Ver­sor­gung über Tau­sen­de Kilo­me­ter Distanz

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020 ist kaum noch von den tausenden Geflüchteten die Rede, die in den Flüchtlingslagern etwa auf der griechischen Insel Lesbos ausharren. Unter den vor Krieg und Terror geflohenen Menschen befinden sich zahlreiche mit Amputationen, wie Mike Unmacht (54) vom Sanitätshaus Lammert in Mainz berichtet. Im Interview mit der OT erklärt der Orthopädietechniker-Meister, der seit 20 Jahren von Mainz aus Menschen mit Amputationen betreut, wie eine Versorgung über Tausende Kilometer Distanz funktionieren kann.

OT: Wie kam es zum inter­na­tio­na­len Enga­ge­ment des Sani­täts­hau­ses Lammert?

Mike Unmacht: Die Grund­la­ge leg­te Prof. Dr. Micha­el Beck, damals Lei­ter der Vil­la Meta­bo­li­ca am Zen­trum für Kin­der-und Jugend­me­di­zin der Uni­ver­si­täts­me­di­zin Mainz, das sich auf sel­te­ne Stoff­wech­sel­er­kran­kun­gen wie Muko­po­lys­ac­cha­ri­do­se (MPS) oder Mor­bus Fabry spe­zia­li­siert hat­te. Er bat uns vor 20 Jah­ren erst­mals, einen sei­ner jun­gen Pati­en­ten zu ver­sor­gen. Dar­aus und aus unse­rem Enga­ge­ment in den ent­spre­chen­den Selbst­hil­fe­grup­pen ent­stand eine lang­jäh­ri­ge Zusam­men­ar­beit, die sich schnell inter­na­tio­nal aus­wei­te­te. Zum einen zog das Zen­trum inter­na­tio­nal Patient:innen an. Zum ande­ren wech­sel­ten natür­lich auch die Ärzt:innen, gin­gen an ande­re Kli­ni­ken und schick­ten uns von dort Patient:innen. Im Lau­fe der Zeit mach­ten wir uns damit einen Namen, sodass ein brei­tes Netz­werk ent­stand und in den Medi­en dar­über berich­tet wur­de. Ange­hö­ri­ge erfuh­ren davon und kamen auf uns zu. So ent­stand zum Bei­spiel der Kon­takt zu einem Bogen­schüt­zen in der Mon­go­lei, der für die Para­lym­pics eine neue Pro­the­sen­ver­sor­gung benö­tig­te. Oder zu einer jun­gen Mut­ter auf den Phil­ip­pi­nen, die für bei­de Arme und Bei­ne eine Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung brauchte.

OT: Wel­che Erfah­run­gen konn­ten Sie aus die­sen Ver­sor­gun­gen mitnehmen?

Unmacht: In Deutsch­land haben wir ganz ande­re Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten. Wir Ortho­pä­die­tech­ni­ker den­ken stark in High­tech-Kate­go­rien. Im feuch­ten Kli­ma der Phil­ip­pi­nen bei­spiels­wei­se ist aber eine myo­elek­tri­sche Pro­the­se nicht robust genug. Hin­zu kommt die feh­len­de War­tung: Wäh­rend es in Deutsch­land über­all Orthopädietechniker:innen gibt, sieht das in ande­ren Län­dern oder Regio­nen gänz­lich anders aus. Dort soll­ten Pro­the­sen mög­lichst robust, kon­stant sta­bil und war­tungs­arm sein, aber gleich­zei­tig die für den jewei­li­gen Fall wich­tigs­te Funk­ti­on lie­fern. Die zwei­te ein­schnei­den­de Erfah­rung ist es, die beson­de­re Lebens­freu­de der Men­schen zu spü­ren, die lan­ge Zeit nicht ver­sorgt wor­den sind.

OT: Kön­nen Sie das an einem Bei­spiel erläutern?

Unmacht: Einer unse­rer phil­ip­pi­ni­schen Patient:innen war es sehr wich­tig, selbst­stän­dig essen zu kön­nen sowie ihren Kin­dern bei den Haus­auf­ga­ben zu hel­fen und dabei auch mal etwas auf­zu­schrei­ben. Für sie haben wir ein Wech­sel­sys­tem mit vier Hän­den gebaut. So kann sie je nach Anfor­de­rung eine Hand zum Bei­spiel zum Stift­hal­ten fürs Schrei­ben oder Gabel­hal­ten fürs Essen anste­cken. Die­se ein­fa­che pas­si­ve Ver­sor­gung ermög­licht es ihr, wie­der am Leben ihrer Kin­der teil­zu­ha­ben. Soll­te sich etwas an den Pro­the­sen im Lau­fe der Zeit lockern, reicht auch ein Auto­me­cha­ni­ker mit Inbus­schlüs­sel, um ihr zu helfen.

Krea­ti­ve Selfmade-Prothesen

OT: Wie wur­den Sie auf die Situa­ti­on von Geflüch­te­ten mit Ampu­ta­tio­nen auf Les­bos aufmerksam?

Unmacht: Der Kon­takt kam vor ein­ein­halb Jah­ren über  Prof. Dr. Ger­hard Tra­bert zustan­de. Der Pro­fes­sor für Sozi­al­me­di­zin und Sozi­al­psych­ia­trie an der Hoch­schu­le Rhein-Main in Wies­ba­den enga­giert sich ehren­amt­lich seit Jahr­zehn­ten mit sei­nem Ver­ein „Armut und Gesund­heit in Deutsch­land e. V.“ für obdach­lo­se und sozi­al benach­tei­lig­te Men­schen in Deutsch­land und seit drei Jah­ren für Geflüch­te­te auf Lesbos.

OT: In wel­chem Zustand sind die Pro­the­sen der Geflüch­te­ten, wenn sie bei Ihnen in der Werk­statt ankommen?

Unmacht: Sagen wir mal: in einem sehr krea­ti­ven Zustand. Die meis­ten Pro­the­sen, die ohne­hin viel gro­ber kon­stru­iert sind als die euro­päi­schen Model­le, sind durch die erhöh­ten Belas­tun­gen auf der Flucht zer­stört wor­den. Letz­tens hat­ten wir eine Bein­pro­the­se, die nur von Kle­be­band zusam­men­ge­hal­ten wur­de. Der Mann ist buch­stäb­lich auf einem Kle­be­band­fuß gelau­fen. Ein ande­rer Pro­the­sen­trä­ger hat­te das Schaum­ma­te­ri­al im Schaft mit Nadel und Faden so bear­bei­tet, dass es sich an den Stumpf anpas­sen konnte.

Digi­ta­le Versorgungszukunft

OT: Wie sieht Ihre Zusam­men­ar­beit für Men­schen mit Ampu­ta­tio­nen auf Les­bos kon­kret aus?

Unmacht: Prof. Dr. Tra­bert und sein Team mes­sen vor Ort die Stümp­fe und schi­cken uns gemein­sam mit den alten, unbrauch­ba­ren Pro­the­sen die Daten. Auf die­ser Grund­la­ge bau­en wir neue Pro­the­sen im Zwie­bel­scha­len­sys­tem, damit die Betreuer:innen auf Les­bos sie so gut wie mög­lich anpas­sen kön­nen. Bei pas­si­ven Arm- oder Unter­schen­kel­pro­the­sen funk­tio­niert das ganz gut. Bei Ober­schen­kel­pro­the­sen ist die Ver­sor­gung über die Distanz aller­dings noch schwie­rig, da hier die künst­li­chen Knö­chel- und Knie­ge­len­ke auf­ein­an­der abge­stimmt wer­den müs­sen. Um noch bes­ser und vor allem schnel­ler zu wer­den, arbei­ten wir gera­de an der Beschaf­fung eines 3D-Scan­ners für Les­bos. So könn­ten in Zukunft die digi­ta­len Mess­da­ten per Mail an mich über­mit­telt wer­den, sodass ich in Echt­zeit per Video­kon­fe­renz ein Feed­back zu den Daten geben und im nächs­ten Schritt ein Auge vor allem auf die kom­ple­xe­re Anpas­sung von Ober­schen­kel­pro­the­sen wer­fen kann. Pro­the­sen im 3D-Druck neh­men in Deutsch­land zu. Die Ortho­pä­die-Tech­nik ist hier klar im Wan­del. Für eine Ver­sor­gung über die Distanz eig­nen sie sich aber sehr gut, hier sind wir klar in einer posi­ti­ven Ent­wick­lung. Jedoch hängt viel vom indi­vi­du­el­len Fall ab.

OT: Brau­chen Sie nicht auch für die Anpas­sung Unter­stüt­zung vor Ort?

Unmacht: Na klar! Nicht nur bei der Anpas­sung, schon beim Trans­port benö­ti­gen wir Unter­stüt­zung, erst recht in Zei­ten der Coro­na-Pan­de­mie, die auf Les­bos das Leben und Arbei­ten eben­falls beherrscht. Das betrifft auch den Trans­port der fer­ti­gen Pro­the­sen. Wir kön­nen uns nicht ein­fach ins Auto set­zen und per­sön­lich Pro­the­sen vor Ort anpas­sen, son­dern sind ange­wie­sen auf ein Netz­werk von Hel­fern, die den Trans­port oder die Anpas­sung orga­ni­sie­ren. Hier­zu gehört zum Bei­spiel die Phy­sio­the­ra­peu­tin Fabio­la Velas­quez, die ehren­amt­lich auf der Insel Geflüch­te­te betreut. Es gehört zu den beglü­cken­den und beflü­geln­den Erfah­run­gen, inter­na­tio­nal immer mehr Men­schen ken­nen­zu­ler­nen, die ähn­lich ticken und denen die Ver­sor­gung ande­rer am Her­zen liegt. Dazu zählt im Übri­gen auch unser geschäfts­füh­ren­der Gesell­schaf­ter Josef Lam­mert, der mir seit 20 Jah­ren die Fir­men­werk­statt für sol­che Fäl­le groß­zü­gig zur Ver­fü­gung stellt.

OT: Was moti­viert Sie, am Fei­er­abend frei­wil­lig wei­ter an der Werk­bank zu stehen?

Unmacht: Oft weiß man gar nicht, dass ande­re Men­schen genau­so den­ken und füh­len wie man selbst. In dem Netz­werk inter­na­tio­na­ler Ver­sor­ger habe ich aber genau sol­che Men­schen getrof­fen. In die­sem Kreis erle­be ich einen unglaub­li­chen Zusam­men­halt. Alle zie­hen an einem Strang, sind glück­lich über jeden Erfolg. Was könn­te moti­vie­ren­der sein?

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

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