OTWorld: Ver­sor­gungs­all­tag der Zukunft im Blick

Noch ein Dreivierteljahr, bis die OTWorld 2022 ihre Tore wieder öffnet.  Zu den heißesten Themen, die vom 10. bis 13. Mai 2022 auf dem Programm stehen, gehört die Verbindung von Target Muscle Reinnervation (TMR) – ein Nerventransfer, der armamputierten Menschen eine intuitive Steuerung ihrer Prothese ermöglicht – und der Osseointegration. Wer wissen möchte, wie weit neueste Projekte gediehen sind und wie diese Technologie bei den Patient:innen in der Praxis ankommt, sollte sich die Keynote „TMR und Osseointegration“ mit dem Fokus auf Amputationen oberhalb des Ellbogens vormerken – zugleich das erste „Tandem-Format“ auf der OTWorld überhaupt. Das OT-Interview mit Univ.-Prof. Dr. Oskar C. Aszmann verrät einige Details vorab.

Aus inter­pro­fes­sio­nel­ler Per­spek­ti­ve beleuch­ten Aszmann, Lei­ter des Zen­trums für Extre­mi­tä­ten­re­kon­struk­ti­on und Reha­bi­li­ta­ti­on sowie stell­ver­tre­ten­der Lei­ter der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Plas­ti­sche und Wie­der­her­stel­len­de Chir­ur­gie an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien, und die Phy­sio­the­ra­peu­tin Dr. sci­ent. med. Agnes Stur­ma das The­ma. Im Inter­view berich­tet Aszmann über sei­ne aktu­el­len For­schun­gen, die Arbeit im inter­dis­zi­pli­nä­ren Team und wel­chen Ein­fluss die neue euro­päi­sche Medi­zin­pro­dukt­e­richt­li­nie (Medi­cal Device Regu­la­ti­on, MDR) hat.

OT: Nach der pan­de­mie­be­ding­ten Ver­la­ge­rung ins Vir­tu­el­le fin­det die OTWorld 2022 wie­der live in Leip­zig statt. Was dür­fen die Besu­che­rin­nen und Besu­cher von Ihrem Key­note­vor­trag zu TMR und Osseo­in­te­gra­ti­on erwarten?

Oskar C. Aszmann: Ich bin auf 30 Kon­gres­sen im Jahr zu Gast. Die OTWorld sticht dabei her­aus, weil For­schung, Pra­xis und Indus­trie zusam­men­kom­men und die Zuhö­rer­schaft sehr breit gefä­chert ist – ange­fan­gen bei der Ortho­pä­die-Tech­nik bis zum Bio­in­ge­nieur­we­sen. Gera­de unse­re For­schungs­the­ma­tik ist in die­ser Hin­sicht inter­es­sant, weil sie sich sehr stark im Span­nungs­feld zwi­schen Wirt­schafts­ori­en­tie­rung, For­schung sowie der prak­ti­schen Anwen­dung bewegt. Mei­ne Kol­le­gin Dr. Stur­ma und ich wer­den unse­re Key­note des­halb sehr pra­xis­ori­en­tiert anle­gen. Der Schwer­punkt liegt auf hohen Ampu­ta­tio­nen der obe­ren Extre­mi­tät. Im Zen­trum steht dabei die Fra­ge: Wie kommt unse­re Tech­no­lo­gie tat­säch­lich im Ver­sor­gungs­all­tag an, wel­chen Nut­zen bringt unse­re For­schung den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten kon­kret? Da sich ja vie­le Men­schen an ihren Hän­den infol­ge von Arbeits­un­fäl­len ver­let­zen oder sie gar ver­lie­ren, geht es dar­um, ihnen auf best­mög­li­che Wei­se wie­der in den Arbeits­all­tag zurück­zu­hel­fen. Wie unter­stützt unse­re For­schung zum Bei­spiel den Wald­ar­bei­ter nach einer Arm­am­pu­ta­ti­on dabei, wie­der in sei­nem Arbeits­um­feld anzu­kom­men und einen Baum abzusägen?

Neu­ro­lo­gi­sche Land­schaft neu erfinden

OT: Ihre zusam­men mit Dr. Stur­ma gehal­te­ne Key­note ist das ers­te der­ar­ti­ge „Tan­dem-For­mat“ auf der OTWorld. Wie spie­geln sich unter­schied­li­che Blick­win­kel im gemein­sa­men Vor­trag wider?

Aszmann: Dr. Stur­ma arbei­tet als Phy­sio­the­ra­peu­tin mit mir im Team. Sie hat sich auf sehr hohem Niveau der Reha­bi­li­ta­ti­on nach Ampu­ta­ti­on der obe­ren Extre­mi­tät gewid­met. Ich wer­de vor allem über die chir­ur­gi­schen Aspek­te sowie den tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt in unse­rem For­schungs­feld spre­chen, über die Ver­bin­dung von TMR und Osseo­in­te­gra­ti­on. Frau Dr. Stur­ma wird anschau­lich dar­le­gen, wie man Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit­hil­fe die­ser Anwen­dun­gen reha­bi­li­tiert. Wenn ein Ner­ven­trans­fer vor­ge­nom­men wird, müs­sen die Betrof­fe­nen neu­ro­lo­gisch an die­se neue Rea­li­tät her­an­ge­führt wer­den. Wie kön­nen sie mit einem Arm umge­hen, den sie ja gar nicht mehr haben? Sie müs­sen die eige­ne neu­ro­lo­gi­sche Land­schaft neu ken­nen­ler­nen bzw. neu fin­den – und dazu ler­nen, wie sich die Pro­the­se steu­ern lässt. Das ist die Her­aus­for­de­rung und gar nicht tri­vi­al. Dafür braucht es viel Erfah­rung und Tricks, über die Frau Stur­ma berich­tet. Denn eine per­fekt ange­pass­te High­tech-Pro­the­se allein ver­bes­sert die Lebens­qua­li­tät nicht, wenn die Betrof­fe­nen damit nicht zurecht­kom­men oder nie gelernt haben, das Gerät im All­tag rich­tig zu ver­wen­den. Die funk­tio­nel­len Vor­tei­le bio­ni­scher Glied­ma­ßen ent­fal­ten sich erst in Ver­bin­dung mit einem Reha­bi­li­ta­ti­ons­pro­gramm, das den Umgang damit trai­niert, und kön­nen nicht getrennt davon bewer­tet werden.

Bio­nik – Kluft zwi­schen Poten­zi­al und Realität

OT: An wel­chen Pro­jek­ten for­schen Sie derzeit?

Aszmann: Wir arbei­ten an leis­tungs­fä­hi­ge­ren Vari­an­ten pro­the­ti­scher Glied­ma­ßen, die für eine brei­te­re kli­ni­sche Anwen­dung geeig­net sind. In ers­ter Linie geht es dar­um, dass die Benutzer:innen ihre Pro­the­se als authen­ti­schen, bio­lo­gi­schen Kör­per­teil wahr­neh­men. Denn dies ist bis­lang noch nicht gelun­gen – trotz aller Fort­schrit­te hin­sicht­lich Anwen­dungs­um­fang, Akti­ons­mög­lich­kei­ten und Bedie­nung. Zwar kön­nen bei­spiels­wei­se gesun­de Per­so­nen, die mit einer Elek­tro­m­yo­gra­fie Schnitt­stel­le aus­ge­stat­tet sind, bereits nach einem begrenz­ten Trai­ning einen Robo­ter­arm mit eini­gen Frei­heits­gra­den steu­ern – dies geschieht jedoch nicht intui­tiv und unwill­kür­lich, son­dern erfor­dert kogni­ti­ves Training.

OT: Wo lie­gen aktu­ell die Schwierigkeiten?

Aszmann: Vor allem die Ver­bin­dung zwi­schen robo­ti­schen Glie­dern mit hoher Leis­tungs­fä­hig­keit und dem Kör­per – also die Mensch-Maschi­ne-Schnitt­stel­le – muss weit intui­ti­ver und bes­ser wer­den. Die bidi­rek­tio­na­le Über­tra­gung moto­ri­scher und sen­so­ri­scher Infor­ma­tio­nen zwi­schen Pro­the­se und Benut­zer sowie umge­kehrt ist noch sehr ein­ge­schränkt, die Über­tra­gungs­ra­te gering. Heu­te ver­füg­ba­re Robo­ter­ar­me und ‑hän­de kön­nen schon viel mehr, als mit aktu­el­len Mensch Maschi­ne-Schnitt­stel­len über­haupt umsetz­bar ist.

OT: Was mei­nen Sie konkret?

Aszmann: Die Fähig­kei­ten robo­ti­scher Glied­ma­ßen gehen weit über die bis­her auf­grund der Schnitt­stel­len­li­mi­ta­tio­nen vor­herr­schen­de will­kür­li­che Steue­rung hin­aus. Sie über­tref­fen ihre natür­li­chen Vor­bil­der unter ande­rem mit mehr Frei­heits­gra­den in der Bewe­gung des Hand­ge­lenks, sie kön­nen die äuße­re Umge­bung mit höhe­rer Genau­ig­keit mes­sen als der Mensch mit sei­nen bio­lo­gi­schen Glied­ma­ßen. Aber die Infor­ma­ti­ons­über­tra­gung zwi­schen Pro­the­sen und Benutzer:innen ist noch begrenzt. Die Kluft zwi­schen dem Poten­zi­al der revo­lu­tio­nä­ren bio­ni­schen Tech­nik und der kli­ni­schen Rea­li­tät ist beträcht­lich. So blieb die kli­nisch ver­füg­ba­re Tech­no­lo­gie zum Steu­ern von Pro­the­sen der obe­ren Glied­ma­ßen in den letz­ten 50 Jah­ren nahe­zu unver­än­dert. Immer noch las­sen sich höchs­tens zwei Frei­heits­gra­de nach­ein­an­der auf unna­tür­li­che Wei­se steu­ern. Sowohl für die obe­re als auch die unte­re Extre­mi­tät gibt es fast kein kli­ni­sches Pro­the­sen­sys­tem, wel­ches Emp­fin­dun­gen über­trägt. Nur das Sehen sowie die durch Kom­pres­si­ons­kräf­te am Schaft ent­ste­hen­den Ein­drü­cke ste­hen den Nutzer:innen im All­ge­mei­nen als sen­so­ri­scher Input zur Ver­fü­gung. Des­halb emp­fin­den sie die Sys­te­me nicht als Kör­per­tei­le, son­dern ledig­lich als Werk­zeu­ge. Eines der grund­le­gen­den Pro­ble­me liegt in der mecha­ni­schen Befes­ti­gung der Pro­the­se am Ske­lett­sys­tem, so ver­hin­dern Schäf­te die effek­ti­ve Inte­gra­ti­on in das Kör­per­sche­ma und ver­ur­sa­chen häu­fig Beschwerden.

OT: Wel­che Lösungs­we­ge sehen Sie?

Aszmann: Wir ent­wi­ckeln der­zeit eine neue Gene­ra­ti­on hoch­leis­tungs­fä­hi­ger bio­ni­scher Glied­ma­ßen, bei denen die bio­ni­schen Gerä­te bzw. Pro­the­sen mit­tels der Osseo­in­te­gra­ti­on direkt am Ske­lett befes­tigt sind. Die neu­ro­na­len Signa­le wer­den durch geziel­te Mus­kelr­ein­ner­va­ti­on ver­stärkt. Dabei wer­den Ner­ven, die ihre natür­li­chen Ziel­mus­keln ver­lo­ren haben, auf ande­re Mus­keln umge­lei­tet. Per­ma­nent implan­tier­te Mus­kel­sen­so­ren, moder­ne Algo­rith­men sowie sen­so­ri­sches Feed­back mit­hil­fe von Ner­ven­im­plan­ta­ten, also direk­tes Anbrin­gen von Elek­tro­den an peri­phe­re Ner­ven (= Ner­ven außer­halb des Gehirns und Rücken­marks), ver­bes­sern die Pro­the­sen­steue­rung und lösen die mit nicht-inva­si­ven Elek­tro­den auf­tre­ten­den Ent­schlüs­se­lungs- bzw. Über­tra­gungs­pro­ble­me. Alle die­se Tech­no­lo­gien wur­den kli­nisch am Men­schen getes­tet und sind bedeu­ten­de Durch­brü­che. Durch ihr Zusam­men­spiel wol­len wir einen umfas­sen­de­ren kli­ni­schen Ein­satz bio­ni­scher Glied­ma­ßen ermöglichen.

OT: Wel­che spe­zi­el­len Her­aus­for­de­run­gen gibt es dabei?

Aszmann: Das alles ist sehr kom­plex, wur­de nur teil­wei­se mit Benutzer:innen getes­tet – oder nur mit einer sehr klei­nen Anzahl. Groß­an­ge­leg­te Kohor­ten­stu­di­en mit lang­fris­ti­ger Nach­be­ob­ach­tung feh­len. Die Imple­men­tie­rung funk­tio­niert nicht ohne inter­dis­zi­pli­nä­re Teams aus Klinik‑, Inge­nieur- und Reha­bi­li­ta­ti­ons­exper­ten, die im her­kömm­li­chen Gesund­heits­sys­tem oft noch Sel­ten­heits­wert besit­zen. Ver­si­che­run­gen zah­len die bahn­bre­chen­den Tech­no­lo­gien im All­ge­mei­nen (zunächst) nicht. Ich gehe davon aus, dass uns in Zukunft eine Opti­mie­rung und Stan­dar­di­sie­rung gelingt – und damit ver­bun­den der Ein­zug in die all­ge­mei­ne Gesund­heits­ver­sor­gung. Doch es gibt nach wie vor Ein­schrän­kun­gen beim Ein­satz der ein­zel­nen Tech­ni­ken – so setzt die Osseo­in­te­gra­ti­on ein mög­lichst intak­tes Immun­sys­tem und eine aus­rei­chend soli­de Ske­lett­struk­tur vor­aus, die Stoß­be­las­tung kann unter Umstän­den Schmer­zen ver­ur­sa­chen. Zudem ergab bei­spiels­wei­se eine Umfra­ge unter ehe­ma­li­gen Ange­hö­ri­gen der US-Streit­kräf­te, dass ledig­lich 28 Pro­zent der Per­so­nen mit ein­sei­ti­ger Glied­ma­ßen­am­pu­ta­ti­on und 13 Pro­zent nach beid­sei­ti­ger Ampu­ta­ti­on der obe­ren Glied­ma­ßen eine Osseo­in­te­gra­ti­on in Betracht zie­hen – anstel­le einer her­kömm­li­chen, Schaft fixier­ten Pro­the­se bzw. eines Ver­zichts auf eine Prothese.

MDR als Her­aus­for­de­rung für neue Technologien

OT: Für wel­che Patient:innen ist die Kom­bi­na­ti­on aus Osseo­in­te­gra­ti­on und TMR der­zeit geeignet?

Aszmann: Haupt­in­di­ka­ti­on sind zur­zeit Patient:innen mit trans­hu­me­ra­ler Ampu­ta­ti­on, also der Ampu­ta­ti­on im Ober­arm­be­reich, weil es hier schwie­rig und müh­sam ist, eine Pro­the­se anzu­pas­sen. Die Weich­tei­le am Ober­arm sind insta­bil und eine prä­zi­se Füh­rung ist nicht mög­lich. Vie­le Patient:innen kom­men aus der Land­wirt­schaft, die brau­chen zwei sta­bi­le Arme und eine Pro­the­sen­hand, die zuver­läs­sig und gut funk­tio­niert. Da geht es weni­ger um eine Viel­zahl mög­li­cher Signa­le, son­dern um Ver­läss­lich­keit. Weni­ger Sinn haben die­se Sys­te­me aktu­ell bei einer trans­ra­dia­len Ope­ra­ti­on, also einer Ampu­ta­ti­on im Unterarmbereich.

OT: Wohin geht die Entwicklung?

Aszmann: Der größ­te Vor­teil der Osseo­in­te­gra­ti­on – der Weg­fall des Schafts – ist zugleich die größ­te Her­aus­for­de­rung: Wie bekom­men wir den Signal­über­tritt hin? Wie bekom­me ich die Signa­le zur Ner­ven­sti­mu­la­ti­on umge­lenkt, die sonst von den trans­ku­ta­nen Elek­tro­den aus­ge­hen, die im Schaft lie­gen (trans­ku­tan = durch die Haut hin­durch)? Gera­de lau­fen die Tier­ver­su­che zu einem Pro­jekt, das wir gemein­sam mit Unter­neh­men aus Deutsch­land und den USA durch­füh­ren und bei dem wir die Signa­le über intra­mus­ku­lä­re Sen­so­ren mög­lichst am Ort des Gesche­hens abgrei­fen. Die Signa­le wer­den dann draht­los in die Pro­the­se geschickt. Die Über­tra­gung erfolgt in bei­de Rich­tun­gen, denn es wer­den eben­falls Signa­le aus der Pro­the­se abge­nom­men. Hier geht es dar­um, die Signa­le best­mög­lich auf­zu­neh­men, ohne Hin­der­nis­se wie Haut oder Fett­schicht bzw. ohne unbe­kann­te Belas­tun­gen, die an der Grenz­flä­che auf­tre­ten kön­nen wie Schwit­zen oder Rela­tiv­be­we­gun­gen. Eini­ge der Groß­tier­ver­su­che an Scha­fen sind bereits abge­schlos­sen, der Pro­of of Con­cept funk­tio­niert, das Vor­ha­ben ist also durchführbar.

OT: Wie groß ist die Hür­de, das Kon­zept und die gewon­ne­nen Erkennt­nis­se in den Human­be­reich zu überführen?

Aszmann: Die größ­te Pro­ble­ma­tik sehe ich jetzt in der Medi­cal Device Regu­la­ti­on (MDR). Dadurch wur­den die Regu­la­ri­en für inte­grier­ba­re Sys­te­me in der Euro­päi­schen Uni­on ver­schärft. Zwar arbei­ten wir bereits mit Sys­te­men bzw. Mate­ria­li­en wie Kera­mik, Sili­kon und Titan, die lan­ge bei Implan­ta­tio­nen ver­wen­det wer­den. Trotz­dem sind für die neu­en akti­ven Implan­ta­te spe­zi­el­le regu­la­ti­ve Prü­fun­gen nötig. Das wird nun die größ­te Her­aus­for­de­rung dar­stel­len – und nicht der Pro­of of Con­cept, nicht die Gewin­nung einer aus­rei­chen­den Zahl an Patient:innen bzw. die Anträ­ge bei der Ethik­kom­mis­si­on. Aber wir sind dran und unser Ziel ist, in den nächs­ten fünf Jah­ren der­ar­ti­ge Sys­te­me beim Men­schen anzu­wen­den. Ers­te Erfol­ge in die­ser Hin­sicht gab es in der Ver­gan­gen­heit. So ist vor zwei Jah­ren eine Arbeit in „Sci­ence Robo­tics“ von uns erschie­nen über die ers­te Implan­ta­ti­on von Sen­so­ren, die draht­los Signa­le in die Pro­the­se gesen­det haben.

OT: Die MDR macht Ihnen die Arbeit nun schwerer?

Aszmann: Ja, aber ande­rer­seits zah­len sich die Regu­lie­run­gen auch aus – näm­lich im Hin­blick auf die Markt­ein­füh­rung huma­ner Anwen­dun­gen mit CE-Zer­ti­fi­zie­rung. Denn wenn die Pro­duk­te die MDR-Regu­la­ri­en hin­ter sich haben, erleich­tert dies einen spä­te­ren Markt­ein­tritt. Schließ­lich hat die MDR ja Sinn, weil in den letz­ten Jah­ren Pro­duk­te auf­ge­fal­len sind, die implan­tiert wur­den und dann nicht funk­tio­niert haben. Dar­un­ter waren eben­falls ortho­pä­di­sche Implan­ta­te in der Wir­bel­säu­len­chir­ur­gie. Das ist bit­ter für Patient:innen, des­halb habe ich Ver­ständ­nis für die Ein­füh­rung der MDR.

OT: Von wel­chen Zeit­räu­men gehen Sie aus, bis hoch­leis­tungs­fä­hi­ge bio­ni­sche Glied­ma­ßen, die Osseo­in­te­gra­ti­on plus TMR kom­bi­nie­ren und dabei auf fort­schritt­li­che Sen­so­ren, Implan­ta­te und neu­ar­ti­ge Algo­rith­men set­zen, auf gan­zer Brei­te im Markt ankommen?

Aszmann: Ich gehe davon aus, dass wir das in den nächs­ten zwei Jahr­zehn­ten sehen wer­den. Bei der intui­ti­ven Pro­the­sen­steue­rung wird das schnel­ler gehen als beim sen­so­ri­schen Feed­back. Beson­ders pro­fi­tie­ren wer­den zunächst vor allem Patient:innen mit Ampu­ta­tio­nen meh­re­rer Extre­mi­tä­ten. Wir sind auf dem Weg zu einem ech­ten Gliedmaßenersatz.

Immer inter­dis­zi­pli­när

OT: Die Key­note zu TMR und Osseo­in­te­gra­ti­on gibt einen klei­nen Ein­blick in die inter­dis­zi­pli­nä­re Arbeit in Ihrem Team. Wie vie­le Pro­fes­sio­nen ins­ge­samt arbei­ten regel­mä­ßig zusammen?

Aszmann: Fünf Fach­leu­te gehö­ren außer mir zum Kern­team: ein Assis­tenz­arzt aus der Kli­nik, zwei Physiotherapeut:innen, eine kli­ni­sche Psy­cho­lo­gin sowie ein Ortho­pä­die­tech­ni­ker. Wir haben eine eige­ne Sprech­stun­de gegrün­det und tref­fen uns jeden Mon­tag. Jeder Pati­en­tin und jedem Pati­en­ten wid­men wir uns 30 Minu­ten – das ist in der Kli­ni­k­rou­ti­ne sonst nicht mög­lich. Maxi­mal zehn Patient:innen bestel­len wir pro Sprech­stun­den­tag. Die psy­cho­lo­gi­sche Beglei­tung ist eben­so wich­tig wie die Betreu­ung durch die ande­ren Pro­fes­sio­nen. Nicht alle Patien:innen sind trau­ma­ti­siert, aber wir haben immer wie­der Fäl­le, die psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung brau­chen, weil zum Bei­spiel eine elek­ti­ve Ampu­ta­ti­on ins Haus steht. Je nach Erfor­der­nis wer­den wei­te­re Spezialist:innen zuge­schal­tet. Kürz­lich lag der Schwer­punkt auf Patient:innen mit Spas­tik, dabei küm­mern wir uns um Patient:innen mit Extre­mi­tä­ten­läh­mun­gen nach einem Schlag­an­fall und da war der Chef der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie mit im Team. Bei die­sen Patien:innen, die durch den Schlag­an­fall einen Teil ihrer neu­ro­lo­gi­schen Land­schaft ver­lo­ren haben, ver­bin­den bzw. ver­le­gen wir durch chir­ur­gi­sche Ein­grif­fe die Ner­ven­bah­nen neu. Die­se kogni­ti­ven Ner­ven­trans­fers sind auf­wen­dig und es sind Patient:innen, die man mit viel Lie­be behan­deln muss. Vie­le Ortho­pä­die-Tech­nik Unter­neh­men haben das Poten­zi­al die­ses span­nen­den The­mas erkannt und ent­wi­ckeln Sys­te­me, die im Reha-Pro­zess indi­vi­dua­li­siert ein­ge­setzt wer­den können.

OT: Wie vie­le Patient:innen betreu­en Sie in der Sprech­stun­de pro Jahr?

Aszmann: Rund 100, ein Drit­tel bis die Hälf­te kommt nicht aus Österreich.

Ohne Freu­de am Beruf geht es nicht

OT: Wel­che Vor­aus­set­zun­gen müs­sen Ortho­pä­die­tech­ni­ker in sol­chen Teams mitbringen?

Aszmann: Zual­ler­erst Inter­es­se. Am wich­tigs­ten sind Freu­de am Beruf und am Umgang mit Patient:innen. Dann habe ich immer ein offe­nes Ohr. Alles ande­re kann man ler­nen. In Bezug auf TMR haben wir in Wien ein exzel­len­tes Pro­gramm und aus­rei­chend Per­so­nal, um Tea­ching zu ermög­li­chen. Hier kann man viel ler­nen. Wir haben seit lan­gem eine Koope­ra­ti­on mit Otto­bock, die Fir­ma schickt ihre Entwickler:innen zu Schwer­punkt­ta­gen an unse­re Kli­nik. In Deutsch­land gibt es eben­falls ein paar Leu­te, die sich damit befas­sen. Osseo­in­te­gra­ti­on wie­der­um wird sicher in den nächs­ten Jah­ren ein „Hot Topic“ sein und es wer­den bestimmt noch mehr Sys­te­me auf den Markt kom­men. Nur weni­ge ortho­pä­die­tech­ni­sche Betrie­be auf dem deut­schen Markt haben bis­her eine Zer­ti­fi­zie­rung. Des­halb emp­feh­le ich dem Nach­wuchs, zu Zer­ti­fi­zie­rungs­ver­an­stal­tun­gen zu gehen, sich fortzubilden.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

TMR: Gren­zen ausloten
Prof. Oskar C. Aszmann beschäf­tigt sich seit über 15 Jah­ren inten­siv mit der Tar­get Mus­cle Rein­ner­va­ti­on (TMR). Bereits in den 1990er-Jah­ren erlern­te er an der Johns Hop­kins Uni­ver­si­ty in Bal­ti­more, Mary­land, das Hand­werk der peri­phe­ren Ner­ven­chir­ur­gie sowie die Grund­la­gen der peri­phe­ren Ner­ven­re­ge­ne­ra­ti­on. Seit 2006 arbei­tet Aszmann eng mit der Fir­ma Otto­bock zusam­men, um die Mög­lich­kei­ten und Gren­zen der bio­ni­schen Rekon­struk­ti­on und Reha­bi­li­ta­ti­on von Patient:innen mit ein­ge­schränk­ter Extre­mi­tä­ten­funk­ti­on aus­zu­lo­ten. Ent­wi­ckelt wur­den spe­zi­el­le Ope­ra­ti­ons­tech­ni­ken der neu­ro­mus­ku­lä­ren Rekon­struk­ti­on in Kom­bi­na­ti­on mit kom­ple­xen mecha­tro­ni­schen Gerä­ten. Aszmanns For­schung kon­zen­triert sich auf alle Aspek­te der rekon­struk­ti­ven Chir­ur­gie. Für inno­va­ti­ve Kon­zep­te zur Ver­sor­gung von im Krieg ver­wun­de­ten Sol­da­ten mit kom­ple­xen Extre­mi­tä­ten­ver­let­zun­gen wur­de er zwei­mal von der Roy­al Socie­ty of Medi­ci­ne, Lon­don, aus­ge­zeich­net. Zudem erhielt Aszmann zahl­rei­che natio­na­le und inter­na­tio­na­le Prei­se, unter ande­rem den Theo­dor-Bill­roth-Preis, den Hans Anderl Award, den Hous­ka Award für Exzel­lenz in Public-Pri­va­te-Part­ner­ship sowie den Chris­ti­an-Dopp­ler-Preis für For­schung und Inno­va­ti­on. Aszmann ist im Vor­stand meh­re­rer natio­na­ler und inter­na­tio­na­ler wis­sen­schaft­li­cher Gesell­schaf­ten tätig und wur­de in das Edi­to­ri­al Board meh­re­rer inter­na­tio­na­ler Zeit­schrif­ten berufen. 

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