss allen universitären und Fach-Abteilungen bekannt sein und das Marketing muss darauf abzielen, diesen Kongress und die Messe zu einem unverzichtbaren Bestandteil für das Fachpersonal und darüber hinaus zu machen.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht
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