Neue Ver­sor­gungs­mög­lich­keit bei Läsi­on des Ple­xus bra­chia­lis durch ein myo­elek­trisch gesteu­er­tes Exo­ske­lett: neo1

S. Schulz, S. Rosewich
Der vorliegende Artikel stellt anhand von drei Fallstudien eine neue orthopädietechnische Versorgungsmöglichkeit zur Behandlung unfallbedingter Läsionen des Plexus brachialis vor.

 

Bei den Betrof­fe­nen sind die Ner­ven der obe­ren Extre­mi­tät wir­bel­säu­len­nah irrepa­ra­bel geschä­digt, was zu deren schlaf­fer Läh­mung, oft ein­her­ge­hend mit aus­ge­präg­ten Phan­tom­schmer­zen, führt. Mit Hil­fe der sen­sor­ge­steu­er­ten Orthe­se neo1 (neu­ro­re­ha­bi­li­ta­ti­on exo­ske­le­tal ortho­sis) kön­nen der Ell­bo­gen des Anwen­ders wie­der posi­tio­niert und eine Greif- und Hal­te­funk­ti­on der Hand fremd­kraft­be­trie­ben aus­ge­führt wer­den, ohne dass die nicht betrof­fe­ne Extre­mi­tät in die Bewe­gung ein­be­zo­gen wer­den muss. Posi­ti­ve Effek­te auf die Bio­me­cha­nik des gesam­ten Kör­pers und damit ein­her­ge­hend eine Ent­las­tung aller bis­her ein­sei­tig belas­te­ten Struk­tu­ren, eben­so wie ein Zuge­winn an Funk­tio­na­li­tät und eine Redu­zie­rung der Phan­tom­schmer­zen sind zu erwarten.

Ein­lei­tung

Exis­tie­ren­de Versorgungsansätze

Eta­blier­te Ver­sor­gungs­an­sät­ze, die die erheb­li­chen Ein­schrän­kun­gen von Ple­xus-bra­chia­lis-Läsio­nen im All­tag aus­glei­chen kön­nen, ste­hen aktu­ell nicht zur Ver­fü­gung. In spe­zia­li­sier­ten mikro­chir­ur­gi­schen Zen­tren kom­men ver­schie­de­ne ope­ra­ti­ve Metho­den zum Ein­satz, die jedoch nur sehr begrenzt zu funk­ti­ons­ver­bes­sern­den Ergeb­nis­sen füh­ren. Die Ope­ra­ti­ons­ver­fah­ren kön­nen zwar zu einer gewis­sen Beweg­lich­keits­ver­bes­se­rung bei­tra­gen, es ver­bleibt jedoch meist eine weit­ge­hen­de Funk­ti­ons­ein­schrän­kung der obe­ren Extre­mi­tät. Betrof­fe­ne lei­den häu­fig unter neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zen, was die all­ge­mei­ne Lebens­qua­li­tät zusätz­lich dras­tisch ver­schlech­tert. Oft­mals müs­sen hoch­do­sier­te Opi­ate ver­ab­reicht wer­den, die zu Neben­wir­kun­gen sowie einer Tole­ranz­ent­wick­lung führen.

Die ver­brei­tets­ten Hilfs­mit­tel sind pas­si­ve Orthe­sen und Ban­da­gen, die den Arm in eine sta­ti­sche Posi­ti­on brin­gen, um z. B. Fehl­stel­lun­gen der Gelen­ke aus­zu­glei­chen oder dyna­mi­sche Sys­te­me, die Kon­trak­tu­ren der Gelen­ke ent­ge­gen­wir­ken und mit­un­ter eine sport­li­che Akti­vi­tät ermöglichen.

Einen neu­en Ver­sor­gungs­an­satz bie­ten mobi­le, akti­ve Orthe­sen. Ers­te Model­le sind bereits am Markt ein­ge­führt. So ste­hen Gerä­te zur Ver­fü­gung, die myo­elek­trisch eine Ell­bo­gen­be­we­gung und die Bewe­gung von Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger zum Grei­fen mit der Hand ermög­li­chen, wobei die Unter­arm­ro­ta­ti­on und die Beu­gung des Hand­ge­lenks manu­ell posi­tio­niert wer­den1. Ande­re Gerä­te ermög­li­chen die Bewe­gung ein­zel­ner Fin­ger und des Dau­mens der Hand, wobei der Ell­bo­gen pas­siv posi­tio­niert wer­den kann2. Die Nut­zung der Gerä­te hat ins­be­son­de­re eine mobi­li­sie­ren­de und damit the­ra­peu­ti­sche Wir­kung. Die aktu­el­len Ein­schrän­kun­gen lie­gen im hohen Gewicht, das auf der zur Luxa­ti­on nei­gen­den Schul­ter las­tet, bei einer in der Regel stark atro­phier­ten Mus­ku­la­tur im Schul­ter- und Arm­be­reich. Das hohe Poten­ti­al die­ser Art von Unter­stüt­zungs­sys­te­men ist jedoch deut­lich erkenn­bar, eben­so wie eine hohe Akzep­tanz bei den Betrof­fe­nen, die­se Sys­te­me aktiv einzusetzen.

Funk­ti­ons­be­schrei­bung neo1

Das in die­sem Arti­kel vor­ge­stell­te myo­elek­trisch gesteu­er­te Exo­ske­lett neo1 soll dem Betrof­fe­nen gestat­ten, sei­nen gelähm­ten Arm aktiv zu bewe­gen, um ein­fa­che Greif- und Hal­te­funk­tio­nen aus­üben zu kön­nen. Durch einen regel­mä­ßi­gen Gebrauch wer­den neben der akti­ven Bewe­gungs­un­ter­stüt­zung Sti­mu­la­tio­nen neu­ro­plas­ti­scher Pro­zes­se erwar­tet, ins­be­son­de­re im Bereich der soma­to­sen­so­ri­schen Groß­hirn­rin­de, die zu einer deut­li­chen Reduk­ti­on von neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zen bei­tra­gen. Aus the­ra­peu­ti­schen Gesichts­punk­ten kann die myo­elek­trisch gesteu­er­te und aktiv ange­trie­be­ne Orthe­se die mobi­li­sie­ren­de Bewe­gungs­the­ra­pie ergän­zen und damit die Beweg­lich­keit der Gelen­ke posi­tiv unter­stüt­zen. Durch die Wie­der­ein­bin­dung des Arms in das kör­per­ei­ge­ne Bewe­gungs­sche­ma wird sowohl die Selbst­stän­dig­keit als auch die Lebens­qua­li­tät Betrof­fe­ner erheb­lich verbessert.

Vor­ar­bei­ten

For­schungs­pro­jekt OrthoJacket

Beein­flusst wur­de neo1 durch Arbei­ten am Karls­ru­he Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT) zum BMBF-Ver­bund­pro­jekt „Ortho­Ja­cket (ortho­sis jacket) – eine intel­li­gen­te Hybrid-Orthe­se für die gelähm­te obe­re Extre­mi­tät auf Basis der Funk­tio­nel­len Elek­tro­sti­mu­la­ti­on und inno­va­ti­ver Flui­dak­to­ren als The­ra­pie- und Unter­stüt­zungs­sys­tem“ (Abb. 1), das zwi­schen April 2008 und März 2012 durch­ge­führt wur­de3 4 5. Das Pro­jekt ziel­te auf die Ent­wick­lung einer modu­la­ren, akti­ven Orthe­se für die obe­re Extre­mi­tät ins­be­son­de­re bei tetra­ple­gi­schen Rücken­marks­ver­let­zun­gen ab, mit dem Ziel, einen funk­ti­ons­lo­sen Arm wie­der weit­ge­hend zu mobilisieren.

For­schungs­pro­jekt Invisible-Grip-Assist

Ein direk­ter Vor­läu­fer von neo1 war das BMBF-Ver­bund­pro­jekt „Invi­si­ble-Grip-Assist – das all­tags­taug­li­che Assis­tenz­sys­tem zur akti­ven Unter­stüt­zung von Pati­en­ten mit ein­ge­schränk­ter Hand­be­we­gI­ich­keit“ (Abb. 2), das im Zeit­raum April 2012 bis März 2015 geför­dert wur­de6. Als Ergeb­nis wur­de eine myo­elek­trisch gesteu­er­te Orthe­se für die Hand ent­wi­ckelt, die Dau­men und Lang­fin­ger mit­tels Elek­tro­mo­to­ren bei einer Greif­be­we­gung unter­stützt oder die­se bei einer funk­ti­ons­lo­sen Hand auch voll­stän­dig ersetzt.

For­schungs­pro­jekt neo

Die Ent­wick­lung einer myo­elek­tri­schen, akti­ven Orthe­se der obe­ren Extre­mi­tät wird wis­sen­schaft­lich beglei­tet durch das BMBF-Ver­bund­pro­jekt: „neo (neu­ro­re­ha­bi­li­ta­ti­on exo­ske­le­tal ortho­sis) – sen­sor­ge­steu­er­te akti­ve Orthe­se für die obe­re Extre­mi­tät“ (Abb. 3); das Pro­jekt star­te­te im April 2021. Vin­cent Sys­tems ent­wi­ckelt im Pro­jekt die tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen, der kli­ni­sche Part­ner, die BG Unfall­kli­nik Lud­wigs­ha­fen, führt der­zeit eine 12-mona­ti­ge kli­ni­sche Stu­die mit bis zu 20 Pati­en­ten durch mit der Ziel­set­zung: „Kli­ni­sche Eva­lua­ti­on der sen­sor­ge­steu­er­ten akti­ven Orthe­se für die obe­re Extre­mi­tät bei Ple­xus bra­chia­lis Ver­let­zun­gen bezüg­lich Funk­tio­na­li­tät, Lebens­qua­li­tät und Schmer­zen und kor­ti­ka­ler Reprä­sen­ta­ti­on.“ Der Pro­jekt­part­ner, die Cha­ri­té-Uni­ver­si­täts­kli­nik Ber­lin, ver­folgt im Rah­men der For­schungs­ar­bei­ten die Ziel­stel­lung: „Kli­ni­sche Vali­die­rung einer Hybri­den Kor­ti­ko­id-mus­ku­lär (durch Gehirn­area­le sti­mu­lier­te Mus­ku­la­tur) gesteu­er­ten Orthe­se zur Wie­der­her­stel­lung sen­so­mo­to­ri­scher Funk­ti­on.“ Der Schwer­punkt der Arbei­ten liegt u. a. auf der Umset­zung alter­na­ti­ver Steue­rungs­stra­te­gien mit­tels Bio­si­gna­len aus EOG und EEG. Zusam­men mit dem Pro­jekt­part­ner Ortho­pä­die­tech­nik Brun­ner GmbH in Lud­wigs­ha­fen (Chris­toph Hösch, Ortho­pä­die­tech­ni­ker­meis­ter) wer­den die Orthe­sen indi­vi­du­ell ange­fer­tigt und die Anwen­der wäh­rend der sta­tio­nä­ren Rehabilitation/Orthesengebrauchsschulung begleitet.

Auf­bau und Funk­ti­ons­be­schrei­bung neo1

Das myo­elek­trisch gesteu­er­te Exo­ske­lett neo1 hat inkl. Akku ein Gewicht von ca. 1200 g.  Die maxi­ma­le Auf­bau­hö­he beträgt 30 mm, die Hebe­kraft des Ell­bo­gens, gemes­sen an der Hand, beträgt 15 N, die Greif­kraft in der Hand beträgt 50 N. Das Sys­tem kann selbst­stän­dig vom Nut­zer ange­legt und auf­grund der sehr schlan­ken Gestal­tung auch unter der Beklei­dung getra­gen wer­den. Die im Fol­gen­den beschrie­be­ne ers­te Aus­füh­rungs­va­ri­an­te ist seit Ende 2022 im kli­ni­schen Ein­satz. Das akti­ve Orthe­sen­sys­tem ist modu­lar auf­ge­baut, d. h., ein­zel­ne Kom­po­nen­ten kön­nen sepa­rat ein­ge­setzt oder aus der Ver­sor­gung her­aus­ge­nom­men wer­den. Das Kom­plett­sys­tem besteht aus zwei Ober­arm- und zwei Unter­arm­seg­men­ten sowie einer Füh­rung für den Dau­men und die Lang­fin­ger. Die Seg­men­te und Füh­run­gen sind teils über pas­si­ve und teils über akti­ve Gelen­ke mit­ein­an­der ver­bun­den (Abb. 4).

Begin­nend mit dem pro­xi­ma­len Ober­arm­seg­ment besteht die­ses aus einer medio-dor­sa­len Hume­rus­an­la­ge sowie einer tho­ra­ka­len Span­ge. Ein Gurt­sys­tem repo­niert die sub­lu­xier­te Schul­ter und sorgt für eine gute Schul­ter­kon­trol­le und Sta­bi­li­tät. Fer­ner kann so kom­plett auf eine Ban­da­gen­füh­rung kon­tra­la­te­ral ver­zich­tet wer­den, was nicht nur das Orthe­sen-Hand­ling signi­fi­kant ver­ein­facht. Auch kann hier­durch die Orthe­se unauf­fäl­lig unter der Beklei­dung getra­gen wer­den. Dor­sal­sei­tig des Ober­arm­seg­ments befin­det sich der Ein­le­ge­rah­men des Wech­sel­ak­kus. Das dista­le Ober­arm­seg­ment ist um die Ober­ar­mach­se rota­to­risch über ein Bogen­la­ger mit dem pro­xi­ma­len Ober­arm­seg­ment schwenk­bar ver­bun­den. Die­ses ermög­licht eine Hume­ral­ro­ta­ti­on aus der Innen- in die Außenrotation.

Die Antriebs­ein­heit des Ell­bo­gens und die dor­sal posi­tio­nier­te Steue­rungs­elek­tro­nik sind fest mit dem dis-talen Ober­arm­seg­ment ver­bun­den. Das akti­ve Ell­bo­gen­ge­lenk ver­bin­det das dista­le Ober­arm- mit dem pro­xi­ma­len Unter­arm­seg­ment. Auch der Unter­arm ist in zwei Seg­men­te ein­ge­teilt. Bei­de Unter­arm­seg­men­te sind um die Unter­ar­mach­se rota­to­risch über ein Bogen­gleit­la­ger mit­ein­an­der schwenk­bar ver­knüpft. Das pas­si­ve Hand­ge­lenk gestat­tet eine stu­fen­lo­se Posi­tio­nie­rung der Hand bei ein­stell­ba­rer Frik­ti­on. Das Mit­tel­hand­seg­ment ist uln­ar­se­i­tig mit dem pas­si­ven Hand­ge­lenk ver­bun­den, zusam­men mit der Dau­men­füh­rung fixiert es Hand und Dau­men in einer für das Grei­fen opti­ma­len Stel­lung. Dor­sal­sei­tig des Mit­tel­hand­seg­ments ist der abnehm­ba­re Gri­pAs­sist, bestehend aus Fin­ger­füh­rung und Antriebs­ein­heit, posi­tio­niert, wel­cher die Lang­fin­ger myo­elek­trisch zum oppo­nier­ten Dau­men bewegt.

Steue­rungs­op­tio­nen: myo­elek­trisch mit 1–5 Sensoren

Die Funk­tio­nen der Orthe­se kön­nen mit ein bis fünf EMG-Sen­so­ren gesteu­ert wer­den. Idea­ler­wei­se kom­men die­se auf dem Mus­cu­lus biceps bra­chii zur Ell­bo­gen­fle­xi­on, dem Mus­cu­lus tri­ceps bra­chii zur Ell­bo­gen­ex­ten­si­on sowie auf den Flex­o­ren des Unter­arms zum Schlie­ßen und den Exten­so­ren des Unter­arms zum Öff­nen des Gri­pAs­sist zum Lie­gen (Abb. 5). In die­ser Kon­stel­la­ti­on las­sen sich alle Funk­tio­nen sepa­rat ansteu­ern. Bei den ers­ten Ver­sor­gun­gen wur­de schnell deut­lich, dass dies bei einem Ple­xus­aus­riss eher sel­ten anzu­tref­fen ist, denn häu­fig sind nur weni­ge Signa­le vor­han­den, die sich zudem über­la­gern. Die Steue­rung des gesam­ten Sys­tems ist daher auch über nur ein Mus­kel­si­gnal mög­lich. In die­sem Fal­le wird über ein ver­ein­bar­tes Trig­ger­si­gnal zwi­schen den Gelen­ken geschal­tet. Ste­hen kei­ner­lei geeig­ne­te Mus­kel­si­gna­le zur Ver­fü­gung, kann das Sys­tem auch über eine Bewe­gungs­steue­rung mit einer Smart­watch gesteu­ert wer­den. Aktu­ell sind 10 ver­schie­de­ne Steue­rungs­mo­di vorhanden.

Mode 1: 1‑Elek­tro­den-Steue­rung. Ell­bo­gen und Hand wer­den mit einer Elek­tro­de gesteu­ert, das Umschal­ten zwi­schen den Gelen­ken erfolgt mit einem Trigger.

Mode 2 bis 4: 2‑Elek­tro­den-Steue­rung. Ell­bo­gen und Hand wer­den mit zwei Elek­tro­den in einer Ebe­ne (Ober­arm oder Unter­arm) sequen­zi­ell oder bei­den Ebe­nen (Ober­arm und Unter­arm) simul­tan gesteu­ert, das Umschal­ten zwi­schen den Gelen­ken erfolgt mit einem Trig­ger (Abb. 6).

Mode 5 bis 8: 3‑Elek­tro­den-Steue­rung. Der Ell­bo­gen wird mit einer Elek­tro­de und die Hand wird mit zwei Elek­tro­den simul­tan gesteu­ert. Die Kom­bi­na­ti­on kann belie­big gewählt werden.

Mode 9: 4–5‑Elektroden-Steuerung. Ell­bo­gen und Hand wer­den mit jeweils zwei Elek­tro­den gesteu­ert, die bei­den akti­ven Gelen­ke kön­nen simul­tan ange­steu­ert wer­den. Bei Vor­han­den­sein eines wei­te­ren Signals B. im Schul­ter­be­reich, kann die­ses als Trig­ger ein­ge­setzt wer­den (Abb. 7).

Mode 10: Con­trol­ler-Agent-Steue­rung. Bei Nicht­vor­han­den­sein von geeig­ne­ten Mus­kel­si­gna­len kann die Steue­rung über eine am unver­letz­ten Arm getra­ge­ne Smart­watch erfol­gen. Es han­delt sich dabei um eine Bewe­gungs­steue­rung. Dabei kann durch eine Ges­te die Steue­rung ein- und aus­ge­schal­tet wer­den. Nach der Akti­vie­rung folgt die Orthe­se in ihren Bewe­gun­gen den Bewe­gun­gen des Hand­ge­lenks, an dem die Uhr getra­gen wird (Abb. 8).

Ver­sor­gungs­bei­spie­le

Anpas­sung der Orthe­sen­seg­men­te an den Patienten

Für eine funk­ti­ons­ge­rech­te Pass­form wer­den alle Orthe­sen­seg­men­te indi­vi­du­ell ange­fer­tigt. Die Ober­arm­seg­men­te wer­den in einem Spi­ral­zu­schnitt geformt, der den Ein­stieg in die Orthe­se nur bei innen­ro­tier­ter Schul­ter ermög­licht. Am pro­xi­ma­len Ober­arm­seg­ment muss hier auf die exak­te Stel­lung der Flü­gel geach­tet wer­den: Der vor­de­re Flü­gel darf bei kei­ner Schul­ter­be­we­gung Kon­takt zur Cla­vicu­la auf­wei­sen. Der hin­te­re Flü­gel fasst sicher die Sca­pu­la. Ver­bun­den sind die­se mit einer media­len flä­chi­gen Anla­ge des Hume­rus bei ana­to­misch geform­ten Radi­en des Ach­sel­be­reichs. Hier­durch wird eine late­ra­le Bewe­gung der Orthe­se ver­hin­dert. In die­sem Seg­ment kön­nen Signa­le vom M. biceps bra­chii, M. tri­ceps bra­chii, der Pars cla­vicu­la­ris oder der Pars spi­na­lis des M. del­to­ide­us abge­nom­men werden.

Im pro­xi­ma­len Unter­arm­seg­ment kön­nen Signa­le des Exten­sors und des Flex­ors abge­grif­fen wer­den. Ein beson­de­res Augen­merk ist auf die Dreh­punk­te zu legen. Eben­so auf die Oppo­si­ti­on der Langfinger/Daumen und auf eine aus­rei­chen­de Öff­nungs­wei­te. Letz­te­res stellt sich bei Kon­trak­tu­ren mit­un­ter schwie­rig dar und bedarf einer geson­der­ten Lösung.

Form­er­fas­sung

Alle Form­er­fas­sun­gen erfol­gen mit­tels eines Gips­ab­drucks in einer 3‑Pha­sen-Tech­nik. Zunächst erfolgt der Abdruck von Mittelhand/Unterarm in Funk­ti­ons­stel­lung, wobei hier auf eine Oppo­si­ti­on des Dau­mens bei maxi­ma­ler Öff­nungs­wei­te D1 zu D2 geach­tet wer­den muss. Es fol­gen Unter­arm und Ober­arm bei exten­dier­tem Ell­bo­gen, innen­ro­tier­ter Schul­ter und Neu­tral-Null-Stel­lung Pronation/Supination. Abschlie­ßend erfolgt die Schul­ter­fas­sung mit­tels flü­gel­ar­ti­ger Auf­la­gen an Brust und Schul­ter bei repo­nier­tem Schultergelenk.

Anfer­ti­gung

Alle Orthe­sen sind in der CFK-Tech­nik angefertigt.

Fall­be­schrei­bun­gen

Pati­ent 1 – 2‑Elek­tro­den-Steue­rung

Der ers­te Anwen­der ist 34 Jah­re alt. 2014 erlitt er bei einem Motor­rad­un­fall einen trau­ma­ti­schen Ple­xus­aus­riss links C5-Th1. 2015 erfolg­ten zwei Ner­ven­trans­plan­ta­tio­nen mit Nervus-suralis-Interponaten.

Er lebt allein und orga­ni­siert sei­nen pri­va­ten und beruf­li­chen All­tag als Fach­in­for­ma­ti­ker selbst­stän­dig. Als Para-Sport­klet­te­rer bewäl­tigt er ein­ar­mig höchs­te Schwie­rig­keits­gra­de. Bereits vor der Ver­sor­gung hat­te der Anwen­der kei­ne Phan­tom­schmer­zen mehr und beschrieb sei­ne Sen­si­bi­li­tät ledig­lich als drü­ckend krib­belnd. Er nimmt kei­ne Schmerz­mit­tel. Neben sei­nem Sport geht er zwei­mal wöchent­lich zur Phy­sio­the­ra­pie und zwei­mal zur medi­zi­ni­schen Trai­nings­the­ra­pie. Es zeigt sich eine deut­lich redu­zier­te Sen­si­bi­li­tät. Die lin­ke Schul­ter ist sub­lu­xiert. Der Anwen­der ist Rechts­hän­der. Es zeigt sich eine Außen­ro­ta­ti­ons­kon­trak­tur im Schul­ter­ge­lenk, eine redu­zier­te Fle­xi­on der Fin­ger in den MCP-Gelen­ken sowie eine redu­zier­te Dau­men­be­weg­lich­keit. Es besteht eine Rest­kraft im Ell­bo­gen, wenn die­ser zuvor pas­siv in 90° posi­tio­niert wur­de (Jan­da 3), im Hand­ge­lenk in Fle­xi­on (Jan­da 3), in den Fin­gern D4 und D5 in Fle­xi­on (Jan­da 3).

Die Ansteue­rung der neo1-Orthe­se erfolgt über 2 EMG-Sen­so­ren, der Ell­bo­gen mit einer Elek­tro­de (M. biceps bra­chii), die Hand mit einer Elek­tro­de (M. exten­sor car­pi ulnaris). Somit kann der Anwen­der bei­de Gelen­ke simul­tan ansteu­ern und erst­mals wie­der den Arm aktiv beu­gen und Gegen­stän­de grei­fen (Abb. 9). Er trägt die Orthe­se seit Febru­ar 2023 und nutzt die­se täg­lich für ca. 2 Stun­den im häus­li­chen Umfeld, ins­be­son­de­re bei bima­nu­el­len Tätig­kei­ten begin­nend beim Früh­stück mit dem Hal­ten der But­ter, des Mar­me­la­den­gla­ses, beim Brot­schnei­den und ‑schmie­ren, aber auch bei der Haus­ar­beit, wie z. B. beim Zusam­men­le­gen der Wäsche. Eine Her­aus­for­de­rung bei die­ser Ver­sor­gung war das Besei­ti­gen von Druck­stel­len auf Grund der feh­len­den Sen­so­rik und Rückmeldung.

„Die Orthe­se ist eine ech­te Erleich­te­rung, wenn Gegen­stän­de mit zwei Hän­den gegrif­fen und bear­bei­tet wer­den“, so der Anwender.

Pati­ent 2 – Con­trol­ler Agent, Smartwatch

Der zwei­te Anwen­der ist 35 Jah­re alt. 2011 erlitt die­ser eben­falls bei einem Motor­rad­un­fall einen trau­ma­ti­schen Ple­xus­aus­riss rechts C5-Th1. 2012 erfolg­te ein Ner­ven­trans­fer C5 und C6 mit Sura­lis-Inter­po­nat. Jedoch kam es nie zu einer Rein­ner­va­ti­on. Der­zeit lebt er allein, bewäl­tigt sei­nen All­tag selbst­stän­dig und ist als Elek­tro­kon­struk­teur voll berufs­tä­tig. In sei­ner Frei­zeit beschäf­tigt er sich mit der Reno­vie­rung sei­nes Hau­ses sowie der Gar­ten­ge­stal­tung. Bei einer Schmerz­ska­lie­rung von 5 (VAS) nimmt er täg­lich Schmerz­me­di­ka­men­te, the­ra­piert zusätz­lich mit Aku­pres­sur. Den Phan­tom­schmerz beschreibt er als ste­chend und krib­belnd, er hat das Gefühl einer Quet­schung und Juck­reiz. Er geht zwei­mal wöchent­lich zur Phy­sio­the­ra­pie. Erhal­te­ne Sen­si­bi­li­tät ver­spürt er ledig­lich am distal-media­len Ober­arm. Der Anwen­der ist Rechts­hän­der, der Arm hat kei­ner­lei Rest­funk­ti­on. Das Schul­ter­ge­lenk ist sub­lu­xiert. Es zeigt sich eine limi­tier­te Ell­bo­gen­beu­gung, eine limi­tier­te Pro-/Su­pi­na­ti­on sowie eine ein­ge­schränk­te Handgelenks‑, Fin­ger- und Dau­men­be­weg­lich­keit. Die Orthe­se trägt der Anwen­der seit 2 Mona­ten. Die Ansteue­rung der neo1-Orthe­se erfolgt erst­mals über Con­trol­ler Agent, eine Smart­watch-Ges­ten­steue­rung. Durch eine Ges­te wird die Steue­rung akti­viert. Beugt der Anwen­der nun den gesun­den Arm, beugt sich auch das Ell­bo­gen­ge­lenk der Orthe­se; streckt er den gesun­den Arm, streckt sich auch das Gelenk. Supi­niert er den gesun­den Arm, öff­net sich der Grip-Assist, pro­niert er die­sen, schließt sich der Gri­pAs­sist. Auch kön­nen bei­de Gelen­ke simul­tan gesteu­ert wer­den (Abb. 10).

Ein eigen­stän­di­ges Orthe­sen-Hand­ling war bereits, wie übri­gens bei allen Anwen­dern, inner­halb der ers­ten Anpro­ben mög­lich. Von der Orthe­se und der Tech­no­lo­gie ist der Anwen­der begeis­tert. Die Ansteue­rung beherrscht er ein­wand­frei. Die limi­tier­te Ell­bo­gen­beu­gung wur­de durch einen Gelenk­an­schlag über­nom­men. Eben­so wäre dies, wenn nötig, auch in Exten­si­on mög­lich. Bei der Über­ga­be von Gegen­stän­den von der lin­ken in die rech­te Hand tut er sich schwer. Durch die Ablen­kung der lin­ken Hand, der jah­re­lan­gen kom­pen­sa­to­ri­schen Mecha­nis­men und durch die feh­len­de Sen­so­rik nutzt er die Orthe­se der­zeit nur stun­den­wei­se zur Therapie.

Pati­ent 3 – 1‑Elek­tro­den-Steue­rung

Der drit­te Anwen­der ist 53 Jah­re alt. 1987 erlitt er bei einem Moped­un­fall einen Ple­xus­aus­riss links. Im Janu­ar 1988 erfolg­te ein Revi­ta­li­sie­rungs­ver­such des N. mus­cu­lo-cuta­neus und des N. media­nus durch Anas­to­mo­sie­rung mit den Nn. inter­cos­ta­les 3, 4 und 5 mit­tels Sura­lis-Inter­po­nat. Sei­nen Haus­halt führt er selbst­stän­dig. Er ist als Inge­nieur voll erwerbs­tä­tig, bei pri­mär sit­zen­der Tätig­keit. In sei­ner Frei­zeit fährt er Lie­ge­fahr­rad und Ski.

Auf Grund von pha­sen­wei­sem Auf­tre­ten von Phan­tom­schmer­zen sei­ner Phan­tom­hand nimmt er bei Bedarf Schmerz­me­di­ka­men­te. Zudem geht er zwei­mal wöchent­lich zur Phy­sio­the­ra­pie. An Sen­si­bi­li­tät ver­spürt er ledig­lich Berüh­run­gen des dor­sal­sei­ti­gen Ober­arms. Die lin­ke Schul­ter ist sub­lu­xiert. Der Anwen­der ist Rechts­hän­der, hat kei­ner­lei Rest­kraft im Arm. Es lie­gen eine Kon­trak­tur der Außen­ro­ta­to­ren im Schul­ter­ge­lenk, eine limi­tier­te Supi­na­ti­on sowie Fin­ger­ex­ten­si­on vor.

Die Ansteue­rung der neo1-Orthe­se erfolgt über einen EMG-Sen­sor. Dabei wer­den Ell­bo­gen und Hand mit einer Elek­tro­de im hin­te­ren Flü­gel (M. del­to­ide­us, Pars spi­na­lis) kon­trol­liert. Ein Umschal­ten zwi­schen den Gelen­ken erfolgt mit­tels Triggersignal.

Der Pati­ent nutzt die Orthe­se täg­lich gut 8 Stun­den und ver­sucht, den lin­ken Arm und die Hand­funk­ti­on in den Arbeits­all­tag weit­ge­hend zu inte­grie­ren. In sei­nem Tra­ge­pro­to­koll ver­merkt er bereits ver­ein­zelt Tra­ge­zei­ten von 16 Stun­den, auch bei einer 85 km lan­gen Lie­ge­rad­tour wur­de das Sys­tem durch­ge­hend getra­gen. Der lin­ke Arm dient pri­mär als Assis­tenz für den rech­ten Arm zum Hal­ten und Fixie­ren von Gegen­stän­den im Gri­pAs­sist und bei gebeug­tem Ell­bo­gen zum Hal­ten von Bröt­chen, Schrau­ben­dre­her und Glä­sern beim Ein­schen­ken (Abb. 11). Das Sys­tem neo1 stellt bereits heu­te, 6 Wochen nach Aus­lie­fe­rung, eine deut­li­che Erleich­te­rung des All­tags dar. Zudem spürt er eine posi­ti­ve Ver­än­de­rung zur Wahr­neh­mung sei­ner Phan­tom­hand. Nicht zuletzt weckt die Ver­sor­gung auch die Hoff­nung und Moti­va­ti­on, den Arm lang­fris­tig noch mehr ein­set­zen zu können.

Fazit

Mit dem myo­elek­tri­schen Exo­ske­lett neo1 steht ein leis­tungs­fä­hi­ges, akti­ves Orthe­sen­sys­tem zur Ver­fü­gung, das Pati­en­ten mit Läh­mun­gen im Arm- und Hand­be­reich einen Zuge­winn an Mobi­li­tät und Funk­tio­na­li­tät bie­tet, die Redu­zie­rung von Phan­tom­schmer­zen unter­stützt und das bio­me­cha­ni­sche Gleich­ge­wicht im Kör­per för­dert. Bereits im kur­zen Stu­di­en­ver­lauf konn­ten zahl­rei­che neu­ro­lo­gi­sche wie auch phy­sio­lo­gi­sche Ver­än­de­run­gen beob­ach­tet wer­den, die einen posi­ti­ven Effekt für den Anwen­der bedeu­ten und die auf das hohe Poten­ti­al des neu­en Sys­tems schlie­ßen lassen.

Die ers­ten Ver­sor­gun­gen haben aber auch auf­ge­zeigt, wie indi­vi­du­ell jeweils die Orthe­se ange­passt wer­den muss, um einen Mehr­wert für den Anwen­der zu errei­chen. Ins­be­son­de­re der Wunsch der Anwen­der nach einem selbst­stän­di­gen An- und Able­gen der Orthe­se muss Berück­sich­ti­gung fin­den. Das gerin­ge Gewicht und die gerin­ge Auf­bau­hö­he in Ver­bin­dung mit einer kraft­vol­len Bewe­gung sind neben der pass­ge­nau­en Form der Orthe­se die wich­tigs­ten Para­me­ter für die Anwen­der bezüg­lich Alltagsnutzen.

 

Hin­wei­se
Die pro­jekt­be­glei­ten­den For­schungs­ar­bei­ten sowie die kli­ni­sche Stu­die wer­den im Rah­men des BMBF-Ver­bund­pro­jekts „neo“ durch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land mit Mit­teln des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Wirt­schaft und Ener­gie gefördert.

Inter­es­sen­kon­flikt
Bei­de Autoren gehö­ren dem Her­stel­ler­un­ter­neh­men von neo1 an.

Die Autoren:
Dr. Ste­fan Schulz
Geschäfts­füh­rer
Vin­cent Sys­tems GmbH 
Brei­te Str. 155 
76135 Karls­ru­he
s.schulz@vincentsystems.de

Simon Rose­wich
Ortho­pä­die­tech­ni­ker-Meis­ter
Vin­cent Sys­tems GmbH
s.rosewich@vincentsystems.de

 

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Schulz S, Rose­wich S. Neue Ver­sor­gungs­mög­lich­keit bei Läsi­on des Ple­xus bra­chia­lis durch ein myo­elek­trisch gesteu­er­tes Exo­ske­lett: neo1. Ortho­pä­die Tech­nik, 2023; 74 (8): 56–63

 

  1. Matyssek S, Hepp D. Grei­fen trotz Hand­läh­mung — Ver­sor­gungs­bei­spiel mit myo­elek­tri­scher Hand­orthe­se. Ortho­pä­die Tech­nik, 2021; 72 (7): 44–48
  2. Hano K. Test­ver­sor­gung mit einer myo­elek­tri­schen Armor­the­se anhand eines Fall­bei­spiels. Ortho­pä­die Tech­nik, 2021; 72 (4): 36–39
  3. Schulz S et al. Design of a Hybrid Powered Upper Limb Ortho­sis. In: Dös­sel O, Schle­gel WC (Hrsg.). World Con­gress on Medi­cal Phy­sics and Bio­me­di­cal Engi­nee­ring. 7.–12. Sep­tem­ber 2009, Munich, Ger­ma­ny. IFMBE Pro­cee­dings 25/9. Ber­lin, Hei­del­berg: Sprin­ger, 2009: 468–471
  4. Schill O et al. Ortho­Ja­cket: An acti­ve FES-hybrid ortho­sis for the para­ly­sed upper extre­mi­ty. Bio­me­di­zi­ni­sche Technik/Biomedical Engi­nee­ring, 2011; 56 (1): Febru­ary 2011, 35–44
  5. Schulz S et al. The hybrid flui­dic dri­ven upper limb ortho­sis – Ortho­Ja­cket. In: MEC 11, Pro­cee­dings of the 2011 Myo Elec­tric Controls/Powered Pro­sthe­tics Sym­po­si­um Fre­de­ric­ton, New Bruns­wick, August 2011: 14–19
  6. Schulz S. Das all­tags­taug­li­che Assis­tenz­sys­tem zur akti­ven Unter­stüt­zung von Pati­en­ten mit ein­ge­schränk­ter Hand­be­weg­lich­keit: Grip Assist. Schluss­be­richt: Teil­vor­ha­ben „Moti­on Grip“, BMBF-Ver­bund­pro­jekt, FKZ 16SV5816K, Tech­ni­sche Infor­ma­ti­ons­bi­blio­thek (TIB). Karls­ru­he: Vin­cent Sys­tems GmbH, 2015 
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