Das mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­te Pro­the­senknie­ge­lenk „Vario­Knie“ – Ver­ei­ni­gung von Mono- und Polyzentrik

C. Stentzel, F. Will, D. Merbold, R. Scharpenberg
Allein in Deutschland werden jährlich 9.500 bis 11.500 transfemorale Amputationen durchgeführt [Quelle: Spoden M. Amputationen der unteren Extremität in Deutschland – Regionale Analyse mit Krankenhausabrechnungsdaten von 2011 bis 2015 (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland, Versorgungsatlas, Bericht Nr. 19/03). Berlin: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), 2019. https://www.versorgungsatlas.de/fileadmin/ziva_docs/100/VA_19-03_Bericht-UnterschAmputationen_2019-03-28.pdf (Zugriff am 13.11.2020)] Fachkundige Rehabilitationen und moderne medizinische Geräte wie Prothesenkniegelenke sind entscheidend für die erfolgreiche Integration von Menschen mit Amputation in das tägliche Leben. Moderne Prothesenkniegelenke repräsentieren ein hochintegriertes mechatronisches System in Leichtbauweise, das spezielle Kinematiken, diverse Sensoren, Mikroprozessoren und komplexe Algorithmen zur Kontrolle des Dämpfungssystems in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation beinhaltet. Dabei stellt ein Prothesenkniegelenk in der Regel ein passives System dar und enthält keine Motoren zur aktiven Steuerung der Bewegungen. Um ein natürliches Gangbild zu erzeugen, verzögert ein mikroprozessorgesteuertes Dämpfungssystem die Pendelbewegung in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation. Die Entwicklung des neuartigen Prothesenkniegelenkes „VarioKnie“ vereint zwei Kinematiken – eine Mono- und eine Polyzentrik.

Ein­lei­tung

Das Vor­ha­ben „Vario­Knie“ wird im Rah­men des För­der­pro­gramms „KMU-inno­va­tiv: Medi­zin­tech­nik“ vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Bil­dung und For­schung (BMBF; FKZ:13GW0197E) geför­dert. Drei Unter­neh­men sowie drei For­schungs­ein­rich­tun­gen sind an der Umset­zung betei­ligt. Pri­mä­res Ziel ist die Ent­wick­lung eines mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­ten Pro­the­senknie­ge­lenks, das eine Mono­zen­trik mit einer Poly­zen­trik ver­eint. Eine Schalt­ein­heit ermög­licht auf Anwen­der­wunsch den Wech­sel zwi­schen bei­den Kine­ma­ti­ken. Als Moti­va­ti­on für die paten­tier­te Inno­va­ti­on sind Erfah­run­gen und Defi­zi­te aus der täg­li­chen Arbeit der Ortho­pä­die­tech­ni­ker des Kon­sor­ti­ums zu nen­nen, die pra­xis­nah Pro­blem­stel­lun­gen und Funk­tio­na­li­tä­ten an bestehen­den Sys­te­men erle­ben. Der­zei­tig bestehen­de Pro­duk­te am Markt wei­sen ent­we­der eine (mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­te) Mono­zen­trik oder eine Poly­zen­trik auf. Dia­me­tra­le Vor- und Nach­tei­le cha­rak­te­ri­sie­ren die bei­den Optio­nen. Die­se wer­den im Fol­gen­den genau­er dargelegt.

Anzei­ge

Pro­blem­stel­lung und Motivation

Eine Viel­zahl von Pro­the­senknie­ge­len­ken ist am Markt erhält­lich. Betrach­tet man die Haupt­ziel­grup­pe der Anwen­der mit trans­fe­mo­ra­ler Ampu­ta­ti­on, hilft das Schau­bild aus dem „Qua­li­täts­stan­dard Pro­the­tik der unte­ren Extre­mi­tät“1, um die Knie­ge­len­ke nach Funk­tio­na­li­tä­ten und unab­hän­gig vom Her­stel­ler zu unter­schei­den (Abb. 1). Dabei wer­den vier ver­schie­de­ne Typen von Knie­ge­len­ken differenziert:

  • Typen der Klas­se 1 und 2 sind rein mecha­ni­sche Lösun­gen mit und ohne Kon­trol­le der Schwung- und Standphase.
  • Knie­ge­len­ke des Typs 4 sind Sys­te­me, die eine Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen bestehen­den Kom­po­nen­ten (Knie/Fuß) aufweisen.
  • Ziel des Pro­jekt­vor­ha­bens ist die Ent­wick­lung eines Knie­ge­lenks des Typs 3. Die­se wei­sen in der Regel elek­tro­nisch gesteu­er­te pneu­ma­ti­sche, hydrau­li­sche oder rheo­lo­gi­sche Dämp­fungs­sys­te­me zur Stand- und Schwung­pha­sen­kon­trol­le auf.

Bis­he­ri­ge Ent­wick­lun­gen mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­ter Knie­ge­len­ke haben sich auf eine Mono­zen­trik kon­zen­triert. Dies ist aus wirt­schaft­li­chen und kon­struk­ti­ven Aspek­ten mit Blick auf Gewicht, Kom­ple­xi­tät, Mas­se sowie Kos­ten nachvollziehbar.

Den­noch ist das mensch­li­che Knie ein Gelenk, das glei­ten­de und rol­len­de Bewe­gun­gen ver­eint – dies ent­spricht eher einer Poly­zen­trik. Neben dem natür­li­che­ren Bewe­gungs­ab­lauf zeigt sich der wesent­li­che Vor­teil einer Poly­zen­trik in der Schwung­pha­se, da hier­bei ein grö­ße­rer Abstand zwi­schen Vor­fuß und Boden wäh­rend der mitt­le­ren Schwung­pha­se erreicht wird.

Die­se soge­nann­te Ver­kür­zung des Pro­the­senknie­ge­len­kes weist eine Mono­zen­trik nicht auf. Mecha­tro­ni­sche Mono­zen­tri­ken kom­pen­sie­ren die­se nach­tei­li­ge Cha­rak­te­ris­tik durch eine Ver­zö­ge­rung in der Schwung­pha­sen­ex­ten­si­on. Bei durch­schnitt­li­chen Anwen­dern fällt die Ver­zö­ge­rung im Gang­bild kaum auf, aber bei Men­schen mit Ampu­ta­ti­on und einem sehr kur­zen oder sehr lan­gen Stumpf sowie Anwen­dern mit einer Knie­ex­ar­ti­ku­la­ti­on ist sie deut­lich sicht­bar. Ins­be­son­de­re bei ein­fa­chen Mono­zen­tri­ken ohne elek­tro­ni­sche Steue­rung wird der Anwen­der zu Kom­pen­sa­ti­ons­be­we­gun­gen gezwun­gen, mit denen Fehl­be­las­tun­gen (Fuß, Hüf­te) ein­her­ge­hen, um ein Stol­pern mit dem Pro­the­sen­fuß zu ver­hin­dern und die­sen wäh­rend der Schwung­pha­se zu heben.

Nach­teil einer Poly­zen­trik ist das unmög­li­che bzw. blo­ckier­te alter­nie­ren­de Gehen auf einer schie­fen Ebe­ne oder Trep­pe („yiel­ding“ = kon­trol­lier­tes Ein­sin­ken gegen einen Wider­stand), da durch die Lage des Momen­t­an­pols einer Poly­zen­trik die mecha­ni­sche Sper­re der Kine­ma­tik wirkt. Dabei stellt der Momen­t­an­pol den momen­ta­nen Dreh­punkt des pro­xi­ma­len Anschlus­ses dar (Abb. 3). Der Abstand zwi­schen Momen­t­an­pol und Kraft­ein­lei­tung bedingt das ein­ge­lei­te­te Dreh­mo­ment (Fle­xi­ons- und Exten­si­ons­mo­ment). Außer­dem sind poly­zen­tri­sche Knie­ge­len­ke in der Regel nicht mikro­pro­zes­sor­ge­steu­ert, sodass die ein­ge­stell­te Fle­xi­ons- und Exten­si­ons­dämp­fung nur für eine bestimm­te Geh­ge­schwin­dig­keit opti­miert ist. Folg­lich sind die Her­stel­ler in der Regel auf eine leich­ter zu steu­ern­de Mono­zen­trik ausgerichtet.

Es exis­tie­ren somit Vor- und Nach­tei­le für bei­de Kine­ma­ti­ken; bei der Wahl eines Knie­ge­lenks muss der Nut­zer ent­schei­den, wel­che Nach­tei­le er eher in Kauf neh­men möch­te. Ziel des hier vor­ge­stell­ten Vor­ha­bens ist die Über­win­dung einer sol­chen Ent­schei­dungs­fin­dung. Viel­mehr wird ein Pro­the­senknie­ge­lenk ent­wi­ckelt, das dem Pro­the­sen­nut­zer eine Wahl ermög­licht, um situa­ti­ons­ab­hän­gig die für ihn jeweils geeig­ne­te Kine­ma­tik frei­zu­schal­ten. Damit wird die erst­ma­li­ge Ver­ei­ni­gung einer Mono­zen­trik und einer Poly­zen­trik in einem mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­ten Knie­ge­lenk zur Erzie­lung einer maxi­ma­len Sicher­heit und Dyna­mik realisiert.

Als wei­te­res Ziel setzt sich das Pro­jekt­team die Erfas­sung von Daten des Stump­fes im Pro­the­sen­schaft mit Hil­fe ver­schie­de­ner Sen­so­ren, um zusätz­lich zu den übli­chen Druck- und Tem­pe­ra­tur­mes­sun­gen 2 mehr Rück­schlüs­se auf den Kör­per­flüs­sig­keits­sta­tus, die Kör­per­zell­mas­se sowie die Qua­li­tät der Kör­per­zel­len zie­hen zu kön­nen. Es ist bekannt, dass die Mate­ri­al­aus­wahl bei moder­nen Schaft-Stumpf-Anbin­dun­gen immer inno­va­ti­ver und kom­ple­xer wird, um mög­lichst opti­mal form­schlüs­si­ge und stark haf­ten­de Ver­bin­dun­gen her­zu­stel­len. Die Pass­form ist und bleibt dabei die Kom­pe­tenz des Ortho­pä­die­tech­ni­kers und ist unab­ding­bar mit sei­nem Erfah­rungs­schatz gekoppelt.

Was kenn­zeich­net nun einen gut pas­sen­den Pro­the­sen­schaft? Es sind ledig­lich die äußer­li­chen Kon­troll­mög­lich­kei­ten sei­tens des Hand­wer­kers, die bei der Über­prü­fung in Augen­schein genom­men wer­den. Was ist aber zu tun, wenn sich die Haut ver­än­dert, es zu Rötun­gen, Ver­här­tun­gen oder gar wun­den Stel­len kommt? Oft ist es dann zu spät, und es muss, sofern mög­lich, umge­hend reagiert wer­den – die sicht­ba­ren Ver­än­de­run­gen stel­len ledig­lich Sym­pto­me dar. Auf­ga­be des Ortho­pä­die­tech­ni­kers und des Arz­tes ist die Dia­gno­se der Ursa­che. Hilf­reich in die­sem Pro­zess könn­te eine Dar­stel­lung der Gescheh­nis­se im Stumpf auf der Basis von Bio­im­pe­danz­mes­sun­gen sein.

Auf­bau und Aspek­te des „Vario­Knies“

Kon­struk­ti­ver Aufbau

Zur Adap­ti­on des Schaf­tes und der Fuß­pro­the­se weist das „Vario­Knie“ eine Gewin­de­an­bin­dung (M36 × 1,5) als pro­xi­ma­len und einen Jus­tier­kern als dista­len Anschluss auf. Dem Leicht­bau geschul­det wer­den die gering bean­spruch­ten Bau­tei­le aus einer Alu­mi­ni­um­le­gie­rung und die hoch bean­spruch­ten Kom­po­nen­ten­aus einer Titan­le­gie­rung gefer­tigt. Zur Her­stel­lung des Gehäu­ses, das eine tra­gen­de Struk­tur dar­stellt, wur­de die Fer­ti­gungs­tech­no­lo­gie des Metall-3D-Dru­ckes ein­ge­setzt, um den Anfor­de­run­gen an die Ästhe­tik und den Leicht­bau gerecht zu wer­den (Abb. 2).

Wäh­rend der Schwung­pha­se erreicht die poly­zen­tri­sche Kine­ma­tik eine gemes­se­ne Ver­kür­zung von rund 18 mm im Ver­gleich zu einer Mono­zen­trik bei 45° Fle­xi­on. Der maxi­ma­le Fle­xi­ons­win­kel der Mono­zen­trik beträgt 135°, wäh­rend die Poly­zen­trik um bis zu 145° flek­tiert wer­den kann. Zur indi­vi­du­el­len Anpas­sung an die Pati­en­ten und ihre Schäf­te kön­nen die jewei­li­gen Fle­xi­ons­an­schlä­ge modi­fi­ziert werden.

Mono- und poly­zen­tri­sche Kinematik

Zur Umset­zung der genann­ten Zie­le wur­de die Metho­de des kon­struk­ti­ven Ent­wick­lungs­pro­zes­ses ange­wandt. Basie­rend auf der pro­jekt­in­ter­nen Anfor­de­rungs­lis­te sowie einem mor­pho­lo­gi­schen Kas­ten wur­den meh­re­re Vari­an­ten einer ver­schal­te­ten Mono- und Poly­zen­trik ent­wor­fen. Ver­ein­fach­te CAD-Model­le dien­ten zur Beur­tei­lung ver­schie­de­ner Kri­te­ri­en, die im Fol­gen­den auf­ge­lis­tet sind:

  • maxi­ma­ler Flexionswinkel,
  • Kol­ben­hub,
  • Kol­ben­hub­um­kehr­punkt,
  • Kol­li­si­ons­prü­fung,
  • poly­zen­tri­sche Ver­kür­zung sowie
  • Bau­raum­be­ur­tei­lung.

Viel­ver­spre­chen­de Vari­an­ten wur­den wei­ter detail­liert, um kon­struk­ti­ve Details zu ana­ly­sie­ren und ihre Mas­se zu bestimmen.

Wer­den eine Mono­zen­trik und eine Poly­zen­trik in einem Pro­the­senknie­ge­lenk ver­eint, ist die Lage bei­der zuein­an­der ent­schei­dend, um jeweils die vol­le Funk­tio­na­li­tät und einen güns­ti­gen Kraft­fluss inner­halb des „Vario­Knies“ zu gewähr­leis­ten. Als Bin­de­glied wird die soge­nann­te TKA-Linie (engl. „TKA line“ = „tro­chan­ter-knee-ank­le line“) genutzt, die exakt (oder leicht pos­te­ri­or) durch die Dreh­ach­se der Mono­zen­trik ver­lau­fen muss, um eine siche­re Stand­pha­se und eine leich­te Fle­xi­ons­in­iti­ie­rung zu realisieren.

Die Gestal­tung einer Poly­zen­trik erweist sich dem­ge­gen­über als kom­ple­xer und kann ver­schie­de­ne Bedürf­nis­se des Anwen­ders hin­sicht­lich sei­ner Sicher­heit sowie Agi­li­tät abde­cken. Grund­sätz­lich sind drei Kon­fi­gu­ra­tio­nen einer Poly­zen­trik mög­lich 3, die von einer extre­men Stand­si­cher­heit bis hin zu einer leich­ten Fle­xi­ons­in­iti­ie­rung rei­chen, was durch die Lage des Momen­t­an­pols zur TKA-Linie beein­flusst wird (Abb. 3):

  • Die ers­te Kon­fi­gu­ra­ti­on bedingt ein extrem sta­bi­les Ver­hal­ten, indem die TKA-Linie weit ante­rior zum Momen­t­an­pol gelegt wird („hyper­sta­bi­li­zed“). Wäh­rend des Ste­hens wird die Poly­zen­trik durch die Kräf­te­ver­hält­nis­se inner­halb der Kine­ma­tik in die Exten­si­ons­an­schlä­ge gedrückt („mecha­ni­sche Sper­re“), und es bedarf eines hohen Fle­xi­ons­mo­men­tes, um eine Beu­gung zu initi­ie­ren. Dadurch wird eine hohe Sta­bi­li­tät erzielt, die Anwen­dern mit einer erhöh­ten Anfor­de­rung an die Sicher­heit entgegenkommt.
  • Die gegen­tei­li­ge Kon­fi­gu­ra­ti­on bedingt durch die pos­te­rio­re Lage der TKA-Linie zum Momen­t­an­pol eine gerin­ge Sta­bi­li­tät, da kei­ne mecha­ni­sche Sper­re vor­liegt und schon wäh­rend des nor­ma­len Ste­hens eine Fle­xi­ons­in­iti­ie­rung stattfindet.
  • Die drit­te Kon­fi­gu­ra­ti­on stellt einen Mit­tel­weg zwi­schen den bei­den genann­ten Extrem­la­gen dar. Dabei ist die TKA-Linie leicht ante­rior zum Momen­t­an­pol gele­gen („ele­va­ted instant cent­re“ und „vol­un­t­a­ry con­trol“). Die­se Kon­fi­gu­ra­ti­on bie­tet den Vor­teil, dass ein gerin­ger Bereich der mecha­ni­schen Sper­re vor­han­den ist, aber eine leich­te Fle­xi­ons­in­iti­ie­rung statt­fin­den kann. Damit gehen ein sta­bi­les Ver­hal­ten in der Stand­pha­se und eine Ent­las­tung des Hydrau­lik­zy­lin­ders wäh­rend des Ste­hens ein­her. Fer­ner ist mit Blick auf das „Vario­Knie“ eine ein­deu­ti­ge Exten­si­ons­la­ge gewähr­leis­tet, die für den Schalt­vor­gang zwi­schen Mono- und Poly­zen­trik not­wen­dig ist. Die TKA-Linie bil­det somit das Bin­de­glied bei der Ver­schal­tung einer Mono- mit einer Poly­zen­trik. Dar­aus kön­nen alle wei­te­ren geo­me­tri­schen Grö­ßen für die jewei­li­gen Kine­ma­ti­ken abge­lei­tet werden.

Hydrau­li­scher Dämpfer

Die Haupt­zie­le eines Pro­the­senknie­ge­len­kes sind ein natür­li­ches Gang­bild und ein intui­ti­ves Ver­hal­ten bei gleich­zei­tig gerin­gem Ener­gie­auf­wand. Um dies zu ermög­li­chen, wird ein hydrau­li­scher Dämp­fer ein­ge­setzt, der jeweils die Pen­del­be­we­gun­gen der Mono- und der Poly­zen­trik kon­trol­liert. Dabei ist das Ein- und Aus­fah­ren des Kol­bens sepa­rat über Dreh­ven­ti­le steu­er­bar; in Kom­bi­na­ti­on mit den ein­ge­setz­ten Sen­so­ren wird ein mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­tes Pro­the­senknie­ge­lenk geschaf­fen. Der Hydrau­lik­zy­lin­der ermög­licht somit viel­fäl­ti­ge Funk­tio­nen, die soft­ware­sei­tig imple­men­tier­bar sind (z. B. „yiel­ding“, Stol­per­schutz, Unter­stüt­zung beim Set­zen etc.), und bie­tet dabei grund­sätz­lich vier Betriebsweisen:

  1. Im Nor­mal­be­trieb ist ein kon­trol­lier­tes Ein­fah­ren (Fle­xi­on) des Kol­bens bei gleich­zei­ti­ger Spei­che­rung des ver­dräng­ten Ölvo­lu­mens und teil­wei­ser Spei­che­rung der ein­ge­brach­ten Ener­gie möglich.
  2. Die gegen­tei­li­ge Betriebs­wei­se erlaubt ein kon­trol­lier­tes Aus­fah­ren des Kol­bens (Exten­si­on) bei gleich­zei­ti­ger Nut­zung der gespei­cher­ten Ener­gie, um die Exten­si­on zu unter­stüt­zen („Feder­vor­brin­ger“). An die­ser Stel­le besteht aller­dings ein Ziel­kon­flikt: All­ge­mein wird bei Pro­the­senknie­ge­len­ken ein gerin­ger Fle­xi­ons­wi­der­stand ange­strebt, um den Ener­gie­auf­wand wäh­rend des Gehens zu mini­mie­ren. Der Haupt­fle­xi­ons­wi­der­stand wird durch den Kol­ben­spei­cher gene­riert (Auf­nah­me des ver­dräng­ten Ölvo­lu­mens des Dif­fe­ren­zi­al­zy­lin­ders). Der Kol­ben­spei­cher ist dabei durch eine Feder vor­ge­spannt, die den vor­ran­gi­gen Fle­xi­ons­wi­der­stand erzeugt. Gleich­zei­tig bestimmt die Feder­kon­stan­te die spei­cher­ba­re sowie wie­der­ver­wend­ba­re Ener­gie und folg­lich die Wir­kung des „Feder­vor­brin­gers“ wäh­rend der Schwung­pha­se. In die­sem Zusam­men­hang muss somit ein Kom­pro­miss gefun­den werden.
  3. /4. Die übri­gen bei­den Betriebs­wei­sen des Hydrau­lik­zy­lin­ders sind für den Not­be­trieb rele­vant. Im Fal­le eines lee­ren Akku­mu­la­tors wer­den bei­de Ven­ti­le geschlos­sen, sodass hohe Fle­xi­ons- und Exten­si­ons­wi­der­stän­de bestehen. Dies ermög­licht dem Anwen­der unter erschwer­ten Bedin­gun­gen das wei­te­re und siche­re Gehen mit stei­fer Pro­the­se. Den­noch erlaubt ein Bypass im Hydrau­lik­kreis­lauf, der im Nor­mal­be­trieb ver­nach­läs­sig­bar ist, die Fle­xi­on des „Vario­Knies“ bei hohem Wider­stand, um bspw. die Pro­the­se für die Fahrt in einem Auto anzuwinkeln.

Die Funk­ti­ons­wei­sen kön­nen anhand des Hydrau­lik­schalt­plans nach­voll­zo­gen wer­den (Abb. 4). Neben den beschrie­be­nen Funk­ti­ons­wei­sen erlaubt der Hydrau­lik­zy­lin­der eine Sper­rung des Kol­bens und somit der jewei­li­gen Kinematik.

Der Hydrau­lik­zy­lin­der stellt eine hoch­in­te­grier­te Bau­grup­pe dar, die vie­le Funk­tio­nen und Kom­po­nen­ten in einem klei­nen Bau­raum unter der Prä­mis­se des Leicht­baus beinhal­tet. Dar­über hin­aus wird er mit rela­tiv hohen Kräf­ten und damit ein­her­ge­hen­dem hohem Druck beauf­schlagt. Neben den beschrie­be­nen Betriebs­wei­sen des ent­wi­ckel­ten Dämp­fers, die dem Stand der Tech­nik ent­spre­chen, kann der Fle­xi­ons­wi­der­stand durch einen ein­fa­chen Aus­tausch der Feder des Spei­cher­kol­bens ange­passt werden.

Als her­aus­for­dernd ist die Gestal­tung der Ven­ti­le anzu­se­hen; dabei gilt es, wider­sprüch­li­che Anfor­de­run­gen zu ver­ei­nen. So müs­sen äuße­re und inne­re Lecka­gen durch Dicht­sys­te­me ver­mie­den wer­den. Dies erfor­dert Pas­sun­gen mit enger Tole­ranz und gut sit­zen­de Dich­tun­gen. Dem gegen­über steht die Anfor­de­rung einer extre­men Leicht­gän­gig­keit der Ven­ti­le (dies spricht für sehr leicht lau­fen­de Dich­tun­gen), damit zum einen die bau­raum­be­dingt klei­nen Akto­ren, die Dreh­mo­men­te im mNm-Bereich lie­fern, die Ven­ti­le bewe­gen kön­nen und damit zum ande­ren wenig Ener­gie für die Ven­til­steue­rung ver­braucht wird, um mit der begren­zen Akku­ka­pa­zi­tät eine mög­lichst lan­ge Betriebs­zeit zu erzie­len. Der ent­wi­ckel­te mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­te Hydrau­lik­zy­lin­der erlaubt einen Kol­ben­hub von 33 mm und weist eine Mas­se von ca. 540 g auf.

Schalt­ein­heit

Die Schalt­ein­heit des „Vario­Knies“ stellt ein abso­lu­tes Novum im Bereich der Pro­the­senknie­ge­len­ke dar und ver­eint eine Mono- mit einer Poly­zen­trik in einem Knie­ge­lenk. Bei­de Kine­ma­ti­ken wer­den über den­sel­ben Dämp­fer (Hydrau­lik­zy­lin­der) mikro­pro­zes­sor­ge­steu­ert, sodass ein natür­li­ches und kon­trol­lier­tes Gang­bild ent­steht. Die jewei­li­gen Vor­tei­le bei­der Kine­ma­ti­ken kön­nen situa­tiv und auf Anwen­der­wunsch genutzt wer­den. Die Steue­rung der Schalt­ein­heit erfolgt dabei über eine Bewe­gungs­rou­ti­ne oder per App.

Die Inte­gra­ti­on einer elek­tro­me­cha­ni­schen Schalt­ein­heit in einem eng bemes­se­nen Bau­raum unter den Rand­be­din­gun­gen des Leicht­baus und der hohen wir­ken­den Kräf­te ist als her­aus­for­dernd anzu­se­hen. Im „Vario­Knie“ ist die Schalt­ein­heit im pro­xi­ma­len Anschluss (54 × 60 × 64 mm) inte­griert und als Elek­tro­mo­tor-Getrie­be-Ein­heit kon­zi­piert (Abb. 5), die syn­chron vier Sperr­bol­zen aktu­iert und somit ent­we­der die Mono­zen­trik oder die Poly­zen­trik frei­gibt. Das erzeug­te Dreh­mo­ment des Schritt­mo­tors wird dabei über meh­re­re Zahn­rad­stu­fen erhöht und durch den jewei­li­gen Spin­del­an­trieb des Sperr­bol­zens in eine axia­le Bewe­gung umgewandelt.

Auf­grund der hohen gefor­der­ten und genorm­ten Kräf­te (DIN EN ISO 10328), die inner­halb eines klei­nen Bau­raums umge­lei­tet wer­den müs­sen, besteht der pro­xi­ma­le Anschluss aus einer Titan­le­gie­rung. Die Schalt­ein­heit, die den pro­xi­ma­len Anschluss und die Mono­zen­trik inklu­diert, weist eine Mas­se von ca. 275 g auf.

Sen­so­ren

Zur Erfas­sung der aktu­el­len Situa­ti­on des Pro­the­senknie­ge­len­kes und zur Prä­dik­ti­on des not­wen­di­gen Ver­hal­tens sind diver­se Sen­so­ren im „Vario­Knie“ inte­griert. Die erfass­ten Sen­sor­si­gna­le wer­den mit Hil­fe eines Mikro­pro­zes­sors und ent­spre­chen­den Algo­rith­men aus­ge­wer­tet und die aktu­el­le Lage iden­ti­fi­ziert. Die Daten­ba­sis lie­fern dabei:

  1. ein Kraft­sen­sor zur Erfas­sung des Kraft­ver­lau­fes und des Kraft­an­griffs­punk­tes am Prothesenfuß,
  2. ein Fle­xi­ons­win­kel­sen­sor,
  3. eine IMU („iner­ti­al mea­su­re­ment unit“) sowie
  4. Sen­so­ren zur Erfas­sung der Ven­til­öff­nun­gen (Fle­xi­ons- und Exten­si­ons­dämp­fung) am Hydraulikzylinder.

Zudem über­wacht ein Tem­pe­ra­tur­sen­sor den hydrau­li­schen Dämp­fer und schützt die­sen vor einer etwa­igen ther­mi­schen Über­be­an­spru­chung. Die tran­si­en­te Aus­wer­tung der Daten erlaubt die Bestim­mung des not­wen­di­gen Pro­the­sen­ver­hal­tens und die Imple­men­tie­rung von Son­der- sowie Sicherheitsfunktionen.

Test­pha­se

Das „Vario­Knie“ befin­det sich der­zei­tig in der labor­ba­sier­ten Test­pha­se (Abb. 6). In gesi­cher­ter Umge­bung tes­ten aus­ge­wähl­te Men­schen mit trans­fe­mo­ra­ler Ampu­ta­ti­on nach einem stan­dar­di­sier­ten Pro­to­koll die Funk­tio­nen und Gebrauchs­vor­tei­le des „Vario­Knies“, um so not­wen­di­ges Feed­back für die wei­te­ren Ent­wick­lungs­schrit­te bis hin zu einem spä­te­ren Pro­dukt zu lie­fern. Dabei stellt die Test­pha­se einen ite­ra­ti­ven Pro­zess dar, sodass Opti­mie­run­gen an der Kon­struk­ti­on, dem Dämp­fungs­sys­tem und der Soft­ware vor­ge­nom­men wer­den können.

Fazit

Mit dem „Vario­Knie“ wird im Bereich der Pro­the­senknie­ge­len­ke durch die inte­grier­te Schalt­ein­heit Neu­land betre­ten: Es ver­eint die Vor­tei­le einer mono- und einer poly­zen­tri­schen Kine­ma­tik, die Men­schen mit Ampu­ta­ti­on situa­tiv und auf Anwen­der­wunsch aus­nut­zen kön­nen. Bei­de Kine­ma­ti­ken wer­den von einem mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­ten Hydrau­lik­zy­lin­der wäh­rend der Stand- und Schwung­pha­se kon­trol­liert, sodass viel­fäl­ti­ge Funk­tio­nen über eine Soft­ware imple­men­tiert wer­den kön­nen. Ein elek­tro­me­cha­ni­sches Sys­tem erlaubt eine ein­fa­che Steue­rung der Schalt­ein­heit per Bewe­gungs­rou­ti­ne oder per App.

Der­zei­tig befin­det sich das Pro­jekt „Vario­Knie“ in der labor­ba­sier­ten Test­pha­se mit Ampu­tier­ten und zwei Pro­to­ty­pen, um ein intui­ti­ves Sys­tem­ver­hal­ten zu ent­wi­ckeln. Dazu gilt es, auf der Basis der Sen­sor­si­gna­le die aktu­el­le Situa­ti­on des Pro­the­senknie­ge­len­kes zu detek­tie­ren und zu iden­ti­fi­zie­ren sowie ein adäqua­tes Ver­hal­ten zu generieren.

Aus der Sicht des ver­sor­gen­den Ortho­pä­die­tech­ni­kers bie­tet das „Vario­Knie“ erst­mals die Mög­lich­keit, die eige­ne Kun­den­kli­en­tel mit einem mecha­tro­ni­schen Knie­ge­lenk unab­hän­gig von einer vor­he­ri­gen Wahl der Kine­ma­tik zu tes­ten und zu ver­sor­gen. Situa­tiv kann der Ortho­pä­die­tech­ni­ker oder der Anwen­der die best­mög­li­che und not­wen­di­ge Kine­ma­tik durch eine Soft­ware ein­stel­len. Neben der situa­ti­ons­be­ding­ten Aus­wahl der Mono- oder Poly­zen­trik kann dies mit Blick auf die phy­si­sche Ent­wick­lung eines Men­schen mit Pro­the­se getä­tigt wer­den, z. B. nach einer Ampu­ta­ti­on. Somit kann das „Vario­Knie“ eine Ver­bes­se­rung oder Ver­schlech­te­rung der Kon­sti­tu­ti­on durch das Umschal­ten der Kine­ma­tik sehr gut abbil­den. Der Anwen­der erfährt somit kei­ne „Ein­schrän­kung“ sei­ner der­zei­ti­gen Situa­ti­on, son­dern erhält ein varia­bles Knie­ge­lenk, das an sei­ne jewei­li­gen Bedürf­nis­se anpasst wer­den kann.

Das „Vario­Knie“ kann dar­über hin­aus für die tem­po­rä­re Erst­ver­sor­gung ein­ge­setzt wer­den, um Erfah­run­gen mit einer mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­ten Mono- und Poly­zen­trik zu erlan­gen. Im Fokus ste­hen jedoch die Anwen­dun­gen im täg­li­chen Leben und zur Reha­bi­li­ta­ti­on bzw. zur Inte­gra­ti­on der Nut­ze­rin­nen und Nutzer.

Kon­sor­ti­um

Fol­gen­de Insti­tu­te und Unter­neh­men sind am Pro­jekt beteiligt:

  • Ortho­pä­die­tech­nik Schar­pen­berg e. K.
  • Tech­ni­sche Uni­ver­si­tät Dres­den – Insti­tut für Mecha­tro­ni­schen Maschinenbau
  • Thor­sis Tech­no­lo­gies GmbH
  • Sono­tec Ultra­schall­sen­so­rik Hal­le GmbH
  • GFaI Gesell­schaft zur För­de­rung ange­wand­ter Infor­ma­tik e. V.
  • Uni­ver­si­täts­me­di­zin Ros­tock, Abtei­lung für Unfall‑, Hand- und Wiederherstellungschirurgie

Für die Autoren:
Dr.-Ing. Chris­ti­an Stentzel
Wis­sen­schaft­li­cher Mitarbeiter
TU Dres­den – Insti­tut für Mecha­tro­ni­schen Maschinenbau
(Stif­tungs­pro­fes­sur für Baumaschinen)
Münch­ner Platz 3, 01187 Dresden
christian.stentzel@tu-dresden.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Stent­zel C, Will F, Mer­bold D, Schar­pen­berg R. Das mikro­pro­zes­sor­ge­steu­er­te Pro­the­senknie­ge­lenk „Vario­Knie“ – Ver­ei­ni­gung von Mono- und Poly­zen­trik. Ortho­pä­die Tech­nik, 2020; 71 (12): 44–49
  1. Deut­sche Gesell­schaft für inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung e. V. (DGIHV) (Hrsg.). Kom­pen­di­um Qua­li­täts­stan­dard im Bereich Pro­the­tik der unte­ren Extre­mi­tät. Dort­mund: Ver­lag Ortho­pä­die-Tech­nik, 2018: 311
  2. Mer­bold M. Mög­li­che Anwen­dun­gen der Bio­im­pe­danz be Pati­en­ten mit trans­fe­mo­ra­ler Ampu­ta­ti­on. Ortho­pä­die Tech­nik, 2019; 70 (8): 36–41
  3. Rad­clif­fe CW. Four-bar lin­kage pro­sthe­tic knee mecha­nisms: kine­ma­tics, ali­gnment and pre­scrip­ti­on cri­te­ria. Pro­sthe­tics and Ortho­tics Inte­ma­tio­nal, 1994; 18 (3): 159–173
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