Denn dann endet die vierjährige Übergangsfrist, innerhalb derer sich Sanitätshäuser und orthopädietechnische Betriebe auf die Medical Device Regulation (MDR) vorbereiten konnten. Eigentlich war die auf den Patientenschutz zielende Verordnung der Europäischen Union bereits am 25. Mai 2017 in Kraft getreten. Die Corona-Pandemie hatte zu den vorgesehenen drei noch ein zusätzliches Jahr Aufschub gebracht. Mit der MDR werden zugleich strengere Ansprüche an die klinische Bewertung von Produkten installiert sowie eine weitergehende Überwachung, nachdem sie in Verkehr gebracht wurden. Dies betrifft sowohl Sonderanfertigungen als auch den Weiterverkauf konfektionierter Erzeugnisse im Sanitätshaus.
OT: Herr Vahle, kann die MDR kommen – oder war die Verschnaufpause aufgrund der Covid-19-Pandemie zu kurz?
Torben Vahle: Von einer „Verschnaufpause“ kann man wahrlich nicht sprechen! Die Pandemie hat die Betriebe teilweise vor existenzielle Fragen gestellt durch die Verschiebungen von Operationen, Ängste seitens der Patientinnen und Patienten, Ausfall des Personals, den fehlenden Zugang zu Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, zusammengebrochenen Lieferketten. Von fehlendem Material oder den enorm gestiegenen Kosten zum Beispiel für persönliche Schutzausrüstung (PSA) ganz zu schweigen. Da war die MDR für viele weit weg. Zum Glück haben sich die meisten sehr frühzeitig auf den Weg gemacht. Viele Unternehmen hatten die Prozesse der betrieblichen Umstrukturierung, welche die MDR mit sich bringt, schon lange auf der Agenda. Sie konnten die Seminare und Informationen, die der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) sowie die Landesverbände und ‑innungen angeboten haben, gut nutzen. Ich halte die Betriebe deshalb insgesamt für gut vorbereitet.
Profiteure oder Verlierer?
OT: Welche Unternehmen können von der MDR profitieren?
Vahle: Der Tenor in der Branche lautet: Die MDR ist im Grundsatz notwendig, aber im Detail fraglich. Hier unternimmt die Europäische Union den Versuch, bestehende Richtlinien und Vorgaben zu bündeln sowie per Verordnung eine direkte Wirkung in allen Mitgliedsstaaten zu erlangen. Gleiche Regeln für alle. Das ist erstmal kein schlechter Ansatz. Aber eine Verordnung ist nur so gut wie ihre Inhalte – und da ist die MDR ein viel zu starres Konstrukt. Sie wurde angestoßen durch den Skandal um gefälschte Brustimplantate vor rund einem Jahrzehnt, wo kriminelle Energie im Spiel war und nicht ausreichend kon-trolliert wurde oder werden konnte. Aber in der Ausführung geht die MDR nun in eine Richtung, als ob das ganze System zuvor schlecht gewesen wäre. Das stimmt nicht. Gerade in Deutschland gab es bereits erprobte Strukturen speziell im Gesundheitshandwerk. Dazu gehören berufsrechtliche Vorschriften im Rahmen der Handwerkskammern, die Sozialgesetzgebung wie auch etablierte Meldesysteme. So hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) laufend Auswertungen zu Vorkommnissen beispielsweise für Orthesen der unteren Extremität erstellt. Die Patientensicherheit in unserem Bereich war nicht gefährdet, trotzdem werden wir in die MDR-Vorgaben gepresst. Dabei differenziert die MDR zu wenig, wirft individuelle Fertigung in einen Topf mit der großindustriellen Herstellung. Da profitieren wir eher nicht.
Neues Branchenregister geplant
OT: Also bringt die MDR nur Lasten?
Vahle: Eigentlich war in der EU ein Ausgleich üblich: Kommt eine neue Belastung, geht dafür eine andere. Dies ist hier nicht so und das erzeugt Frust. Die Leute kommen aufgrund wuchernder Bürokratie immer weniger zur eigentlichen Versorgungsarbeit. Und auf den Bürokratiekosten bleiben sie sitzen, das ist nicht korrekt. Der Verwaltungsapparat bläht immer mehr auf. Ganz neu sind zwingende Einschätzungen zur Lebensdauer eines Produkts: Hier muss angegeben werden, wie lange das Produkt voraussichtlich im Markt sein wird samt Überwachungs- und Wartungszyklen. Das betrifft ebenso individuell angepasste bzw. hergestellte Produkte. Diese Informationen sollten im Qualitätsmanagement hinterlegt sein. Die Arbeit erleichtern soll in Zukunft ein neues Branchenregister, das die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) im Bereich der klinischen Nachverfolgung plant. Es soll alle Bewertungen und Meldungen zu den Produktfamilien im Markt übersichtlich zusammenfassen.
OT: Im Sanitätshaus finden ja beide Welten zusammen – die Sonderfertigung und der Verkauf bzw. die Abgabe konfektionierter Erzeugnisse. Was ist hier zu beachten?
Vahle: Der Workflow ändert sich durch die MDR. Ich kann für den Sanitätshausbereich nur empfehlen, sich im Leitfaden für Händler der DGIHV einen Überblick zu verschaffen. Ein Händler ist per se kein Hersteller. Aber kritisch kann es sein, wenn Produkte aus einer Charge entnommen und einzeln abgegeben werden oder Produkte durch Umverpackungen verändert werden. Hier kann Gefahr drohen. Also sollte ein Sanitätshaus genau abwägen: In welcher Größenordnung darf ich einzeln abgeben? Bei White-Label-Produkten bzw. dem Umlabeln von Produkten kommt es sicher auf den Einzelfall an. Aber wer etwas unter seinem eigenen Label in den Markt bringt, rutscht schnell in den Verantwortungsbereich und die Pflichten eines Herstellers – genauso wie der, der einzelne Produkte aus einer Großverpackung nimmt.
MDR innovationsfeindlich?
OT: Worin sehen Sie im Zusammenhang mit der Umsetzung der MDR noch Unklarheiten?
Vahle: Nicht abschließend geklärt ist, ob die Behörden Sonderfertigungen tatsächlich mit allen Konsequenzen wie Großserienprodukte behandeln und bewerten werden, wie es die MDR im Kern vorschreibt. Unklar ist, wer kontrolliert und sanktioniert. So lassen sich viele der Vorschriften der Richtlinie über ein QM-System abdecken. Doch was passiert, wenn der Auditor bei der Überprüfung Abweichungen feststellt? Dann gibt es im Zweifel kein Zertifikat, klar. Aber darf und muss er das dann an die Behörden melden? Ich denke nicht. Die Kontrollen müssen angemessen sein, mit Maß und Mitte. Ein weiterer unklarer Punkt ist der Umgang mit Innovationen. Nach meiner Ansicht ist die MDR innovationsfeindlich. Nichts darf vom vorgegebenen System abweichen – aber Innovation ist eine durch Erfahrung und Expertenwissen generierte Abweichung vom System. Innovation ist der Kern des Gesundheitshandwerks, zeichnet es aus. Noch wissen wir nicht, wie die MDR hier einwirkt. Es wäre gut, wenn in diesem Zusammenhang zunächst eine Art Kontrollmoratorium eingeführt würde, damit sich die MDR unter „Normalbetrieb“ ein paar Monate einspielen kann.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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