Einleitung
Der zu versorgende Patient ist 54 Jahre alt. Er erkrankte im Alter von 14 Jahren an einem Osteosarkom am linken distalen Femur, weshalb eine Borggreve-Umkehrplastik der Klassifizierung A1 durchgeführt wurde (Abb. 1) 1. Auf der ipsilateralen Seite wurden der Fuß und drei Viertel des Unterschenkels am Oberschenkel fixiert. Die Seite kann als voll endbelastbar eingestuft werden. Der Hautzustand ist normal bis trocken und die Weichteildeckung ausreichend gegeben. Beim Weichteilübergang von Ober- zu Unterschenkel ist zwar ein deutlicher Kalibersprung erkennbar; dennoch ist die Situation problemlos. Die Narbe lateral des Gluteus ist deutlich erkennbar, und am Fußrücken sind Druckstellen medial und lateral sowie am ersten Mittelfußkopf sichtbar. Entzündungen, Randknoten oder Allergien sind nicht vorhanden (Abb. 2). Die kontralaterale Seite weist keine Auffälligkeiten auf. Ein Schulterhochstand auf der linken Seite ist deutlich erkennbar. Mit Hilfe des Adams-Tests stellte sich heraus, dass keine deutliche Verkrümmung der Wirbelsäule erkennbar ist; der Hochstand ist laut Patient auf eine Gewohnheitsstellung im Schulalter zurückzuführen. Die Sensibilität ist voll ausgeprägt und die Extremität voll tragfähig. Der Knöcheldrehpunkt der Umkehrplastik liegt 6 cm unterhalb des Kniedrehpunktes der Gegenseite.
Versorgungsplanung
Der Anwender benötigt eine Orthoprothese für das alltägliche Leben als Dauerversorgung. Der normale Alltag, der Berufsalltag sowie die sportlichen Aktivitäten des Anwenders müssen mit derselben Orthoprothese bewältigt werden können, damit er nicht mehrere Hilfsmittel mit sich führen muss. Sie muss ferner Stabilität gewährleisten, Längendefizite ausgleichen, Belastungen umverteilen sowie Fehlstellungen reduzieren bzw. ihnen vorbeugen.
Das Sprunggelenk mit der Funktion des Kniegelenkes gibt zwar eine natürliche Achse und entsprechende Bewegungen vor – Muskeln und Sehnen müssen dennoch geschützt und das Sprunggelenk geführt werden. Dies erfolgt durch Extensions- und Flexionsanschläge der Schienengelenke, die so eingestellt werden, dass die mechanischen Anschläge kurz vor dem Ende der maximal möglichen Dorsalflexions- und Plantarflexionsbewegung des oberen Sprunggelenkes anschlagen und die Gelenkbewegung stoppen. Die Fußsohle ist voll belastungsfähig; die Hauptlast wird aber dennoch überwiegend von der Ferse getragen. Durch eine horizontale Fersenbank, einen Steigbügel und eine Zehenbank wird das Rutschen des Fußes verhindert. Der aus Multiform erstellte Innenschaft bewirkt einen Formausgleich, was das An- und Ausziehen der Prothese ermöglicht. Hierbei hilft der BOA-Verschluss mit der Klappe am Fußrücken, der eine große Öffnungsweite ermöglicht. Das BOA-Verschlusssystem wurde hier benutzt, da dieses System mit eingegossen wird, durch seine dünnen, jedoch stabilen Nylonseilzüge nicht sehr aufträgt, dennoch sehr stabil ist und der Druck durch den Drehknopf dosiert werden kann. Die Oberschale besteht aus einem flexiblen Innenschaft und einem aus Carbonfasern in Gießharztechnik angefertigten Außenschaft. Diese Materialkombination ermöglicht dem Anwender einen guten Tragekomfort und eine sehr hohe Stabilität bei geringem Gewicht.
Der Oberschenkel wird sowohl dorsal als auch seitlich gefasst. Von vorne ist der Schaft offen, um das Ein- und Aussteigen zu erleichtern. Der flexible Innenschaft bietet zusätzlich ventral eine Lasche für einen zirkulären Halt. Das Oberschenkelteil wird mit zwei Verschlüssen gesichert. Die Anlage wird möglichst großflächig gehalten, um die auftretenden Druckkräfte gleichmäßig zu verteilen. Der Randverlauf des harten Außenschaftes ist kürzer als der des flexiblen Innenschaftes und gewährleistet eine höhere Compliance sowie ein problemloses Sitzen. Gelenkschoner verhindern das Einklemmen der Hose in gestrecktem Zustand.
Vorgehensweise beim Gipsabdruck
Der Abdruck erfolgt in Drei-Phasen-Technik:
- In der ersten Phase wird der Fuß zirkulär bis zur Hälfte der Ferse abgeformt, sodass alle für die Lastübernahme notwendigen Stellen markiert und abgeformt sind. Dies sind die Fersenbank, die Zehenbank, der Steigbügel sowie die Quer- und Längswölbungsstütze.
- In der zweiten Phase wird der supracalcaneare Bereich bis oberhalb der Malleolen abgeformt. Dieser Bereich des Fußes ist auch als Bisgaard’sche Kulisse bekannt. Durch den Eingriff wird ein guter Halt gegen ein Herausrutschen der Ferse ermöglicht.
- In der dritten Phase wird der Oberschenkel proximal beginnend zirkulär bis zum Fußteil gegipst. Dabei muss beachtet werden, dass das Sprunggelenk (Knie) von sagittal gesehen in maximaler Plantarflexion eingegipst wird. In Frontal- und Horizontalebene wird eine neutrale Position angestrebt; die Fersenbank sollte für eine gute Lastübernahme so horizontal wie möglich abgeformt werden.
Anfertigung und Anprobe
Das Gipsnegativ wird verschlossen, der Gelenkdrehpunkt nach klassischem Schema festgelegt und dann in zwei Phasen ausgegossen. In der ersten Phase wird das Gipsnegativ vom Fußteil bis oberhalb der Malleolen ausgegossen. Nach dem Aushärten wird der Gips am oberen Ende des Fußteils mit Gipsisoliercreme versehen und anschließend das Oberteil ausgegossen. Die beiden Stangen im Innern bestehen aus Vierkantprofilen mit unterschiedlichen Breiten, sind aber so abgestimmt, dass die Stange des Fußteils passgenau mit der Stange des Oberteils verbunden werden kann (Abb. 3). Auf diese Weise wird im zusammengefügten Zustand die Gesamtform dargestellt, was unter anderem beim Modellieren wichtig ist, während sich beispielsweise bei der Erstellung des Innenschaftes die Verarbeitung durch das Abnehmen des Fußteils deutlich erleichtern lässt.
Beim Modellieren des Fußteiles wird darauf geachtet, dass die Knöchel anhand der genommenen Maße druckfrei eingefasst werden. Alle Entlastungsflächen werden auf- und die gewollten Belastungsflächen abgetragen. Der Oberschenkelgips wird zirkulär auf die gemessenen Umfangsmaße reduziert. Es werden separat zwei Schäfte aus PETG mit 6 mm Materialstärke tiefgezogen. Dann werden die Kontaktflächen der Gipse wieder freigelegt, sodass beide Teile wieder vereint werden können. Für die erste Passformkontrolle am Patienten werden anstelle der Gelenkpassteile zunächst selbstgefertigte Lochscheiben aufgebracht, mit denen unterschiedliche Drehpunktlagen auf ihre Kongruenz zur Anatomie getestet werden können (Abb. 5).
Bei den Anproben zieht der Anwender zuerst einen Strumpf an, um besser in die Orthoprothese zu gelangen. Nun werden Randverlauf und Volumen hinsichtlich der Statik kontrolliert (Abb. 4). Eine gleichmäßige Weißfärbung der Weichteile weist auf eine gute Lastverteilung hin. Am Fußteil wird darauf geachtet, ob die druckempfindlichen Bereiche tatsächlich genügend entlastet sind und ob die Zehen genug Freiraum nach distal aufweisen. Beim Stehen wird die exakte Beinlänge begutachtet. Ziel ist ein sicherer Stand sowie eine aufrechte Körperhaltung (Lot aus C7 mittig durch Rima ani und mittig der Unterstützungsfläche). Aufgrund des vorhandenen Schulterhochstands links kann beim vorgestellten Patienten die Schulter nicht als Orientierungspunkt dienen. Im Sitzen wird die Positionierung der Gelenkdrehpunkte kontrolliert. Durch die Lochscheiben lassen sich verschiedene Drehpunktpositionen ausprobieren und somit die beste Kongruenz zur Anatomie festlegen. Weiterhin werden die Randverläufe ausgestülpt und der statische Aufbau der Orthoprothese mit Hilfe des L.A.S.A.R. in der Sagittal- und Frontalebene kontrolliert.
Nach dieser statischen Anprobe werden die Orthesengelenke an der zuvor festgelegten Position montiert und die Extensions- sowie Flexionsanschläge individuell angepasst. In der dynamischen Anprobe werden Schrittlänge und ‑breite sowie Abrollverhalten und Bewegungsabläufe der Gelenke begutachtet. Ein Schiebeadapter erleichtert dabei die Ermittlung der optimalen Fußposition.
Definitive Fertigung
Die definitive Orthoprothese wird aus Carbonfasern in Gießharztechnik angefertigt. Damit alle Änderungen aus der Anprobe inklusive der optimierten Gelenkposition berücksichtigt werden können, wird die Probeversorgung mit Gips ausgegossen. Die Position der ermittelten Gelenkachsen wird durch eine eingegossene Gelenkführung fixiert. Das Ausgießen erfolgt im Übertragungsgerät, um die in den Anproben ermittelte Stellung reproduzieren zu können. Das Gipspositiv wird geglättet und über Nacht im Ofen zur Trocknung gelagert. Nach der Trocknung des Gipses wird über dem Fußteil ein Soft-Socket aus Multiform mit 6 mm Materialstärke angefertigt und über das Oberschenkelteil ein flexibler Innenschaft aus thermoplastischem Material tiefgezogen (Abb. 7). Beide Teile werden separat übergossen. Sie werden nach dem Aushärten wieder zusammengefügt und die Gelenke mit Nieten befestigt. Die gegossene Versorgung wird dann wieder ins Übertragungsgerät eingespannt und der fehlende Bereich zwischen Adapter und Schaft mit Hartschaum aufgefüllt. Für die nächste Anprobe wird dieser Übergang provisorisch mit einer Castbinde gesichert.
Bei erneuter Anprobe werden die Randverläufe des flexiblen Innenschaftes und des harten Außenschaftes kontrolliert. Der Patient stellt sich erneut auf das L.A.S.A.R., um die Statik zu kontrollieren. Der Trippel-Test – also das „Laufen“ auf der Stelle – vermittelt eine erste Rückmeldung über die richtige Fußposition im Verhältnis zum Schaft. Auch in der Dynamik wird die korrekte Einstellung des prothetischen Unterbaus anhand des Abrollverhaltens begutachtet. Nach Vollendung der Anprobe werden der Ausschnitt der zu öffnenden Kappe am Fußrücken sowie der spätere Verlauf der BOA-Verschlusskanäle festgelegt und anschließend mit Sekundenkleber und Leichtspachtel befestigt. Zusammen mit den Gelenken und dem Anschlussadapter wird die gesamte Orthoprothese übergossen und dadurch stabilisiert. Für ein perfektes Oberflächenfinish werden an diesem Guss alle Flächen, Ecken und Kanten glattgeschliffen und harmonische Übergänge erzeugt. Im Anschluss folgt der Schönheitsguss als Abschlusslage.
Für die finale Anprobe der fertigen Orthoprothese werden alle Schrauben gesichert und eine Unterschenkelkosmetik angefertigt, um das äußere Erscheinungsbild an die anatomische Form der Gegenseite anzunähern (Abb. 8). Hat die Kosmetik einen hohen Stellenwert für den Nutzer, wird auch der Oberschenkel mit einem anatomischen Formausgleich versehen.
Ist die Umkehrplastik von Seiten des Operateurs funktionell gut gelungen, war die anschließende physiotherapeutische Behandlung erfolgreich und werden alle genannten Parameter bei der Anfertigung der Orthoprothese berücksichtigt, zeigen die Patienten häufig ein unauffälliges Gangbild, das selbst geübte Ganganalytiker auf den ersten Blick nicht als von der Norm abweichend kategorisieren würden. Auch Dauerleistungsfähigkeit und Maximalbelastbarkeit sind in den meisten Fällen nur wenig eingeschränkt.
Danksagung
Eine Meisterprüfung in einem Handwerksberuf abzulegen ist sicherlich immer anspruchsvoll. Dabei kommt es in den meisten Sparten jedoch ausschließlich auf die handwerklichen Fähigkeiten des Prüflings an. Anders ist es in der Orthopädie-Technik: Da die Meisterstücke für einen Anwender gefertigt und gemeinsam mit diesem vorgestellt werden müssen, kommen organisatorische Faktoren hinzu, die exakt abzustimmen sind. Wichtige Aspekte sind dabei die Zeit sowie die Geduld, die der Anwender aufbringen muss. Dies ist nur mittels eines gegenseitigen Verständnisses und einer engen Zusammenarbeit zwischen Prüfling und Anwender möglich. Daher möchte der Autor des Beitrages an dieser Stelle seinen herzlichen Dank an alle Probanden aussprechen, die sich für unser Handwerk dieser Herausforderung stellen und freiwillig manche Belastung auf sich nehmen.
Der Autor:
Alexandros Papadopoulos, OTM
Ruhrstraße 133
45219 Essen
papadopoulos.alexandros07@gmail.com
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Papadopoulos A. Orthoprothetische Versorgung einer Umkehrplastik. Orthopädie Technik, 2020; 71 (12): 60–63
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