Einleitung
Nach den neusten Reviews der Literatur muss die Korsettversorgung in der Skoliosebehandlung als evidenzbasierte Maßnahme angesehen werden 1. Allerdings gibt es eine Vielzahl von Korsettversorgungsstrategien und unterschiedliche Ansichten zu einer erfolgreichen Behandlung und den hierzu nötigen Korrektureffekten im Korsett.
Die meisten Korsette werden auch heute noch nach Gipsabdruck hergestellt. CAD-Systeme (Computer Aided Design) gestatten hingegen eine gipsfreie Korsettanpassung.
Eine weitere Entwicklung war das ScoliOlogiC™ Baukasten-System, welches es dem Techniker ermöglichte, ein Chêneau-Korsett in Leichtbauweise unter Verwendung von je vier Einzelteilen (Spangen) herzustellen, die an einem vorderen und einem hinteren Aluminiumstab befestigt und ausgerichtet werden konnten 2. Die Ausrichtung der Spangen ist nicht standardisierbar und hat bei unterschiedlichen Technikern zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Allerdings ließen sich bei einigen erfahrenen Anwendern gute Ergebnisse erzielen (Abb. 1). Die Korrekturergebnisse der ersten 81 mit diesem System versorgten Patienten zeigten, wie aus der ersten Studie zu diesem System hervorgeht, Korrektureffekte von durchschnittlich mehr als 50 % 3.
Auch wenn der Effekt der Korsettversorgung immer wieder in Frage gestellt worden ist 4, besteht genügend Evidenz dafür, dass man mit Skoliosekorsetten die zu erwartende Krümmungszunahme aufhalten 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15, die Operationsrate senken 16 17 18 19 und das äußere Erscheinungsbild der Patienten bessern kann 20 21 22 23 24.
Ziel der Entwicklung des Chêneau light™ brace war es, das Korsett kleiner, leichter und für die Betroffenen angenehmer zu gestalten (Abb. 1). Wie bei anderen Chêneau-Korsetten musste auch für dieses System eine Vielzahl an 3‑Punkte-Drucksystemen in frontaler, horizontaler und sagittaler Ebene mit entsprechenden Freiräumen gegenüber den jeweiligen Druckzonen eingerichtet werden. Korsettbauteile für funktionell 3‑bogige und 4‑bogige Skoliosen in je drei verschiedenen Größen wurden vorgehalten. Bei einbogig lumbalen Krümmungen wurde einfach auf die Axillarspange des 4‑bogigen Modells verzichtet.
Material und Methode
Nachdem die Autoren alle Daten ihrer mit einem Chêneau light behandelten Patienten zwischen Juni 2005 und November 2007 gesammelt hatten, konnten aus der Gesamtzahl der Patienten diejenigen herausgefiltert werden, welche die SRS-Einschlusskriterien erfüllten:
- Diagnose einer Idiopathischen Adoleszentenskoliose,
- nur Mädchen (vor Auftreten der Regelblutung bis weniger als 1 Jahr danach),
- Krümmungswinkel zwischen 25 und 40° Cobb,
- Risser 0 – 2,
- Alter 10 Jahre oder älter,
- keine Vorbehandlung.
34 (von 152) Patienten erfüllten die SRS-Einschlusskriterien. Das Alter betrug 12,06 Jahre (10 bis 13 Jahre), der Cobb-Winkel betrug 31° (25 bis 40°) bei einem Risser-Stadium von durchschnittlich 0,35. Der durchschnittliche Cobb-Winkel im Korsett betrug 13° (Korrektureffekt 59 %). Die Krümmungsmusterverteilung war wie folgt: 17 Thorakalskoliosen, 10 Double-Major-Skoliosen, 6 Lumbalskoliosen und 2 Thorakolumbalskoliosen.
Nach dem Stellenwechsel des Erstautors konnten die Patienten nicht wie geplant nachkontrolliert werden. Daher hat der Zweitautor ein einfach strukturiertes Telefoninterview mit denjenigen Patienten durchgeführt, die sich nicht wieder in der neuen Praxis des Erstautors vorgestellt hatten.
An die Patienten und/oder deren Eltern wurden die folgenden vier Fragen gestellt:
- Hat sich zwischenzeitlich eine Verschlechterung der Krümmung eingestellt?
- Erfolgte zwischenzeitlich eine Skolioseoperation?
- Sind die Betroffenen mit dem Endresultat zufrieden?
- Gibt es weitere Kommentare?
Für die Fragen 1 bis 3 war nur die Antwort „Ja“ oder „Nein“ zugelassen.
Ergebnisse
Insgesamt 28 von 34 Mädchen konnten erreicht werden (Alter 16,5 Jahre). Neun dieser Patientinnen befanden sich noch in der Abschulungsphase. Sie hatten somit kein signifikantes Restwachstum. Keine Patientin war operiert und nur eine war nicht zufrieden mit dem kosmetischen Resultat. Innerhalb der Studie betrug die größte festgestellte Krümmung bei einer Patientin zu Beginn der Behandlung 40°. Bei der betreffenden Patientin stellte sich wegen mangelnden Tragens des Korsetts eine Krümmungszunahme auf 50° ein. Dennoch war diese Patientin mit dem klinischen Ergebnis zufrieden und nicht zu einer Operation bereit. Eine andere Patientin, deren Krümmung zu Beginn bei 38° lag, hatte die Behandlung bereits abgeschlossen und beendete die Behandlung 18 Monate nach Korsettabschulung mit 16° (Abb. 2).
Da 6 Patienten nicht erreicht werden konnten (18 %), könnte man in einem „Worst Case Szenario“ von einer Operationsinzidenz von maximal 18 % ausgehen, da alle, die nicht erreicht werden konnten, als operiert gelten.
Diskussion
Die Operationsrate war deutlich geringer im Vergleich zu anderen Studien mit denselben Einschlusskriterien. Dies gilt auch für den Fall, dass man die nicht erreichten Patienten als operierte klassifiziert (Worst Case). Beispielsweise lag die Operationsrate in einem mit einem Chêneau-Korsett versorgten Kollektiv aus Münster bei 44 %. Die Erfolgsrate betrug hier 56 %. Im Vergleich zur Operationsrate in der vorliegenden Patientengruppen-Analyse, die im schlimmsten anzunehmenden Fall 18 % betrug, erscheint die Anzahl der Operationen in der Gruppe aus Münster sehr hoch. Man kann daher die Versorgung mit dem aktuellen Korsettstandard als hoch effektiv erachten.
Die Operationsrate ist von namhaften Wissenschaftlern schon seit 2001 als Ergebnisparameter verwendet worden 25 26. In einer neueren Untersuchung ist die Operationsrate als wertvoller Messparameter für den Behandlungserfolg mit Korsetten angesehen worden. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass die Operationsindikation kein „harter“ Outcome-Parameter ist. Die Entscheidung zu einer Operation ist individuell und in erster Linie abhängig von der Zufriedenheit der Betroffenen mit ihrem klinischen Resultat.
Da allerdings der Outcome-Parameter „Operationsinzidenz“ in der internationalen Literatur seit 2001 verankert ist 27 28, haben wir ihn auch für diese vergleichende Studie verwendet.
CAD/CAM-Korsett für individuellere Versorgung
Auch wenn die Autoren mit dem hier untersuchten Chêneau-light-Korsett recht gute Ergebnisse erzielt haben, verwenden sie dieses Produkt heute nicht mehr häufig.
Aufbauend auf den mit diesem Modulsystem gemachten Erfahrungen wurde ein Computer Aided Design/Computer Aided Manufacturing (CAD/CAM) entwickelt, welches in standardisierter Weise – aber dochhöchst individuell und Muster genau – gefertigt werden kann.
War die Anpassung mit den Einzelteilen des Chêneau-light-Baukastens noch recht variabel, so kann das betreuende Team heute auf eine CAD-Korsettbibliothek zurückgreifen, die komfortabel und schmerzfrei ist und zudem noch einen Behandlungserfolg höchst wahrscheinlich macht (Abb. 3 u. 4).
Die modernen CAD-Versorgungen erlauben es, die Behandlungssicherheit zu erhöhen und auch individuell die Korsette mit unterschiedlich starken Korrekturen je nach Notwendigkeit auszustatten.
Die aktuelle Weiterentwicklung der Korrekturprinzipien des Chêneau light, das CAD/CAM Gensingen-Chêneau-Brace, kann überall in der jeweils aktuellen Version verfügbar gemacht werden. Hierdurch wird die Behandlungssicherheit maßgeblich erhöht. Beschwerden in der Orthese sind höchst selten.
Neue Studien bestätigen Behandlungserfolge
Die Ergebnisse dieser Studie beziehen sich auf das Chêneau-light-Korsett. Allerdings können sie ohne Weiteres auf die von uns verwendete CAD/CAM-Bibliothek übertragen werden, da man mit standardisierten Korsettmodellen „aus einem Guss“ viele Variablen ausschließen kann, die bei den Anwendern der Chêneau-light-Versorgung zu unterschiedlichen Korrekturen geführt haben.
In einer ganz aktuellen, noch nicht veröffentlichten Untersuchung kommt man mit dem neuen CAD/CAM-System zu noch besseren Korrekturergebnissen als in dieser Untersuchung beschrieben 29. Eine prospektive Longitudinalstudie zu diesem neuen System ist ebenfalls schon in Arbeit.
Ganz aktuell ist das Ergebnis einer Randomisierten Kontrollierten Untersuchung (RCT) aus den USA mit Korsetten des dortigen – recht variablen – Standards unter teilweiser Verwendung der SRS-Kriterien 30. Die Autoren kommen klar zu dem Schluss, dass die Korsettversorgung bei der Behandlung der Idiopathischen Skoliose so wirksam ist, dass die Studie vorzeitig abgebrochen wurde, um die Patienten der Kontrollgruppe schnellstmöglich einer Korsettbehandlung zuzuführen.
Die Erfolgsrate lag bei 72 %, also deutlich unterhalb der Ergebnisse, die die Autoren in ihrer Untersuchung
aufzeigen konnten. Zudem waren auch reifere Patienten in die amerikanische Studie mit eingeschlossen, die damit im Schnitt eine weit günstigere Prognose hatten als die Patientengruppe der Autoren.
In der oben ausführlich beschriebenen deutschen Untersuchung gab es eine Erfolgsquote von mehr als 95 %. Selbst bei Annahme des „Worst Case“-Szenarios lag die Erfolgsrate bei 82 % – also in jedem Fall höher als bei der Studie aus den USA.
Fazit
Die Operationsrate kann mit Chêneau-Korsetten aktuellen Standards und gutem Korrektureffekt deutlich reduziert werden. Die Chêneau-Korsettversorgung kann als effektiv gelten und ist damit im Wachstumsalter indiziert. Klinische Verbesserungen sind nach den Erfahrungen der Autoren für die Betroffenen allerdings wichtiger als die erzielten Röntgenergebnisse.
Für die Autoren:
Dr. med. Hans-Rudolf Weiß
Orthopädie, Physikalische und
Rehabilitative Medizin, Chirotherapie, Physikalische Therapie
Gesundheitsforum Nahetal
Alzeyer Straße 23
55457 Gensingen
hr.weiss@skoliose-dr-weiss.com
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Alle Abbildungen aus: Weiss H‑R. I Have Scoliosis – A Guidebook for Patients, Family Members, and Therapists; 9th revised edition. Lambert Publishing, im Druck.
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