Einleitung
10 bis 75 % der Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen entwickeln progrediente Wirbelsäulenfehlstellungen in unterschiedlicher Ausprägung und in verschiedenen Ebenen 1 2 3 4 5 6. Dabei korrelieren meist die Häufigkeit und der Schweregrad mit der Ausprägung der Lähmung 1 7. Bei der idiopathischen Skoliose erfolgt eine Korsett-Therapie im Korridor von 20° bis etwa 45° Skoliosewinkel nach Cobb und gleichzeitig nachgewiesener Progredienz sowie ausreichender Wachstumsprognose 8. Liegt die Verkrümmung darüber, dann kommt u. U. auch eine operative Korrektur in Betracht 9. Im europäischen Raum haben sich in der Korsett-Technologie für die Behandlung der idiopathischen Skoliose teilaktive Orthesen etabliert, deren Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte 10 11.
Es stellt sich nun die Frage, ob diese Vorgehensweise auch auf neuromuskuläre Wirbelsäulendeformitäten übertragbar ist. In der Literatur sind einige Arbeiten zu finden, die den Erfolg von Spondylodesen bei diesen Patienten belegen 12 13. Es wird allerdings in der langfristigen Betrachtung häufig von ernsthaften Komplikationen berichtet 14 15.
Grundsätzlich herrscht in der Fachwelt jedoch weitgehende Einigkeit darüber, dass Wirbelsäulendeformitäten neuromuskulären Erkrankungen nicht als einheitliche Gruppe gesehen werden dürfen, sondern dass die Grunderkrankung eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung über eine Therapie spielen muss. Dies lässt vermuten, dass die Erkenntnisse aus der Behandlung der idiopathischen Skoliose nicht auf neurogene Störungen übertragen werden können. Vielmehr scheint es von großer Bedeutung zu sein, ob es sich bei der Grunderkrankung um ein progredientes Krankheitsbild, wie es sich bei den meisten Formen der Muskelatrophie oder ‑dystrophie darstellt, um eine hypotone Situation wie bei der MMC oder der Querschnittlähmung oder um eine nicht progediente Erkrankung mit dem Einfluss eines unterschiedlichen Tonus der Muskulatur, wie bei der ICP, handelt. Eine weitere Gruppe sind bewegungseingeschränkte und kontrakte Fehlstellungen, wie sie zum Beispiel bei der AMC vorzufinden sind.
Indikation zur Korsettversorgung bei hypotonen Lähmungen sowie bei Muskelatrophie und Muskeldystrophie
Bei kleineren Kindern bis zu etwa 30 kg Körpergewicht gelingt die Korrektur der Fehlstellungen mittels Korsett häufig noch gut, während nach weiterem Wachstum, Gewichtszunahme und Skoliosegrad die Hebelverhältnisse zunehmend ungünstig werden und die orthopädietechnische Kontrolle der Krümmungen immer schwieriger wird. Trotz korrekter Passform des Korsetts ist der zur Korrektur erforderliche Flächendruck auf die Haut so hoch, dass dies kaum toleriert werden kann. Ein Nachgeben des Korrekturdrucks führt jedoch zu einer Zunahme der Progredienz. Folgende Patienten können von einer Korsettversorgung profitieren:
- Kinder mit geringgradigen Krümmungen und moderater Progredienz von < 5° jährlich
- Kleinkinder: stabilisierende/korrigierende Beeinflussung des Rumpfwachstums und Zeitgewinn bis zur indizierten operativen Intervention
- Kinder mit passiv gut korrigierbaren-WS-Deformitäten – Rumpfstabilisation bis zum Wachstumsabschluss bei guter Alltagstoleranz
- Ablehnung einer operativen Vorgehensweise (durch Eltern)
- medizinische Gründe, die gegen eine OP sprechen
Oft steht jedoch bei dieser Gruppe die frühzeitige Spondylodese im Vordergrund des Behandlungskonzeptes 4 16 17 18.
Indikation zur Korsettversorgung bei kontrakten/teilkontrakten Fehlstellungen wie z. B. bei AMC
Bei der Arthrogrypose treten Wirbelsäulendeformitäten oft frühzeitig auf und neigen zu baldigem Einsteifen. Eine chirurgische Korrektur ist wegen des noch großen Wachstumspotenzials im frühen Kindesalter kaum empfehlenswert. Eine Korsettversorgung kann in diesen Fällen die Progredienz und Kontrakturentwicklung bremsen und die Zeit bis zum operationsfähigen Alter überbrücken. Bei geringeren Krümmungen < 30° Cobb kommt auch eine Korsettbehandlung ohne spätere operative Korrektur in Frage 5 6 19.
Indikation zur Korsettversorgung bei der ICP
Die Indikation zur Spondylodese wird bei CP-Patienten im Vergleich zu anderen neuromuskulären Erkrankungen deutlich zurückhaltender gestellt. Die unzureichende Fähigkeit zur Kooperation, erhöhte Pseudarthroserate, verminderte Toleranz aufgrund eingeschränkter intellektueller und emotionaler Leistungsfähigkeit, gesteigerte Komplikationsrate infolge der Entwicklung von Druckulzera und kardio-pulmonaler bzw. respiratorischer Insuffizienz sind die Gründe hierfür 14 15 20. Mit der Versteifung der Wirbelsäule wird dem Patienten außerdem die Möglichkeit zu Ausgleichsbewegungen genommen, was zusätzlichzu einer Einschränkung der Lebensqualität führen kann (z. B. Gehen, Rollstuhlsteuerung).
Da die Erkrankung nicht progredient ist, kann in nahezu allen Fällen zunächst ein Versuch mit einer konservativen Vorgehensweise unternommen werden. Dabei stehen vor allem funktionelle Aspekte wie Sitzstabilität, Handfunktion und Lungenfunktion im Vordergrund 21 21. Die Progredienzbremsung kann nur gelingen, wenn eine gute Primärkorrektur erreicht wird 21. Bei einem Krümmungsscheitel über Th 6 ist der biomechanisch wirksame Hebelarm des Korsetts zur Korrektur so kurz, dass keine wesentliche Korrektur zu erwarten ist. Dies gilt sowohl in der Frontal- als auch in der Sagittalebene.
Ausführung des Korsetts bei neuromuskulären Erkrankungen
Teilaktive Korsette haben sich zur Behandlung von Wirbelsäulenfehlstellungen bei neuromuskulären Erkrankungen nur in wenigen Fällen bewährt. Stärker betroffene Patienten sind nicht in der Lage, sich aktiv von den Druckzonen teilaktiver Korsette wegzubewegen und in die Freiräume zu atmen. Die Korrekturpelotten können sogar die Spastik triggern und somit zu einer Verschlechterung der Situation führen. Auch sind die Hebelverhältnisse bei Fehlstellungen von mehr als 50° für teilaktive Korsette ungünstig. Hier kommt es zu großen Überschneidungen von Druckzonen und Freiräumen, was zu schlechten Korrekturergebnissen führt.
Eine Konstruktion in Vollkontaktbettung zeigt hingegen deutlich bessere Ergebnisse 22, was der Hauptautor in einer früheren Publikation bereits darlegen konnte 23. Dabei kommen unterschiedliche, tendenziell weiche Materialien, teilweise in Kombination und in Sandwichbauweise, zum Einsatz.
Biomechanische Aspekte
Die Basis für eine bestmögliche Korrektur der Fehlstellung ist immer eine exakte Beckenfassung und eine physiologische Einstellung der LWS-Lordose.
Häufig ist im Sitzen eine Kyphosierung der LWS zu erkennen, die aufgrund einer Entriegelung der Facettengelenke zu einer globalen Instabilität der Wirbelsäule führt. So kann oft alleine durch eine Lordosierung eine erhebliche Verbesserung der Stabilität und eine Aufrichtung der Fehlstellung, auch in der Sagittalebene, erreicht werden (Abb. 1).
Patienten mit Muskelerkrankungen wie spinaler Muskelatrophie oder — dystrophie nutzen häufig diese Position intuitiv und kompensatorisch, um überhaupt noch eine Sitzstabilität aufrechtzuerhalten (Abb. 2). Dabei verriegeln die kleinen Wirbelgelenke, und der Körperschwerpunkt verläuft hinter der lumbalen Wirbelsäule.
Die Korsettfertigung
1. Gipsabdruck
Kommen in der modernen Rumpforthetik in der Regel berührungslose Systeme zur digitalen Erfassung der Rumpfgeometrie zum Einsatz, konnten sich diese Methoden der Formerfassung bei Kindern und Jugendlichen mit neuromuskulären Defiziten noch nicht bewähren. Zu sensibel stellen sich oftmals die knöchern-prominente Beckenregion und der kontrakte Rippenbuckel dar, die durch einen zweiten Techniker während des Gipsabdruckes in korrekter Stellung positionsgerecht stabilisiert werden müssen.
Der Gipsabdruck wird meist im Sitzen unter Längstraktion mittels der Glissonschlinge angefertigt. Dies entspricht der alltäglichen Körperposition im Rollstuhl und ergibt deshalb ein realistisches alltagsrelevantes Bild des Körpers. Dabei übernimmt der Zug der Schlinge einen Teil der Aufrichtung und führt den Kopf. Zusätzlich erfolgt eine maximale manuelle Korrektur bis hin zur Überkorrektur (Abb. 3 – 5). Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Taillierung und – noch wichtiger – die mediale Umgreifung der vorderen Spinae zur sicheren Beckenfassung. Wenn diese zu wenig ausgeprägt erfolgt, wird die Korsettversorgung nicht den gewünschten Erfolg erzielen, da die Beckenkontrolle verloren geht. Dies trifft insbesondere auf Instabilitäten und Fehlstellungen in der Sagittalebene, also vor allem bei Sitzkyphosen, aber auch bei Hyperlordosen zu.
Wichtig ist dabei auch das hohe Eingreifen in die Achselhöhle, bei der die Sehnen des Musculus pectoralis major ventral und des Musculus teres major dorsal freigelassen werden müssen. Diese Technik wird von den meisten Patienten erstaunlich gut toleriert. Dabei sind zwei Techniker erforderlich, während ein Elternteil vorne vor dem Kind steht und Blickkontakt hält. Der Zug an der Halswirbelsäule darf dabei nicht zu stark sein. Keinesfalls darf der Patient von der Sitzfläche abheben, um die Halswirbelsäule nicht zu stark zu belasten. Der Zug ist auch nur etwa drei Minuten, nämlich während des Beginns des Abbindens der Gipsbinden, erforderlich.
Sollte ein Gipsabdruck in der beschriebenen Methode, z. B. aufgrund völliger Sitzunfähigkeit (Abb. 6), nicht gelingen, so kommt eine Zwei-Schalen-Technik im Liegen in Betracht. Dabei wird im ersten Schritt in Bauchlage eine 12-lagige Longuette aufgelegt, die lateral so lang zu wählen ist, dass sie nach ventral über die vorderen oberen Spinae geführt werden kann. Dann erfolgt die manuelle Korrektur, wobei auch in diesem Fall die Taille eng gefasst und die Spinae nach medial umgriffen werden (Abb. 7). Nach dem Abbinden des Gipses wird der Patient in der Rückenschale in Rückenlage gedreht und eine ventrale 8‑lagige Longuette 5 cm seitlich überlappend auf die hintere gelegt. Der Nachteil dieser Methode ist eine Vergrößerung der ML-Weite und eine Reduzierung der AP-Weite, so dass besonders der später erforderliche Atemfreiraum am Bauch beim Gipsabdruck nicht dargestellt werden kann.
Folgende Maße sind für die Fertigung unabdingbar und müssen bei der Modellierung streng berücksichtigt und überprüft werden:
- Abstand der vorderen oberen Spinae zueinander (mit dem Mess-Schieber gemessen)
- Taillenweite in Korrektur
- ML-Weite unter der Achsel
- AP-Weite von der vorderen zur hinteren oberen Spina iliaca
2. Modellierung
Das beim manuellen Test auf der Liege erreichte Ausmaß der Korrektur, die Aufrichtung und die Körperposition sollten im Negativ abgebildet sein. Kleinere Korrekturen können durch Umstellungen am Negativmodell vorgenommen werden. Bei größeren Abweichungen ist es zielführender, einen zweiten Versuch, ggf. in einer anderen Abdrucktechnik, durchzuführen. Es wird das Erreichen einer maximalen Korrektur angestrebt, ohne jedoch Druckstellen zu riskieren, die auch eine Verstärkung der Spastik zur Folge haben können. Im Unterschied zu teilaktiven Korsetten wird bei der Modellierung flächiger und fließender gearbeitet. Das Ziel ist es, eine Vollkontaktorthese mit stärkerem Druck auf die Konvexitäten und nur leichtem Kontakt an den Konkavitäten herzustellen. Der großflächige Kontakt reduziert sogar häufig den Tonus und ebnet den Weg für eine gute Korrektur der Skoliose.
Am unbearbeiteten Modell werden zunächst die Maße überprüft. Hierbei sind vor allem die Weitenabstände der Spinae ventral und AP von größter Bedeutung. Diese Punkte müssen wiedergefunden werden. Der erste Schritt besteht aus einer Abtragung medial der ventralen Spinae bis mindestens auf Spina-Niveau, um diese zu entlasten und eine optimale Beckenfassung zu ermöglichen. An den Spinae wird dann bei normalgewichtigen und schlanken Patienten etwa 1 cm Gips aufgetragen. Bei kräftigeren Patienten ist keine Auftragung an dieser Stelle erforderlich. Die Entlastung erfolgt bei diesen über die Abtragung medial der Spinae. Für den Atemfreiraum am Bauch werden 4 bis 5 cm Gips aufgetragen. Die Konvexitäten werden, je nach Korrekturpotenzial, mehr oder weniger stark großflächig abgetragen. Hier reicht die Spanne von keiner Abtragung bei kontrakten Fehlstellungen bis hin zu 3 cm bei völlig redressierbaren Krümmungen. An den Konkavitäten wird nur wenig Gips in etwa 1 cm Stärke aufgetragen.
Die Taillierung sollte deutlich und stark ausgebildet sein. Die Kontur unter der Achsel muss konkav nach innen ausgearbeitet werden, so dass die Rippen in der Achselhöhle angestützt und die Sehnen des M. pectoralis maor und M. teres minor und major sowie die Gefäße und Nerven des Armplexus keinem Druck ausgesetzt sind.
3. Materialauswahl und Korsettanfertigung
Aufgrund der starken Hinterschneidung medial der Spinae ist ein Formausgleich aus Plastazote in diesem Bereich erforderlich. Das feste Thermoplast (PE oder PP) würde sonst an dieser Stelle überspannen und die Modellierung nicht formgetreu nachbilden. Zudem wird diese Fassung von den Patienten, trotz der ausgeprägten Form, als angenehm empfunden und verbessert auf diese Weise die Compliance. Sollte das Korsett eine starke lordosierende Wirkung vorsehen, so ist auch eine Polsterung am Rücken empfehlenswert.
Bei kleinen, leichten Kindern kommt ein Low-Density-Polyethylen (LDPE) 180, bei kräftigeren Kindern ein PE 300 oder Polypropylen (PP) zum Einsatz. Das Material muss genügend Steifigkeit zur Korrektur aufweisen, sich gleichzeitig aber auch zum Anziehen noch gut aufbiegen lassen. Eine starke Profilierung am Rücken verhindert insbesondere bei PP ein leichtes Aufbiegen, weshalb auch in diesen Fällen an dieser Stelle oft ein Formausgleich aus Plastazote angefertigt wird.
4. Anprobe
Bei der Anprobe muss kritisch geprüft werden, wie weit das Korsett zurückgeschnitten werden kann, ohne einen Korrekturverlust zu riskieren. In den meisten Fällen kann auf eine hohe subclaviculäre Anlage verzichtet und der ventrale Rand bis unter den Musculus pectoralis major zurückgekürzt werden. Eine früher häufig verwendete dorsale Sitzkante ist durch die ventrale Beckenfassung mit enger Umgreifung der vorderen Spinae nicht mehr erforderlich (Abb. 8). Auf der Abbildung ist auch der ausgeprägte ventrale Atemfreiraum zu erkennen.
Das Ausmaß der manuellen Korrekturmöglichkeit der Deformität am Patienten ist der Maßstab für die Korrektur durch die Korsettversorgung. Das Korsett sollte nicht wesentlich schlechter korrigieren, als es der klinische Test vorgibt. Leichte Rötungen der Haut an den Konvexitäten, die nach 5 Minuten wieder verblassen, sind erlaubt und erwünscht, solange es zu keinen Abwehrreaktionen der Patienten kommt. Spätestens nach zwei Wochen Eingewöhnungszeit darf das Korsett keine Beschwerden mehr verursachen und wird vom Großteil der Patienten vor allem aufgrund der verbesserten Sitzstabilität gerne getragen.
Fallbeispiele
Einige Beispiele sollen die Möglichkeiten und Grenzen der Korsettversorgung bei neuromuskulären Fehlstellungen der Wirbelsäule verdeutlichen. Die Abbildungen 9 u. 10 zeigen einen Patienten mit ICP und einer schweren dekompensierten Skoliose. Er ist ohne Korsett nicht mehr sitzfähig. Mit Korsett konnte eine Sitzfähigkeit in der Sitzschale über den ganzen Tag, mit zwei Pausen von jeweils 45 Minuten, erreicht werden.
Die Patientin der Abbildung 11 leidet an einer spinalen Muskelatrophie (SMA) mit kollabierender Skoliose. Eine Spondylodese wird derzeit von den Eltern abgelehnt, so dass die Korsettversorgung die Sitzstabilität verbessern und aufrechterhalten sowie die Progredienz bremsen soll. In diesem Fall wurden Beckenring und thorakaler Ring des Korsetts getrennt und mit elastischen Stäben (Pohlidyn) verbunden. Ohne die Anbringung der dynamischen Verbindung war das Mädchen nicht mehr in der Lage, aktiv ihren Rollstuhl anzutreiben, während dies nach Montage der Stäbe wieder möglich war (Abb. 12 u. 13).
Auf den Abbildungen 14 u. 15 ist die Umgreifung der Spinae und der großzügige, etwa 4 cm tiefe Atemfreiraum am Bauch zu erkennen, der in Rückenlage zu groß erscheint, im Sitzen aber völlig ausgefüllt wird. Ohne diese Fassung würde die Beckenführung nicht gelingen; es bestünde Druckstellengefahr an den Spinae, und die Atmung würde erheblich beeinträchtigt.
Bei der 7‑jährigen Patientin mit einer Skoliose bei ICP, die auf den Abbildungen 16 u. 17 zu sehen ist, konnte eine Verbesserung der Krümmung von 34° auf 18° erreicht werden.
Diskussion
Obwohl einige Studien keine Verbesserung hinsichtlich Progredienz und Krümmungsausmaß von Wirbelsäulenfehlstellungen bei der Korsettbehandlung nachweisen konnten 21 24 25, werden bei der ICP weiterhin Rumpforthesen verordnet. Hauptgrund dafür ist die in nahezu allen Studien nachgewiesene Verbesserung der Sitzstabilität mit daraus resultierender Verbesserung der Handfunktion und der Kopfkontrolle. Die initiale Korrektur der Skoliose im Korsett, die regelmäßig radiologisch überprüft werden muss, scheint die entscheidende Größe für die Prognose hinsichtlich der Progredienz auch bei neuromuskulären und insbesondere bei cerebralparetisch bedingten Wirbelsäulendeformitäten zu sein 21.
Bei schwerer behinderten Patienten mit ausgeprägten Krümmungen > 50° erscheint es nicht sinnvoll, mit Druckzonen und Freiräumen wie bei der idiopathischen Skoliose zu arbeiten. White und Panjabi zeigten in ihrem Diagramm (Abb. 18), dass die transversalen Korrekturkräfte, die primär bei teilaktiven Korsetten zur Wirkung kommen, bei Krümmungen von mehr als 50° schnell nahezu wirkungslos werden. Hinzu kommt, dass mit zunehmendem Grad der Behinderung durch die Grunderkrankung meist auch die Willkürmotorik immer mehr nachlässt, so dass eine aktive Mitarbeit zur Korrektur der Fehlstellungen nicht mehr geleistet werden kann. Bei diesen Patienten steht deshalb eher eine weichere Bettung mit guter Compliance im Vordergrund, was aber nicht bedeutet, dass auf die mögliche Korrektur verzichtet werden darf 22.
Grenzen der Versorgung
Nicht alle Wirbelsäulendeformitäten und Patienten können mit einer Rumpforthese erfolgreich versorgt werden. Die wichtigsten Kontra- und Grenzindikationen sind:
- hochsitzende Krümmungen mit Scheitel oberhalb von TH6 wegen ungünstiger Hebelverhältnisse
- starkes Übergewicht
- ausgeprägter Überhang
- Verkürzung der Hüftstrecker, so dass keine 90°-Einstellung der Hüftgelenke bei physiologischer Lordose möglich ist
- mangelnde Mitarbeit von Eltern und Betreuern
Konservative Alternativen
Eine Sitzschale für den Rollstuhl kann geringere Seitverbiegungen bis etwa 20° Cobb bei nicht nachgewiesener Progredienz und Überhänge bei hypotonen Patienten gut ausgleichen. Dabei ist jedoch auf eine korrekte Beckenstellung zu achten. Bei progredienten Skoliosen oder größeren Krümmungsausmaßen ist die Sitzschale aber überfordert. Um größere Korrekturkräfte dreidimensional auf den Körper zu applizieren, ist eine zirkuläre Fassung unabdingbar. Dagegen kann ein Korsett den Umfang der Sitzschalenversorgung erheblich reduzieren. Dabei übernimmt das Korsett die Aufgabe der Korrektur und die Aufrichtung des Rumpfes, während dann anstatt einer dem Körper angepassten aufwendigen Sitzschale eine Leichtbausitzschale ausreicht.
Ein gelegentlich bei zierlichen Kindern eingesetztes Mieder aus Drell wird nicht empfohlen. Dieses kann zwar den Rumpf bei dieser Patientengruppe aufrichten, schränkt jedoch die Atmung erheblich ein, da kein Atemfreiraum am Bauch aufgebaut werden kann. Dazu sind starre Elemente erforderlich, über die ein Mieder nicht verfügt.
Zusammenfassung
Die Korsettversorgung für Kinder mit neuromuskulären Erkrankungen wird kontrovers beurteilt. Während bei Muskelerkrankungen eher eine frühe chirurgische Intervention im Vordergrund steht, wird bei der ICP häufiger die Indikation zur Korsettversorgung gestellt. Eine Beeinflussung der Progredienz der Wirbelsäulenfehlstellungen konnte in der Literatur bisher noch nicht eindeutig belegt werden. Gleichzeitig wird in der Praxis häufig eine gute Primärkorrektur beobachtet, die insbesondere bei der ICP ein Indiz für eine langfristige Bremsung der Progredienz sein könnte.
Die positiven Rückmeldungen der in den letzten zwei Jahren vom Hauptautor mit der neuartigen Beckenfassung und Aufmodellierung des Bauchfreiraums versorgten Patienten lassen vermuten, dass damit Compliance und Funktion der Korsettversorgung verbessert werden können.
Der Einsatz teilaktiver Rumpforthesen ist nur bei Kindern mit geringgradiger Lähmung und Wirbelsäulenfehlstellung sowie guter Willkürmotorik der Rumpfmuskulatur empfehlenswert. Bei stärkeren Krümmungen und ausgeprägten Lähmungen kommt eher eine Vollkontaktbettung in maximaler Korrekturwirkung zum Einsatz. Neben einer guten Compliance, die durch die Verwendung relativ weicher Materialien und einen großen Atemfreiraum am Bauch erreicht wird, steht immer eine größtmögliche Korrektur durch das Korsett im Vordergrund.
Für die Autoren:
Alfons Fuchs
Orthopädietechnikermeister
Pohlig GmbH
Waldhoferstraße 98
69123 Heidelberg
a.fuchs@pohlig.net
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
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- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
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