Einleitung
Betrachtet man Amputierte mit Knieexartikulation und deren Versorgungmöglichkeiten, lassen sich grundsätzliche Eigenschaften dieser im Vergleich zur transtibialen (TT) oder transfemoralen (TF) Amputation eher seltenen Anwendergruppe feststellen: Die vollständige Endbelastung steht im Fokus der Schaftgestaltung und ermöglicht eine vergleichsweise einfache Last-Kraft-Übertragung der axial gerichteten Kräfte. Ideale Hebelverhältnisse und die in der Regel vollständig vorhandenen Adduktoren ermöglichen annähernd physiologische Achsensituationen und Schaftstellungen. Das Femur neigt nur in geringem Maße zu pathologischen Abduktions- und Flexionsfehlstellungen. Die gegebene Stumpfendbelastbarkeit in Kombination mit muskulären Führungszonen erlaubt es, das Becken vom Prothesenschaft fernzuhalten.
Die funktionell guten Voraussetzungen fordern jedoch ihren Tribut im kosmetischen Aspekt: Die anatomische Situation der Knieexartikulation verhindert eine physiologische Anordnung des prothetischen Kniegelenk-Drehpunktes, wodurch im Seitenvergleich eine Dysbalance zwischen Oberschenkel- und Unterschenkel-Länge entsteht. Dieser Umstand limitiert die mögliche Auswahl an Passteilen und stellt manchen Anwender vor große Hürden, vor allem dann, wenn hohe Ansprüche an die ästhetische Wiederherstellung des körperlichen Defektes bestehen.
Schaftsysteme mit Raststift und anderen distal aufbauenden Befestigungsmechanismen können bei der Versorgung von Knieexamputierten aufgrund einer entstehenden und nicht tolerablen Überlänge als Tabu bezeichnet werden. Derartigen Lösungen wird daher in diesem Beitrag keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Die konventionelle Abdrucktechnik muss die unterschiedliche Aufteilung der Gewebearten, die knöchernen Strukturen und die Besonderheit der Endbelastung erfassen. Im Standardwerk „Amputation und Prothesenversorgung“ 12 werden die Grundlagen der Gipstechnik sehr detailliert vermittelt. Ergänzende Informationen können außerdem zurückliegenden Ausgaben dieser Fachzeitschrift 3 entnommen werden.
Biomechanische Wirkungsprinzipien
Nach dem ISO-Standard ISO 85482:1993 ist die Übertragung der wirkenden Kräfte eine Aufgabe des Prothesenschaftes. Die Vermittlung der horizontal gerichteten Kräfte nimmt hierbei eine systemübergreifende Rolle ein. Aufgrund der Körperlastlinie, die idealerweise mittig des Körpers zum Körperschwerpunkt in Höhe des Beckens wirkt, und der Einflüsse der über die Beinsäulen verlaufenden Bodenreaktionskräfte entstehen horizontal gerichtete Kraftmomente. In der Dynamik können diese horizontalen Kraftmomente zu einem „Lateralshiften“ des Prothesenschaftes führen, wobei der Schaft bei unzureichender Führung in die medioproximalen Weichteile des Oberschenkels eintaucht – eine Auswirkung, die bei vielen beckenfreien Knieexartikulationsschäften beobachtet werden kann.
Diesen ungewollten und negativen Einflüssen muss bereits frühzeitig entgegengesteuert werden. Eine grundsätzliche Herangehensweise der Abdrucktechnik und Schaftphilosophie muss daher das Ziel verfolgen, diese ungünstig wirkenden Kräfte bereits bei der Formerfassung zu berücksichtigen und biomechanisch sinnvolle Anlageflächen zu erzeugen. Im Falle der wirkenden horizontalen Kräfte liegt eine sehr wichtige führende Anlagefläche – soweit es sich mit der Schaftkonstruktion vereinbaren lässt – im medioproximalen Schaftanteil. Die in der Regel vollständig angelegte Adduktorengruppe bietet hierbei ein optimales Widerlager gegen das Lateralshiften und ermöglicht eine gezielte Führung des Femurs m Gewebe. In direktem biomechanischem Zusammenhang steht die laterale Anlage im distalen Schaftanteil, die oberhalb des knöchernen Stumpfendes endet. Wird diese in der Schaftkonstruktion nicht berücksichtigt, muss eine Überlastung des lateralen Kondylus mit entsprechenden Druckstellen befürchtet werden. Auf eine enge A‑P-Führung, wie sie in der Oberschenkelprothetik unabdingbar ist, kann aufgrund der hervorragenden Hebelverhältnisse verzichtet werden (Abb. 1).
Schafttechniken bei Knieexartikulation
Container-Schafttechnik mit partiellem oder durchgehendem Weichwandinnenschaft (WWS) und suprakondylärer Bettung
Bei diesem Schaftsystem wird klassischerweise über den Stumpf ein Strumpf gezogen, um die Weichteile zu stabilisieren und ein Verschieben dieser beim Einsteigen in den Innenschaft zu vermeiden. Diese Strümpfe können von feinen Nylongeweben bis hin zu beschichteten Frotteestrümpfen in unterschiedlichen Stärken gewählt werden. Hierbei können die Strümpfe durch unterschiedliche Eigenschaften ihre Vorteile entfalten. So können copolymerbeschichtete Strümpfe durch ihre viskoelastischen Eigenschaften Scherkräfte auf den Stumpf reduzieren und Druckspitzen verringern. Elastisch gewebte Strümpfe erhöhen die Vorkompression der Weichteile und setzen die Adhäsion herab. Ein leichteres Eingleiten ohne das Aufstauen der proximalen Weichteile kann die erwünschte Folge sein.
Nachdem der Stumpf mit einem ausgewählten Strumpf auf den Prothesenschaft vorbereitet ist, wird der WWS auf den Stumpf geschoben. Seine wichtigste Aufgabe besteht darin, für eine sichere Fixierung zwischen Stumpf und Schaftsystem Sorge zu tragen. Die in den WWS integrierte Bettung der Kondylen stabilisiert sich über den Containerschaft und vermittelt dadurch ausreichenden Halt und Führung. Selbst bei muskulären Stümpfen kann eine ausreichende Hinterschneidung, vor allem am medialen Femurkondylus, geformt werden, die eine knochengeführte Verriegelung ermöglicht. Zwischen dem kondylären mediolateralen (M‑L-)Maß und dem suprakondylären M‑L-Maß sollte eine Differenz von mindestens 1,5 cm bestehen, diese kann jedoch bei stark atrophen Stümpfen auch mehrere Zentimeter betragen. Je knochennäher diese suprakondyläre Einfassung gearbeitet wird, desto souveräner werden Haftung, Stabilisierung und Führung des Stumpfes im Prothesenschaft. Zu lockere kondyläre Bettungen dagegen vermitteln Unsicherheit und führen im ungünstigen Fall dazu, dass der Stumpf in der Schwungphase aus dem WWS herausrutscht.
Die Verriegelung zwischen Innenschaft und Außenschaft erfolgt ebenfalls über eine geometriebedingte Verspreizung. Die sinnvolle Gestaltung dieses Ausgleiches in Form, Tiefe, Verlauf und Fläche muss sich sowohl an den technischen Anforderungen als auch der Anwendercompliance orientieren: Ein Container, der keine Maßreduzierung im suprakondylären Bereich aufweist, wird vom Innenschaft herunterrutschen oder zumindest zu einer axialen Hubbewegung führen.
Weitere biomechanische Anforderungen müssen im distalen Bereich erfüllt werden. Der Innenschaft bildet die knöcherne Form der kondylären Gelenkflächen nach. Die Fossa intercondylaris femoris kann vollflächig mit angestützt werden und ermöglicht so eine gleichmäßige Druckverteilung am gesamten distalen Femur. Dies führt zu reduzierten Drücken an den knöchern exponierten Bereichen.
Als Material für WWS bieten sich geschäumte Plattenmaterialien aus EVA oder PE an. Es ist abzuwägen, ob ein vermeintlicher Komfortgewinn durch niedershorige Materialien der Rückstellkraft von festerem Plattenmaterial vorgezogen werden sollte. Der Kaltfluss bei nicht beständigen Schaftmaterialien führt zu einem Auswalken mit der Folge von Volumenänderungen und somit Passformdefiziten des Prothesenschaftes. Aufgrund der hohen alltäglichen Belastungsanforderungen des Innenschaftes sollte dieser in einer ausreichenden Gesamtstärke von etwa 7 mm gefertigt werden. Das Volumen des Innenschaftes kann zu erheblichen kosmetischen Nachteilen führen. Distale Polster sorgen für eine Zunahme der Innenschaftstärke und erhöhen die Dysbalance zwischen der physiologischen Oberschenkel- und Unterschenkellänge.
Selbst mit Unbedenklichkeitsbescheinigungen können die Innenschaftmaterialien mit zunehmender Tragezeit sehr bedenklich wirken: Körperfette, Schweiß und Blut können nicht rückstandslos entfernt werden; eine Sterilisation des WWS ist nicht möglich, da Formstabilität und Verklebungen darunter leiden würden (Abb. 2).
In konservativer Fertigungsweise wird der Container in einem Hartweich-Unterdruck-Laminierverfahren mit Trägerstoffen aus Perlon, Glas- und Carbonfasern angefertigt. Der proximal weich gegossene Schaftanteil soll einem Verkippen des Außenschaftes beim Sitzen entgegenwirken. Jedoch lässt die Flexibilität von PMMA-Harzen in Verbindung mit Perlon- oder Nylglas-Gewirken meist nicht die in der Anwendung benötigte Flexibilität zu, wodurch der gewünschte Effekt einer reduzierten Stumpf-Schaft-Pseudarthrose oftmals nur gering ausfällt. Weiterhin zeigen sich diese Harze aufgrund ihrer thermoplastischen Eigenschaften als nicht sehr formstabil. Durch die tägliche Beanspruchung und die biomechanisch einwirkenden Kräfte verändert der Gießharzschaft über einen längeren Tragezeitraum seine ursprüngliche Form. Diese Formabweichung kann sich sehr nachteilig auf die Passform auswirken.
Da das gesamte Prothesengewicht bei dieser Schafttechnik in der Schwungphase auf die kondyläre und suprakondyläre Femurbettung übertragen wird, können hochgewichtige Prothesensysteme mit mikroprozessorgesteuerten Knie- und/oder Fußpassteilen an die Belastungsgrenzen des Stumpfes stoßen (Abb. 3). Der wohl größte Vorteil eines WWS ist die Möglichkeit, auf die unterschiedlichsten Stumpfgegebenheiten sehr flexibel zu reagieren. Knöcherne Strukturen können gezielt angestützt oder entlastet werden. Einer mobilen Patella kann der notwendige Raum zur Verfügung gestellt werden, ohne unnötige Scherkräfte zu erzeugen. Im WWS kann schnell und unkompliziert gearbeitet und auf Volumenveränderungen reagiert werden, wie es z. B. bei Interimsversorgungen der Fall ist. Weiterhin kann ein WWS zeitnah und ohne spezielle Hilfsmittel angefertigt werden, was dem Techniker in der Problembehandlung Handlungsspielräume verschafft.
Containerschäfte mit flexiblen Innenschaftmaterialien und Liner in Unterdrucktechnik
Der Stumpf erfährt durch Verwendung eines Liners eine stabilisierende Formung. Bei der Auswahl des Liners müssen unbedingt Form und Querschnitt des Stumpfes berücksichtigt werden. Die Femurkondylen sind in der Regel nur wenig weichteilgedeckt und müssen in der Schaftgestaltung formlimitierend berücksichtigt werden. Allein die Spannung, ausgelöst durch einen runden, festen Silikonliner, kann am dorsomedialen und dorsolateralen Femurkondylus eine Überreizung der Haut bewirken und zu einer Druckstelle führen.
Da alle vorkonfektionierten Liner einen runden Querschnitt aufweisen, eignen sich diese für den Knieexartikulationsstumpf nicht. Hier bieten individuelle Liner die besten Voraussetzungen für ein leistungsfähiges und formkongruentes Interface zwischen Stumpf und Innenschaft. Unnötig dicke Linerenden müssen vermieden werden. Ein dem Stumpf- und Knochenverlauf angepasster Querschnitt sorgt für optimale Passform in den lastübertragenden Bereichen 4. Die Berücksichtigung dieser konstruktiven Auswahlkriterien kann als Basis für den im Allgemeinen sehr aktiven Knieexamputierten gelten. In einigen Fällen können vorkonfektionierte Liner über Formungsmodelle im distalen Bereich geringfügig geweitet werden. Jedoch muss ein vollflächiger Kontakt im suprakondylären Bereich gegeben sein, um vor Kondensationsfeuchte im Liner zu schützen. Für diese Anwendung eignen sich Copolymer-(TPE-)Liner aufgrund ihrer thermoplastischen Eigenschaften. Liner bieten zudem den Vorteil, dass sie die Weichteile unter einer guten Vorkompression stabilisieren und einem Aufschieben des Gewebes beim Schafteintritt entgegenwirken, um einer möglichen Schaftrandproblematik vorzubeugen.
Die Fixierung erfolgt in solchen Systemen über einen proximalen Abschluss in Form von Seals-Dichtlippen oder Dichtmanschetten. Nach dem Anlegen der Prothese wird über ein Ausstoßventil die Luft zwischen Liner und Schaftinnenseite evakuiert. In der Schwungphase entsteht durch die Massenträgheit der Prothese ein Unterdruck zwischen Liner und Schaft. Je höher die Dichtlippe oder die Manschette angebracht ist, desto geringer wirkt der „pneumatische Pin“. Die Gewichtskraft der Prothese wird über eine möglichst große Oberfläche übertragen.
Diese Fixierungsart erlaubt es, auf eine starke knöcherne suprakondyläre Einfassung des Femurs weitestgehend zu verzichten. Jedoch können die Femurkondylen, soweit das Ein- und Aussteigen möglich ist, formschlüssig mit eingefasst werden. Dies empfiehlt sich vor allem bei einem Systemwechsel von WWS zu Unterdruckschaft und als ersatzweises Haftprinzip bei einer defekten Abdichtung. Besonders beliebt sind in diesen Fällen Variationen mit partiellen suprakondylären Ausgleichen, die wahlweise zum Schaftsystem ergänzt werden können. Zur Aufnahme von Linersystemen eignen sich flexible Innenschäfte mit glatten Oberflächen und flexiblen proximalen Randabschlüssen am besten.
In Verbindung mit einem dorsal gekürzten Container wird die Adaptionsfähigkeit des Schaftes – und somit auch der Schaftkomfort – verbessert. Bereits beim ersten Tragen bemerken die Anwender die deutlich bequemere Sitzposition, da der Schaft kaum noch verkippt und unangenehme Drücke am medioproximalen Randabschluss ausbleiben. Allein diese ersten Rückmeldungen rechtfertigen den Mehraufwand für ein derartiges Schaftsystem (Abb. 4).
Je dünner der Innenschaft angefertigt wird, umso flexibler wird er. Hier muss die Belastung durch das Anwendergewicht und die Aktivität des Anwenders der Haltbarkeit gegenübergestellt werden. Dem typischen Kaltfluss der flexiblen thermoplastischen Schaftmaterialien muss entgegengewirkt werden, da es ansonsten zu einem vorzeitigen und zu schnellen Verschleiß des Innenschaftes kommt. Der Container wird übe den flexiblen Innenschaft angefertigt. Hierbei werden rigide und tragende Carbonkonstruktionen im Laminierverfahren hergestellt. Der Container muss die wirkenden Kräfte aufnehmen und übertragen können. Zur bestmöglichen Nutzung der flexiblen Eigenschaften des Innenschaftes wird der dorsale Bereich des Containers so tief wie möglich gekürzt. Zur Vermeidung des bereits beschriebenen Kaltflusses thermoplastisch flexibler Innenschäfte können Gurtbänder oder Textilien diesen im Container freigeschnittenen Ausschnitt sichern und einem Auswalken des flexiblen Innenschaftes entgegenwirken. Für eine zuverlässige Abdichtung muss die Dichtmanschette auf dem Innenschaft genügend Dichtfläche zur Verfügung stellen. Bei Sealsystemen sollte ein Zwei-Wege-Ventil zum Einsatz kommen, sodass auch das Aussteigen erleichtert wird (Abb. 5).
Innovative Schaftkonzepte
Die biomechanisch idealen Voraussetzungen, die Knieexanwender mitbringen (langer Hebelarm, ausgeprägte Kraftentfaltung, Stumpf-Endbelastbarkeit), sollten so kompromisslos wie möglich genutzt werden. Die Beschaffenheit der Stümpfe in Verbindung mit den langen Hebeln eignet sich auf ideale Weise, um feste Schaftanteile auf ein Minimum zu reduzieren und durch den richtigen Materialmix den Schäften mehr Komfort und eine bessere Anpassungsfähigkeit zu verleihen.
So bietet die Entwicklung „Co.Co.S®“ („Control.Comfort.Socket“) eine moderne Schafttechnik, die durch definierte Anlageflächen und eine ausgewählte Linerbasis sehr große Freiflächen im dorsalen Schaftbereich zur Verfügung stellt. Die Lastaufnahme erfolgt bei diesem Schaftsystem nicht ausschließlich über das Stumpfende, sondern über zwei Kraftvektoren, die zwischen der Fascia lateralis, der Adduktorengruppe und der lateralen suprakondylären Anlage erzeugt wird 5.
Die Pedometer-App einer aktiven Anwenderin zeigt, dass bei 5.000 Schritten am Tag die Prothese nur eine knappe Stunde in Bewegung ist. Dies soll verdeutlichen, dass der Knieexartikulations-Prothesenschaft nicht nur zum Laufen angefertigt wird. Viele andere Aktivitäten des Alltags werden z. B. stehend und sitzend ausgeübt und füllen damit einen mindestens ebenso langen Nutzungszeitraum wie das Gehen aus. Vor diesem Hintergrund müssen bei der Entwicklung neuer Schaftsysteme auch derartige Daten und Erfahrungen Einfluss nehmen. Beim Anfertigen von Zahnprothesen beispielsweise möchte die Anwenderin tief und flächig im Stuhl sitzen und nicht an harte Schaftränder erinnert werden (Abb. 6 u. 7).
PBSS für Knieexartikulation
Unter anderem führen derartige Rückmeldungen dazu, dass auch der Knieexartikulations-Prothesenschaft in die Entwicklung neuartiger bionischer Prothesenschäfte, etwa des PBSS (Pohlig Bionic Socket System), mit aufgenommen wurde 6. Zum Konzept gehört eine Formerfassung via Scantechnologie sowie eine biometrische Datenerfassung, um biomechanische Anlagepunkte zu definieren. Die digitale Formerfassung, Modellierung und Umsetzung des Knieexartikulationsstumpfes befindet sich aktuell noch in der Erprobung und wird nach Abschluss der Testreihe in einem gesonderten Fachartikel dargestellt.
Zielsetzung der PBSS-Knieex-Schaftkonstruktion ist ein maximal adaptives Schaftkonzept, das dem Anwender durch eine Berücksichtigung der muskulären Aktoren eine bestmögliche Führung der Prothese bei gleichzeitiger Adaptivität an die unterschiedlichen Alltagssituationen bietet. Durch den Einsatz reduzierter tragender Schaftanteile in einer maximal reduzierten Carbon-Epoxidharz-Spangentechnik in Sandwichbauweise in Kombination mit großen, teilelastischen Führungszonen aus Silikon erzielt diese neuartige Schafttechnik im sensitiven und kosmetischen Bereich eine sehr gute Resonanz der Anwender.
Auch hier bildet eine individuelle Linerversorgung die Basis, die auf den Erfahrungen und beschriebenen Grundlagen aufbaut. Überwiegend werden individuelle „Pohlicone“-Silikonliner unterschiedlicher Konstruktionsprinzipien oder individuelle Copolymerliner von Willow Wood eingesetzt. Die Möglichkeit, individuelle Liner in Stärke, Beschaffenheit und Funktionalität zu beeinflussen, bietet enorme Vorteile und verringert die Anzahl thermoplastisch zugerichteter Liner erheblich (Abb. 8).
Die tragenden Anteile des definitiven Epoxidrahmens werden beim PBSS-Knieex-Schaftsystem auf ein Minimum reduziert. Um das Gewicht niedrig zu halten, werden Sandwichmaterialien eingesetzt. Die Realisierung der adaptiven Schaftzonen erfolgt durch eine individuelle HTV-Silikonschafttechnik, die mit dem Carbonrahmen fest verbunden wird. Eingearbeitete Funktionsstrukturen im Silikon-Material wirken einer ungewollten Dehnung des Materials bei Belastung sowie einer Materialermüdung entgegen und stabilisieren das Schaftkonstrukt beim Gehen entsprechend. Gerade diese Funktionsstrukturen ermöglichen auch eine dünne Wandstärke des Silikonschaftes und somit eine gesteigerte Flexibilität gegenüber konventionellen Materialien. Eine Verstärkung des Containers mit Gurtbändern oder Textilgeweben wird überflüssig (Abb. 9).
Das Haftprinzip wird durch eine Abdichtung zwischen proximalem Lineranteil und HTV-Schaft realisiert. Durch das distale Ventil entsteht so ein Cushion-System ohne weitere dichtende Hilfsmittel wie z. B. eine zusätzliche Dichtlippe oder Manschette.
Passteile
Durch den vollen Erhalt des Femurs ist bei einem Knieexanwender die Bauhöhe der Passteile entscheidend. Amputiert wird im Gelenkspalt, weshalb jedes aktuell erhältliche Gelenkkonstrukt darauf aufbaut und eine Überlänge erzeugt. Somit sind die Anforderungen des Alltags und die gewünschten Aktivitäten des Anwenders ausschlaggebende Gründe für die Wahl der Passteile. Durch die erwähnten guten Hebelverhältnisse sind die meisten Anwender – gleich welchen Alters – im höheren Mobilitätsbereich einzuordnen. Sie können sich auf ihrem Schaft gut stabilisieren und die Prothese als Standbein nutzen. Gerade diese Nutzung muss bei der Wahl der Passteile berücksichtigt und ein entsprechend robustes Passteil gewählt werden.
Für die Anforderungen an das Kniegelenk bedeutet dies, dass eine sehr zuverlässige und leistungsfähige Standphasensteuerung zur Verfügung gestellt werden muss. Somit fällt die Wahl oft auf mikroprozessor- oder multisensoriell gesteuerte Gelenke mit entsprechender Aufbauhöhe. Polyzentrische Konstruktionen zeigen ihren Vorteil im Schwungphasenverlauf. Je nach Achsanordnung entsteht eine mehr oder weniger starke Verkürzung des Gelenkkörpers mit zunehmender Beugung. Dies äußert sich in der Schwungphase positiv in Form vermehrter Bodenfreiheit oder reduzierter kompensatorischer Beckenanhebung. Weiterhin überzeugen polyzentrische Gelenksysteme durch ihre geringe Aufbauhöhe und Achslage. Dies wirkt sich beim Sitzen in einer reduzierten Überlänge des Oberschenkels im Vergleich zu den monozentrischen Konstruktionen aus.
Je nach Aufbauhöhe des Gelenkes und nach Körpergröße des Anwenders verbleibt für den Prothesenfuß nicht mehr viel Platz. In Kombination mit mikroprozessorgesteuerten Gelenksystemen ist es nur selten möglich, höher aufbauende Prothesenfußsysteme mit dynamischen Eigenschaften zu kombinieren. Ein Drehadapter findet aufgrund der Verhältnisoptimierung ebenfalls keinen Einsatz.
Fazit
Die Versorgung von Anwendern mit Knieexartikulation erfordert ein differenziertes Vorgehen, das sich maßgeblich von der – oftmals zum Vergleich herangezogenen – Versorgung Oberschenkelamputierter unterscheidet. Die Probleme in der Anprobe betreffen weniger die Last-Kraft-Übertragung im Prothesenschaft. Vielmehr arbeitet man bei der Knieexartikulationsversorgung an mehreren Limits: begrenzte Bauhöhen, limitierende kosmetische Gestaltungen, begrenztes Shiften des Schaftes etc.
Um der Versorgung kosmetisch alles abzuverlangen, muss jeder Millimeter Dicke, Länge, Breite und Stärke überdacht und begründet sein. Fertigungstechnisch muss auf die Adaptervariation und die Möglichkeit einer Nachjustierung aufgrund der Aufbauhöhe weitestgehend verzichtet werden. Das mehrmalige Trennen und neu Ansetzen eines Schaftadapters gehört als unverzichtbare Tätigkeit zur Anprobe und ist Bestandteil der Ermittlung einer optimalen Statik. Funktionell gesehen ist der Knieexartikulationsstumpf um Längen besser als jede noch so gute Oberschenkelamputation. Kaum ein Oberschenkelanwender kann sich so unauffällig mit so wenigen Kompensationsmechanismen durch den Alltag bewegen wie ein knieexamputierter Anwender.
Adaptive Schaftsysteme sind kein Luxus, sondern das Ergebnis bestmöglicher Adaptivität an die verschiedenen Alltagssituationen. Sie dienen und fördern damit den unmittelbaren Behinderungsausgleich. Sitzen, Fühlen, Rückmeldung – Exterozeption und Interozeption vermitteln den Anwendern ein deutliches Plus im alltäglichen Leben mit Prothese (Abb. 10).
Für die Autoren:
Tim Baumeister, OTM
Pohlig GmbH
Grabenstätter Str. 1, 83278 Traunstein
T.Baumeister@pohlig.net
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Baumeister T, Gawron O, Schäfer M. Orthopädietechnische Versorgungsmöglichkeiten nach Knieexartikulation. Orthopädie Technik, 2016; 67 (10): 30–35
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Baumgartner R, Botta P. Amputation und Prothesenversorgung. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme Verlag, 2008: 356–358
- Greitemann B, Brückner L, Schäfer M, Baumgartner R. Amputation und Prothesenversorgung. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme Verlag, 2016: 368–370
- Watermann H. Besonderheiten der Maßabformtechnik in der Knieexartikulationsprothetik. Orthopädie Technik, 2004; 55 (6): 526–528
- Greitemann B, Brückner L, Schäfer M, Baumgartner R. Amputation und Prothesenversorgung. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme Verlag, 2016: 368–370
- Wilhelm Julius Teufel GmbH. Co.Co.S® – die innovative Schaftform bei Knieexartikulation [Produktinformation]. http://www.teufel-international.com/fileadmin/pdf/Flyer/Prothetik_Flyer/CoCoS_Konzept_Rev201405.pdf (Zugriff am 06.09.2016)
- Schäfer M, Pohlig K. Das Pohlig Bionic Socket System (PBSS). Orthopädie Technik, 2014; 65 (5): 62–68