Prävalenz
Die Prävalenz arthrotischer Erkrankungen liegt für über 65-jährige Frauen bei 52,9 %, für Männer bei 34,8 %. Dabei ist bei mehr als 50 % der Erkrankten das Kniegelenk betroffen 1. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Varusgonarthrose, da diese die bei Weitem überwiegende Abweichung ist. Auch die zitierte wissenschaftliche Evidenz bezieht sich in der Regel nur auf diese Form des Überlastungsschadens. Die biomechanischen Grundüberlegungen gelten aber für die Valgusgonarthrose ebenso.
Leitlinien
Der hohen Zahl an Betroffenen steht eine ebenso große Zahl an Therapieoptionen gegenüber. Das „Arthrose-Therapie-Verzeichnis“, ein Selbsthilfeforum, listet derzeit 229 sowohl konservative als auch operative Therapieansätze mit überwiegend eher geringer Evidenz auf 2. Auch die Suche nach Leitlinien erbringt nur Evidenzansätze. Die aktuellste publizierte deutschsprachige Leitlinie zur Gonarthrose-Therapie stammt bereits aus dem Jahr 2002 und kann daher sicherlich nicht mehr als der neueste Kenntnisstand bewertet werden 3. Eine Neuauflage sollte bis zum 31.12.2015 veröffentlicht werden und stand somit zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch nicht zur Verfügung. Im Rahmen des DKOU-Kongresses 2014 hat aber der verantwortliche Autor Prof. Dr. Johannes Stöve vom St.-Marienkrankenhaus in Ludwigshafen bereits einen Überblick zur aktuellen Evidenz der Kniearthrosetherapie vermittelt 4 und sich dabei im Wesentlichen auf die derzeit aktuellste Leitlinie zum Thema Gonarthrose, die „OARSI guidelines for the non-surgical management of knee osteoarthritis“ (OARSI = Osteoarthritis Research Society International), bezogen 5.
Anforderungen an die Versorgung
Als evidenzbasierte konservative Standardtherapie werden dort neben Gewichtsmanagement, Krafttraining/ Wassergymnastik, Selbstmanagement und Patientenschulung zuallererst Bewegungsmaßnahmen genannt. Empfohlen von Professor Stöve wird hier vor allem das Spazierengehen. Wenn die empfohlene Bewegung vom Patienten aber primär als schmerzhaft empfunden wird, wird seine Bereitschaft, sich zu bewegen, entsprechend gering sein. Ziel einer orthopädietechnischen Versorgung muss also vor allem die Schmerzreduktion sein.
Diese kann dabei mechanisch auf zwei Arten erfolgen: Zum einen kann die Bodenreaktionskraft, die auf die Beinachse wirkt, durch die Verwendung von Gehstützen reduziert werden, die einen Teil der Belastung auf die obere Extremität umverteilen. Dies wird von der OARSI jedoch nur dann empfohlen, wenn noch keine arthrotischen Veränderungen in der oberen Extremität vorhanden sind. Uneingeschränkte Empfehlungen der OARSI gibt es jedoch für biomechanische Interventionen, die den Abstand des Belastungsvektors zur Kniemitte in der Frontalebene vermindern und damit das bei den meisten Patienten vorhandene varisierende Moment und die daraus resultierende schmerzhafte Überlastung im medialen Kompartiment des Knies reduzieren. Explizit werden hier Einlagen mit Außenranderhöhung und Knieorthesen genannt. Die im internationalen Markt noch relativ wenig verbreiteten Unterschenkelorthesen mit valgisierender Wirkung auf das Kniegelenk wurden von der OARSI nicht berücksichtigt.
Neben diesen Maßnahmen ist als wenig kostenintensive Intervention auch die Verwendung von Fersenkissen zur Stoßdämpfung weit verbreitet. Obwohl von vielen Patienten eine Schmerzreduktion beschrieben wird, ist die Evidenz für diese Intervention bei Arthrosepatienten eher als dürftig zu bezeichnen.
Außenranderhöhungen
Die verbreitete Versorgungsidee in Bezug auf Außenranderhöhungen, unabhängig davon, ob sie als Schuhzurichtung oder als Einlage im Schuh gefertigt werden, besteht darin, dass über die keilförmige Auftrittsfläche ein valgisierendes Moment auf das Knie ausgeübt wird und dadurch eine Entlastung des medialen Kompartiments erfolgt. Hierbei stellt sich jedoch zwangsläufig die Frage, wie viel von der Außenrandanhebung unter dem Fuß tatsächlich im Knie ankommt, wenn zwischen Calcaneus und Knie noch das untere Sprunggelenk zu finden ist, das durch seine Eversionsbewegung ein valgisierendes Moment der Ferse kompensieren kann. Sinnvoll wäre es also, gleichzeitig mit der Außenrandanhebung die Eversion zu verhindern, beispielsweise über eine Anstützung der medialen Längswölbung. Dieser positive Effekt einer zusätzlichen Längswölbungsstütze konnte in Studien eindeutig belegt werden 6 7 8 9.
Ein nachvollziehbareres Erklärungsmodell für das Wirkprinzip der Außenranderhöhung ist die damit verbundene Lateralisierung des Belastungsvektors im Verhältnis zum Kniegelenk und die daraus resultierende Verringerung des varisierenden Momentes. In zahlreichen Studien wird dieser Wert als das entscheidende Zielkriterium für die Bewertung der Effektivität des Hilfsmittels definiert und nachgewiesen 10 11 12 13.
Für den Praktiker stellt sich dabei die Frage nach der erforderlichen Höhe der Außenrandanhebung. Hierzu gibt die Studie von Tipnis et al. Hilfestellung 14. Getestet wurden Randerhöhungen von 0 bis 12° in 2‑Grad-Schritten. Zielparameter waren der mechanische Effekt auf das Kniegelenk und das subjektive Komfortempfinden der Patienten. Mehr als 6° Erhöhung hatten keinen signifikant höheren Korrektureffekt auf das Knie, ab 8° wurde der Komfort als grenzwertig beschrieben. Somit lautet die Empfehlung, einen Neigungswinkel von 4 bis 6° anzustreben. Will man dies im Alltag berechnen, so multipliziert man die Einlagenbreite in Millimetern mit dem Tangens aus der angestrebten Neigung und erhält damit die notwendige Randerhöhung in Millimetern. Hat man beispielsweise eine Fersenbreite von 70 mm und möchte eine Neigung von 6° verwirklichen, so ergibt sich im Fersenbereich eine laterale Erhöhung von etwa 7 mm. Es konnten keine Untersuchungen ermittelt werden, die Unterschiede in der Wirksamkeit unterschiedlich langer Randerhöhungen (nur Ferse, Ferse und Mittelfuß, langsohlig) zum Inhalt hatten.
Knieorthesen
Im konventionellen Verständnis der Wirkungsweise von Knieorthesen bei Varusgonarthrose (Abb. 1) wird davon ausgegangen, dass das applizierte 3‑Punkt-Korrekturprinzip, bestehend aus medialem Druck knienah und lateralem Druck kniefern, mit möglichst langem Hebelarm die Varusstellung des Beines aufrichtet und damit das mediale Kompartiment entlastet. So anschaulich dieses Bild auch sein mag – die Theorie lässt sich mit bildgebenden Verfahren nicht verifizieren 15 16. Eine signifikante Veränderung des Kniewinkels in der Frontalebene konnte in beiden Studien nicht nachgewiesen werden. Jedoch reduziert das valgisierende Moment der Knieorthese das vorhandene Varusmoment der Fehlstellung um 10 % 17. Mit instrumentierten Knieimplantaten konnte für eine andere Orthesenbauart sogar eine Belastungsreduktion von etwa 25 % gemessen werden 18. Offenbar ist also auch hier eher die veränderte Position des Belastungsvektors zur Kniemitte von Bedeutung. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Meta-Analyse aus 17 Einzelstudien, die eine deutliche Reduktion des externen varisierenden Moments beschreibt 19. Die veränderte Belastung hat dabei auch Einfluss auf die Aktivität der kniestabilisierenden Muskulatur. Insbesondere die für die intraartikuläre Druckbelastung mitverantwortliche Ko-Kontraktion der Muskulatur kann durch Knieorthesen vermindert werden 20.
Neben diesen positiven Effekten werden für Knieorthesen aber auch Komforteinschränkungen beschrieben, die häufig eine langfristige Nutzung der Hilfsmittel verhindern 21. Explizit werden hier das Rutschen der Orthese am Bein, schlechte Passform, Blasenbildung und sonstige Hautirritationen genannt. Hier ist die Orthopädie-Technik gefragt, auch bei konfektionierten Produkten die Anpassung an die individuellen Gegebenheiten sorgfältig durchzuführen. Auch der eingestellte Korrekturwinkel in der Orthese beeinflusst die Akzeptanz der Versorgung. Zwar zeigt ein vergrößerter Korrekturwinkel (8° gegenüber 4°) auch erhöhte Effekte, gleichzeitig lässt die erhöhte Krafteinwirkung aber auch negative Auswirkungen auf die Compliance erwarten 22. Bei der Bewertung der langfristigen Akzeptanz von Knieorthesen ist sicherlich auch zu berücksichtigen, dass der zugrunde liegende Knorpelverschleiß nicht rückgängig gemacht werden kann und ein Fortschreiten des degenerativen Prozesses meist lediglich verzögert, jedoch nicht gestoppt werden kann, weshalb am Ende des Weges dann häufig doch ein operativer Eingriff mit Achskorrekturen oder endoprothetischem Ersatz steht.
Unterschenkelorthesen
Die Behandlung der Gonarthrose mittels einer valgisierenden Unterschenkelorthese ist noch relativ neu und vor allem im internationalen Bereich bislang wenig verbreitet. Dementsprechend ist auch die Studienlage noch relativ dünn, dafür aber vielversprechend. Der valgisierende Effekt der Versorgung wird über eine in der Frontalebene biegesteife Konstruktion erreicht, die den voreingestellten Winkel zwischen der Bodenauftrittsfläche der Orthese und der seitlichen Unterschenkelschiene der Orthese über die gesamte Standphase konstant hält (Abb. 2). Die Bewegung des oberen Sprunggelenkes im Sinne der Dorsalextension/Plantarflexion wird durch die Orthese nicht eingeschränkt. Eine Vorstudie zeigte an gesunden Probanden eine tatsächliche Veränderung des Kniewinkels in der Frontalebene. Bei einem eingestellten Valguswinkel von 4° in der Orthese zeigte sich eine Verringerung des Knievarus um 1,9° 23. Der hauptsächliche Effekt besteht aber auch hierbei darin, dass die Orthese den Belastungsvektor näher an das Kniegelenk bringt und so das varisierende Moment verringert. Eine erste Studie an Patienten zeigt eine Entlastung des medialen Kompartiments um 15 % bei gleichzeitiger subjektiver Schmerzreduktion. Die mittels VAS-Skala erhobene Schmerzempfindung sank von 7,7 ohne Orthese auf 3,8 mit Orthese 24 (Abb. 3) .
Fazit
Für alle drei vorgestellten orthopädietechnischen Versorgungskonzepte bei Varusgonarthrose lässt sich die Wirksamkeit wissenschaftlich belegen. Am wenigsten aufwendig, auch unter Kostengesichtspunkten, erscheint hierbei die Versorgung mit einer Außenranderhöhung. Allerdings wird hierfür in der Literatur auch immer wieder von „Non-Respondern“ berichtet, also Patienten, die dabei keine zufriedenstellende Schmerzreduktion erfahren. Trotzdem lohnt sich sicher der Versorgungsversuch, vorausgesetzt, die Stabilisierung des unteren Sprunggelenkes durch die Längswölbungsanstützung wird berücksichtigt.
Die Knieorthesenversorgung mit einer konfektionierten Orthese lässt sich ebenfalls mit relativ geringem Aufwand testen. Meist kann der Patient direkt den entlastenden Effekt erspüren. Überwiegt aber das Diskomfortgefühl, so müssen gegebenenfalls auch an einem konfektionierten Produkt entsprechende Anpassungen vorgenommen werden. Im Einzelfall lässt sich nur mit einer Individualanfertigung ein guter Kompromiss aus Wirksamkeit und Komfort verwirklichen (Abb. 4).
Vielversprechend erscheint nach bisherigem Kenntnisstand die valgisierende Unterschenkelorthese. Sie bietet zufriedenstellende Schmerzreduktion bei meist geringeren Akzeptanzproblemen.
Der Autor:
Ludger Lastring, OTM, MSc.
Bundesfachschule für Orthopädie-Technik
Schliepstraße 6–8
44135 Dortmund
l.lastring@bufa-ot.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Lastring L. Orthopädietechnische Interventionen bei Kniearthrose. Orthopädie Technik. 2016; 67 (1): 50–53
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