Einleitung
Der Bereich der Beinprothetik hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant weiterentwickelt. Mechatronische Komponenten wie beispielsweise das C‑Leg von Ottobock, das Rheo Knee von Össur oder das Orion von Blatchford sind aus Alltagsprothesen nicht mehr wegzudenken. Verglichen mit der Weiterentwicklung von Kniegelenken und Prothesenfüßen haben sich Schaftsysteme, vor allem deren Anpassung, wenig verändert. Dabei hat die Stumpf-Schaft-Schnittstelle als Bindeglied zwischen Mensch und technischem System erheblichen Einfluss auf die Zufriedenheit des Nutzers und dessen Mobilität 1. Durch den Schaft wird die Lastübertragung, die Stabilität und die Kontrolle der Prothese gewährleistet 2. Eine schlechte Passung vermindert nicht nur die Prothesenkontrolle, sondern kann auch zur Beschädigung des angrenzenden Gewebes führen 3.
Typischerweise werden Prothesenschäfte manuell hergestellt 4, wobei die Stumpfabformung eine der anspruchsvollsten Tätigkeiten des Orthopädie-Technikers darstellt. In enger Kommunikation mit dem Patienten versucht der Experte die Gewebecharakteristika individuell zu erfassen, indem beispielsweise schmerzempfindliche Bereiche erfragt und ertastet werden. Bereits in der Anfertigung des Gipsabdrucks am Patienten werden so Pläne für die spätere Zweckform berücksichtigt. So schätzt der Orthopädie-Techniker anhand der Stumpfkonstitution dessen Verhalten in dynamischen Gangsituationen ab und lässt dies in die Abformung der Stumpfgeometrie einfließen. Es entsteht ein modifiziertes Abbild des Stumpfes, das nicht der unbelasteten Stumpfkontur entspricht, sondern unter Berücksichtigung der vom Orthopädie-Techniker prognostizierten Belastbarkeit der verschiedenen Stumpfregionen deformiert ist. Das entstandene Modell des Stumpfes kann je nach Expertise des Orthopädie-Technikers eine andere Form aufweisen 5. Ein mit Hilfe dieses Stumpfmodells geformter Testschaft wird für erste Gehversuche genutzt und dient somit als Grundlage für weitere Anpassungen des Systems basierend auf den subjektiven Rückmeldungen des Patienten. Je nach Expertise des Technikers und Feedback des Patienten sind viele Iterationen bis zur Erreichung eines finalen Schaftsystems notwendig. Ein Nachweis über die medizinisch richtige und/oder verträglichste Form wird dabei nicht erbracht, d. h., das Vorgehen und die Ergebnisse sind nicht anhand objektiver Kriterien nachvollziehbar 6.
Durch technische Hilfsmittel lässt sich diese iterationsreiche und damit zeitintensive und belastende Arbeitsphase für Orthopädie-Techniker und Patienten gleichermaßen unterstützen. Die aktuell in der Forschung untersuchten Unterstützungsmaßnahmen beruhen zum Großteil auf der Digitalisierung der äußeren Geometrie des Stumpfes und dessen Zusammensetzung (bspw. 4 5 6 7 ). Diese Informationen werden im Anschluss als Eingangsdaten für Computersimulationen verwendet. Die daraus gewonnenen Ergebnisse unterstützen den Orthopädie-Techniker im Anpassungsprozess: Bspw. wird mittels integriertem FEA-CAM-Verfahren direkt eine erste Schaftform hergestellt. Nachteilig sind hierbei die hohen Kosten sowie die teilweise hohe Strahlenbelastung durch den Einsatz bildgebender Verfahren. Ein weiterer begrenzender Faktor dieser Ansätze ist die Beschränkung auf die Stumpfvermessung im statischen Zustand; individuelle Veränderungen der Stumpfgeometrie sowie Bewegungen des Knochens im Weichgewebe während des Gangzyklus werden nicht erfasst.
Das im Folgenden vorgestellte Forschungsvorhaben umfasst unter anderem die Vermessung der dynamischen Stumpf-Schaft-Interaktion und der Biomechanik, die durch die Erfassung des subjektiven Patientenempfindens sowie modellbasierte Berechnungsmethoden ergänzt werden. Unter Berücksichtigung der Expertise begleitender Orthopädie-Techniker werden aus den messtechnisch-modellbasierten Ergebnissen Handlungsempfehlungen zur Schaftherstellung abgeleitet. Auf diese Weise soll das Vorgehen in der Schaftherstellung objektiviert werden, sodass die Nachweisbarkeit der Schaftpassung quantifizierbar wird.
Im vorliegenden Artikel wird zunächst die integrative Entwicklungsmethodik vorgestellt, die diesem Forschungsvorhaben zugrunde liegt. Anschließend werden die verschiedenen Ansätze zur Quantifizierung des dynamischen Verhaltens der Stumpf-Schaft-Schnittstelle sowie der Schaftanpassung dargelegt, bevor das Zusammenwirken dieser Methoden erläutert wird.
Vorstellung der integrativen Entwicklungsmethodik
Um Schaftversorgungen mit hoher und gleichbleibender Qualität zu ermöglichen, werden Messdaten aus der Ganganalyse mit Hilfe biomechanischer Modelle ausgewertet und die Ergebnisse mit subjektiven Bewertungen von Nutzern und Experten abgeglichen. Die experimentelle Untersuchung der dynamischen Gangsituation stellt die Grundlage zur Analyse der Stumpf-Schaft-Interaktion im biomechanischen Modell dar. Hierbei werden die Wechselwirkungen zwischen Schaft und Stumpf im Lastfall umfassend vermessen. Es sollen die biomechanischen Messgrößen des Bewegungsablaufs und des damit verbundenen Druckverlaufs an der StumpfSchaft-Schnittstelle sowie die Reaktion des oberflächlichen Gewebes erhoben werden. Die individuelle Geometrie des Oberschenkelstumpfes, beispielsweise die Amputationshöhe oder der Umfang des Oberschenkels, muss dabei messtechnisch durch die Positionierung der Sensoren am Schaft beachtet werden. Diese Faktoren können im biomechanischen Modell durch Parametervariation berücksichtigt werden. Die Übergabe der Messpunkte an das biomechanische Modell muss jedoch unabhängig vom Geometrieaspekt standardisiert erfolgen. Dies erfordert eine Vorverarbeitung und Zusammenfassung der Sensorwerte in die geforderte Norm. Die erhobenen Messdaten erlauben die Anpassung des biomechanischen Modells an die Realität sowie dessen Validierung. Daraus resultiert eine Simulation der Belastungssituation am Stumpf durch die Verknüpfung der Messdaten mit dem biomechanischen Modell. Ziel ist die Identifikation der relevanten Messgrößen für die Nutzung zur Schaftsynthese und deren messtechnische Erfassung.
Um reproduzierbare und validierbare Messergebnisse zu ermöglichen, wird eine homogene Patientengruppe spezifiziert. In einer Diskussionsrunde mit Experten aus Orthopädie-Technik und Wissenschaft wurden die nachfolgenden Einschlusskriterien identifiziert: Die betrachtete Patientengruppe weist eine transfemurale Amputation (Stumpflänge von Femur Mitte bis distales Drittel) auf, wobei die Amputation mindestens 24 Monate zurückliegt. Zunächst werden Patienten untersucht, die mit einem zufriedenstellenden Schaft (längsovale Geometrie mit Vakuum-Verschlusssystem) versorgt werden konnten. Merkmale der Mobilitätsklasse 3 oder höher gewährleisten unwesentliche Mobilitätseinschränkungen des Patienten. Sensibilitäts- und Durchblutungsstörungen sowie eine instabile gesundheitliche Situation stellen Ausschlusskriterien dar.
Eine Herausforderung stellt das Messen reproduzierbarer Werte dar, denn das Volumen des Stumpfes unterliegt individuellen natürlichen Schwankungen, die tageszeit‑, langzeit- und belastungsabhängig sind und in unterschiedlichen Druckverhältnissen während des Gangs resultieren 8 9. Das Studiendesign berücksichtigt diese Unstetigkeit durch einen definierten Ablauf mit Ruhephasen, Messungen vor und nach einer definierten Belastung sowie Wiederholungsmessungen.
In der biomechanischen Modellentwicklung werden vereinfachte Modelle der Dynamik der Stumpf-Schaft-Schnittstelle für die Analyse und Prädiktion von Relativbewegungen und Belastungen erstellt. Neben diesen quantitativen Kriterien zur Bewertung der Versorgungsqualität fließt die nutzerseitige Wahrnehmung („Human Factors“) in die Entwicklung ein. Hierzu werden Fragebogen- und Interviewstudien durchgeführt und bezüglich Kriterien wie Tragekomfort oder wahrgenommene Funktionalität und Sicherheit bewertet und objektiviert.
Abbildung 1 zeigt das in 10 vorgestellte Rahmenwerk zur Mensch-Maschine-zentrierten Prothesenentwicklung. In diese fließen die Erkenntnisse der Ganganalyse sowie der biomechanischen Modellierung zur technischen Anforderungsanalyse ein (z. B. durch die Festlegung der geforderten Bewegungen oder Kräfte/Momente). Um basierend darauf menschorientierte Schaftdesigns zu entwickeln, werden die Ergebnisse der Nutzerstudien zur Feststellung und Modellierung der relevanten Human Factors genutzt. In einer Diskussion von Experten aus unterschiedlichen Disziplinen – z. B. Orthopädie-Technik, Psychologie, Medizin (-technik), Ingenieurs- und Sportwissenschaften – wird durch die Quality-Function-Deployment-Methode 11 der Schwerpunkt der technischen Entwicklung so festgelegt, dass die Prioritäten an den Nutzeranforderungen ausgerichtet sind. Anschließend erfolgen der Entwurf und die Umsetzung des technischen Systems mit etablierten Methoden aus dem Ingenieurbereich (z. B. V‑Modell nach VDI 2206).
Die auf diese Weise erarbeiteten Schaftdesigns und Vorgehensweisen zur Fertigung werden mit den Erfahrungen von Orthopädie-Technikern abgeglichen. Das Wissen dieser Experten wird in Interviews erfasst und durch statistische Auswertung objektiviert, um Aspekte wie Materialauswahl und geometrische Gestaltung zu generalisieren. Die Gegenüberstellung mit den Ergebnissen aus der Mensch-Maschine-zentrierten Prothesenentwicklung erlaubt einerseits deren Validierung und andererseits ihre Erweiterung durch die Aufstellung von Regeln zur Schaftsynthese. Hierzu können die Messdaten und biomechanischen Modelle genutzt werden, um mit dem Expertenwissen entsprechende Lösungen zu generieren.
Verschiedene Ansätze zur Objektivierung der Schaftanpassung
Im Folgenden werden die verschiedenen Ansätze zur Objektivierung der Schaftanpassung erläutert. Zentrale Aspekte sind hierbei die messtechnische Erfassung des individuellen Gangs in Alltagssituationen sowie das Verhalten der Stumpf-Schaft-Schnittstelle, die Erhebung von Expertenwissen und Nutzererfahrungen sowie die Modellierung des Schnittstellenverhaltens.
Messtechnische Erfassung: Ganglaborumgebung und Sensorik
Für detaillierte probandenbasierte Untersuchungen und entsprechende Aufbauten (z. B. für Treppen- und Rampenmodule) wird viel Platz benötigt. Des Weiteren ist es erforderlich, Sensoren wie Kraftmessplatten variabel im Raum platzieren zu können. Im Rahmen des Projekts wird ein modulares Bewegungslabor genutzt (Abb. 2). Die Basis dessen bildet ein Profilrahmensystem, in welchem sich Kraftmessplatten sowie verschiedene Untergründe sowohl im Boden als auch in variablen Treppen- und Rampenmodulen integrieren lassen. Die während der Untersuchung verwendeten Infrarot- und optischen Kameras lassen sich durch variable Aufhängungen sowohl an der Decke als auch auf Bodenniveau im Raum verteilen. Hierdurch stehen die Kameras immer in einem für die Messung optimalen Winkel zum fokussierten Objekt. Somit lassen sich die für das Vorhaben benötigten dynamischen Gang- und Bewegungssituationen optimal erfassen.
Für eine möglichst alltagsrelevante Aussagekraft der dynamischen Stumpf-Schaft-Passform wurde ein Versuchsparcours (Abb. 3), bestehend aus Gehen in der Ebene, Drehungen um 90°, einer Rampe mit variabler Steigung (5 %, 7,5 % und 10 %) und Treppenaufstieg und ‑abstieg, spezifiziert.
Der Fokus des Forschungsvorhabens liegt auf der direkten Stumpf-Schaft-Interaktion in dynamischen Situationen, wie sie bisher aus Praktikabilitätsgründen nicht erfassbar waren. Für die detaillierte Untersuchung der Schaftmechanik und der Stumpf-Schaft-Schnittstelle lassen sich verschiedene Sensorsysteme einsetzen. Die genaue (+/– 0,5 mm) dreidimensionale Positionierung der Prothese relativ zu den Körpersegmenten lässt sich mittels Video- und Infrarotkamera (zehn Kameras, Qualisys Oqus 400) mit reflektierenden Markern erfassen. Kinematische Größen lassen sich an der Kontaktstelle der Prothese bzw. des kontralateralen Beines zum Boden mit Mehrkomponenten-Kraft- und Momenten-Messplatten (AMTI AccuGait) erfassen. Zusätzlich lässt sich ein Kraft- und Momentensensor (CPI iPecs) in den Prothesenaufbau integrieren, um unabhängig von den Kraftmessplatten weitere kinetische Größen zu erfassen. Darüber hinaus werden bis zu vier mobile kapazitive Drucksensormatten (Novel) in den Schaft platziert. Hierdurch lässt sich in diesen Bereichen der dynamische Anpressdruck zwischen Haut und Liner bzw. Schaft erfassen.
Zusätzlich wird die Hauttemperatur und ihr zeitlicher Verlauf über lokal im Schaft angebrachte Temperatursensoren erfasst, um Informationen über Druckstellen und Passform auszuwerten. Unterstützt werden die Messungen durch hochauflösende Thermografiekameras (Messauflösung: +/– 0,1 °C). Aufgabe dieses Verfahrens ist es, die Reaktion der Haut und der tieferliegenden Gewebeschichten unmittelbar nach der Belastung aufzunehmen. In einer Studie von Verhonick 12 konnte eine Korrelation der Oberflächentemperatur der Haut sowohl mit der Dauer als auch der Stärke von Druckreizen aufgezeigt werden. Daraus können kritisch durchblutete Areale für die Empfehlung einer Schaftgeometrie abgeleitet werden. Die Vorteile dieses Messverfahrens liegen einerseits in der hohen räumlichen Auflösung, andererseits in der verlässlichen Abbildung der physiologischen Reaktion des Gewebes auf Belastungen (Druck- und Scherkräfte). Da der Anstieg der Hauttemperatur mit einer Verzögerung im Minutenbereich stattfindet, ist keinerlei Eingriff in das Stumpf-Schaft-System nötig. Zusätzlich werden der dreidimensionale Prothesenaufbau und die Kontur des Beinstumpfs mit handgeführten 3‑D-Scannern (FARO Freestyle) erfasst und digitalisiert.
Das Messsystem für Erprobung der Stumpf-Schaft-Interaktion ist so ausgelegt, dass mehr Messgrößen, ‑kanäle und ‑daten erhoben werden als notwendig. Im Verlauf des Projekts sollen sowohl durch Erkenntnisse aus den gewonnenen Messdaten als auch aus der Erfassung des Expertenwissens, der Nutzererfahrungen sowie der Modellierung die notwendigen Messparameter und ‑stellen reduziert werden.
Erfassung von Expertenwissen und Nutzererfahrungen
Implizites und explizites Wissen der Orthopädie-Techniker bei der Anpassung von Prothesenschäften soll durch Interviews, Expertengespräche und Verhaltensbeobachtungen während des Anpassungsprozesses erfasst werden. Eine erste Expertenrunde zum Thema „Identifikation von Problemzonen im Schaftbereich“ wurde mit fünf Orthopädie-Technikern und sieben Experten aus den Wissenschaftsdisziplinen Maschinenbau, Mechatronik, Sportwissenschaft, Physik, Medizin, Medizintechnik und Psychologie durchgeführt. Dabei wurden zwei Fragestellungen diskutiert:
- Bezeichnung problemrelevanter Zonen im Schaft aufgrund der Erfahrungen der Orthopädie-Techniker
- Bezeichnung problemrelevanter Zonen im Schaft aufgrund iterativer Anpassungsschritte beruhend auf Rückmeldungen der Prothesenträger
Zu beiden Fragestellungen sollten die Vertreter der Orthopädie-Technik die identifizierten Bereiche auf einem transparenten Probeschaft farbig markieren. In Abbildung 4 sind die zu Fragestellung 1 markierten Bereiche in Blau, die zu Fragestellung 2 markierten Bereiche in Rot zu sehen.
Auf Basis der Schnittmengen der gekennzeichneten Bereiche auf dem Probeschaft konnten folgende Belastungszonen identifiziert werden: Ramus ossis ischii, Tuber ischiadicum, Trochanter major, Ansätze der Adduktoren, distales Stumpfende, ventrolateraler Stumpfbereich. Diese Zonen sollen bei der Messung berücksichtigt werden und stellen somit die Grundlage für die Platzierung der Druckmessfolien dar (Abb. 5).
Die objektive Bewertung des Nutzererlebens und der Nutzerzufriedenheit der Prothesenträger soll mittels evaluierter Fragebögen erfasst werden 13 14 15. In vorhergehenden Untersuchungen konnten bereits sieben relevante Dimensionen zur Erfassung der Nutzerzufriedenheit identifiziert werden: Zufriedenheit, Sicherheitsgefühl, Körperschemaintegration, Unterstützung, Schaft, Mobilität und Außenwirkung 16. Es sollen jedoch nicht nur Nutzererleben, Tragekomfort und Zufriedenheit erfasst werden, sondern darüber hinausgehend auch Schmerzerleben und physische Funktionen 17. Zu diesem Zweck können psychophysiologische Messmethoden wie Herzratenvariabilität oder elektrodermale Aktivität verwendet werden 18. So können beispielsweise durch Schmerzen hervorgerufene Stresszustände der Probanden aufgezeigt und objektiviert werden. Zur Kontrolle der subjektiven Anstrengung und der physischen Belastung kann der Puls als Indikator für die kardiovaskuläre Belastung herangezogen werden. Diese Rückmeldung der Nutzer wird mit den biomechanischen Kriterien verglichen, sodass eine nutzerzentrierte, aber dennoch modellbasierte Einteilung und Bewertung der Schaftqualität erfolgen kann. Somit können relevante Nutzercharakteristika der Prothesenträger identifiziert werden und für zukünftige Herstellungsprozesse nutzbar gemacht werden.
Modellierung
Wie in den vorherigen Abschnitten dargestellt, handelt es sich bei der Schnittstelle von Stumpf und Schaft um ein sehr komplexes System, in dem eine Vielzahl an Messwerten und Körpereigenschaften aufgezeichnet werden kann. Zur Übertragung eines solchen Systems in ein Simulationsmodell ist es erforderlich, entsprechende Annahmen und Vereinfachungen zu treffen. Zur Untersuchung der Auswirkungen der Stumpf-Schaft-Interaktion auf das Gangbild eignen sich vor allem stark reduzierte biomechanische Modelle („Templates“). Diese ermöglichen es, grundlegende Mechanismen zu identifizieren, ohne dass alle Details der Körperstruktur bekannt sind 19. Solch parsimonischen Modelle nutzen dabei Redundanzen und Symmetrien des Systems aus 20 und werden im Bereich der Biomechanik seit mehr als zwei Jahrzehnten verwendet 21 22 23 24. Diese können auch für die Untersuchung von Protheseneigenschaften und Segmentdynamik zum Einsatz kommen 25. Somit eignen sich Templates im Rahmen der integrativen Entwicklungsmethodik, um etwa die Wechselwirkung der Stumpf-Schaft-Interaktion und der Körperdynamik zu untersuchen.
Zusätzlich zu dieser globalen Betrachtungsweise ist es zielführend, die Schnittstelle von Stumpf und Schaft lokal zu betrachten und diese in einem ebenfalls vereinfachten Teilmodell abzubilden. Die detaillierte Modellierung der Stumpfgeometrie und deren Eigenschaften stellt dabei aufgrund der vielen Nichtlinearitäten eine große Herausforderung dar und erfordert daher zusätzliche Vereinfachungen 7 26. Trotz dieser Problematiken sind größtenteils Finite-Elemente-Modelle in der Literatur zu finden 3. Die Validierung dieser detaillierten Modelle gestaltet sich jedoch äußerst schwierig 4. Teilziel des hier vorgestellten Ansatzes ist es, basierend auf Druckmessungen im Schaft Anzahl und Anordnung der Stützstellen zur Modellierung der Stumpfgeometrie zu evaluieren, sodass eine zonale Kartierung der dynamisch relevanten Zonen abgeleitet werden kann. Die gewonnenen Erkenntnisse über den Detaillierungsgrad der Interaktionsmodelle, deren Aussagekraft und die damit einhergehende Komplexitätsreduktion vermindern den Ressourceneinsatz in der Messdatenerfassung und der Modellierung und fließen unmittelbar in das Empfehlungsmodell zur Anpassung von Prothesenschäften ein. Ausgangsbasis hierfür ist ein stark vereinfachtes Interaktionsmodell, wie es bspw. bei Gregg/Sensinger 27 sowie bei Noll 28 verwendet wird (Abb. 6A). Die in der Modellierung herangezogenen Stützstellen werden variiert, erweitert (Abb. 6B oder 6C) und hinsichtlich ihrer Vorhersagekraft bei gleichen Randbedingungen und äußeren Belastungen mit den experimentell erhobenen Messdaten verglichen.
Zur Validierung der Modelle werden die in den vorherigen Abschnitten beschriebenen Messdaten herangezogen. Dafür wird das Simulationsmodell entsprechend den probandenspezifischen Modellparametern (z. B. anthropometrische Daten, Körpergeometrie etc.) konfektioniert. Die Validierung der Modelle erfolgt anhand weiterer Messdatensätze (z. B. lokale Druckverteilung im Schaft, Kinematik, Kinetik etc.).
Konzeptionierung eines Assistenzsystems für Orthopädie-Techniker
Zur Entwicklung eines mobilen Messsystems für den praktischen Einsatz werden mit den experimentellen Ergebnissen die relevanten Messgrößen und unter Berücksichtigung der biomechanischen Modelle die notwendige Sensordichte methodisch identifiziert. Ziel dessen ist die hinreichende Sensorkonfiguration für die Erfassung der Stumpf-Schaft-Interaktion, die zugleich praxistauglich integriert werden kann – beispielsweise in das Textil eines Liners. Dieser Liner wird dann in den jeweiligen Probeschaft eingelegt.
Herstellerangaben zufolge komprimiert der Liner den Stumpf, stabilisiert das Weichteilgewebe durch die integrierte Matrix und kommt den Aufgaben von Hautschutz sowie dem Ausgleich von Volumenschwankungen nach. Aufgrund seiner Beschaffenheit kann er nach Erfahrungswerten von Orthopädie-Technikern ohne Komfortverlust Unebenheiten bis zu einem Millimeter ausgleichen. Somit können flexible Sensormatten direkt im Schaft integriert werden und so das Druckprofil an kritischen Stellen erfassen (vgl. Abb. 4 und 5). Bei einer Prothesenversorgung ohne Liner und zum Integrieren von Sensoren mit größerem Bauraum könnte ausreichend Platz für die zusätzlichen Teile im Schaft durch die Anfertigung eines Messschafts geschaffen werden, in welchem Aussparungen und Platzhalter vorgesehen sind.
Zur Verdeutlichung der Dynamik der Stumpf-Schaft-Interaktion soll im praktischen Einsatz eine grafische Anzeige auf einem Tablet o. Ä. den Orthopädie-Techniker bei der Anprobe des Prothesenschaftes unterstützen. Es wird die Veränderung der erfassten und modellierten zonalen Belastungen auf den Prothesenschaft über der Messzeit und der Stumpf-Schaft-Schnittstelle angezeigt. Dem Orthopädie-Techniker werden somit die zeitlichen und räumlichen Auswirkungen des aktuellen Schaftentwurfs verdeutlicht.
Mit Hilfe der Erkenntnisse zum Schaftverhalten sollen schlecht, ausreichend und gut angepasste Bereiche des Schaftes als zonale Passformkartierung durch eine Einfärbung des 3‑D-Modells visualisiert werden. An zu optimierenden Zonen sollen dem Orthopädie-Techniker auf Basis der aus dem Expertenwissen und den Nutzererfahrungen gewonnenen Syntheseregeln Vorschläge zur konstruktiven Gestaltung der Passform und zur Materialauswahl des Schafts unterbreitet werden.
Zusammenfassung
Die Schaftanpassung von Oberschenkelprothesenversorgungen ist von diversen Faktoren abhängig. Das vorgestellte Forschungsvorhaben begegnet dieser Diversität durch die Integration verschiedener Ansätze. Die Vermessung der dynamischen Stumpf-Schaft-Interaktion wird durch die Erfassung von Expertenwissen und subjektivem Patientenempfinden sowie modellbasierten Berechnungsmethoden ergänzt. Ziel ist dabei die Nachvollziehbarkeit der individuellen Schaftanpassung und die Nachweisbarkeit einer medizinisch richtigen Schaftpassform.
In diesem Artikel sind bereits erste Ergebnisse bezüglich der messtechnischen Erfassung der Stumpf-Schaft-Schnittstelle diskutiert worden. Es wurden Probandeneinschlusskriterien vorgestellt und problematische Geometrieareale längsovaler Schäfte identifiziert. Metrische Hinweise zur individuellen Schaftgestaltung bezüglich Geometrie und Materialverhalten könnten zukünftig zur Entwicklung eines Messwerkzeugs für die praktische Anwendung genutzt werden. Dieses würde den Orthopädie-Techniker bei seinem Handwerk datengestützt bei Entscheidungen zur Schaftgestaltung unterstützen und bei der Umsetzung von Anpassungsstrategien helfen – zum Wohle der Mobilität des Patienten.
Förderhinweis
Das IGF-Vorhaben 18873 N/2 der Forschungsvereinigung FMS wird über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.
Für die Autoren:
Veronika Noll, M. Sc.
TU Darmstadt
Institut für Mechatronische
Systeme im Maschinenbau
Otto-Berndt-Str. 2
64287 Darmstadt
noll@ims.tu-darmstadt.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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