Kor­sett­fer­ti­gung – aktu­el­ler Stand der CAD-Technik

F. Hoeltzel
Der Artikel beschreibt die Entwicklungsgeschichte der CAD-Technik im Kontext der Konzeption und Konstruktion von Korsetten. Das in diesem Beitrag näher erläuterte CAD-Programm wurde mit Bausteinen verschiedener Werkzeuge konzipiert und ermöglicht es nun, mit einem virtuellen Baukastensystem eine strukturierte 3-D-Korsett-Bibliothek in das Programm einzubauen. So kann mit einer immer ausgereifteren Technik der Kreis zwischen CAD- und Gipstechnik geschlossen werden.

Ein­lei­tung

Unter Kor­sett­bau­ern gilt häu­fig auch heu­te noch der Abdruck einer Kör­per­form zur Kon­struk­ti­on eines Kor­setts – das Gip­sen – als Stand der Tech­nik. Jedoch wird dabei oft­mals ver­ges­sen, dass nicht immer sämt­li­che Radi­en in einen Gips­ab­druck inte­griert wer­den kön­nen. Dies lässt sich am Bei­spiel der Behand­lung eines Flach­rü­ckens bei einer tho­ra­ka­len Sko­lio­se erläu­tern: Sofern der Tech­ni­ker die Haut des Pati­en­ten vor dem Ein­gip­sen nicht mit einer fet­ten­den Creme behan­delt und in den Kon­ka­vi­tä­ten kei­ne Gips­longuet­ten direkt auf die Haut auf­legt, wird bei die­ser Tech­nik häu­fig rou­ti­ne­mä­ßig die Haut mit einem Per­lon- oder Baum­woll­tri­kot abge­deckt. Somit wer­den die Radi­en eines Flach­rü­ckens oder sons­ti­ge kon­ka­ve Radi­en beim spä­te­ren Aus­gie­ßen des Gips­ne­ga­ti­ves nicht kor­rekt wie­der­ge­ge­ben und gehen verloren.

Zudem ist es rela­tiv schwie­rig, einen Pati­en­ten für spä­te­re Modu­la­ti­ons­zwe­cke in einer vor­kor­ri­gier­ten Posi­ti­on zu hal­ten. Beson­ders die Shift-Funk­ti­on, die heu­te jeder Kor­sett­bau­er berück­sich­tigt, kann mit der Gips­tech­nik nur schwer gemeis­tert wer­den; über­dies ist es schwie­rig, das Becken gespie­gelt umzu­set­zen (also etwa den Druck auf Zone 41 nach Chê­neau kor­rekt aus­zu­üben). Die­se Druck­zo­ne befin­det sich zwi­schen der Cris­ta ili­a­ca und dem Tro­chan­ter major und drückt auf die Mus­kel­grup­pe der klei­nen Glutä­en. Die­se Regi­on hat nach Chê­neau die Funk­ti­on, das Becken zu „schie­ben“.

Zwar exis­tie­ren in der einen oder ande­ren ortho­pä­di­schen Werk­statt, in der häu­fig Kor­set­te mit die­ser Tech­nik kon­stru­iert wer­den, Gerät­schaf­ten, in die die Pati­en­ten „ein­ge­spannt“ und vor­kor­ri­giert wer­den. Jedoch gibt es nach Kennt­nis des Ver­fas­sers bis heu­te auf dem Markt kein offi­zi­ell zuge­las­se­nes Gerät, mit dem die Pati­en­ten wäh­rend die­ser Pha­se sta­bi­li­siert und vor­kor­ri­giert wer­den können.

Somit wur­de im Betrieb des Ver­fas­sers bereits in den 1990er Jah­ren ver­sucht, in Zusam­men­ar­beit mit einem kana­di­schen CAD-Pro­gramm­ent­wick­ler mit Hil­fe eines Biblio­the­ken­sys­tems die CAD-Pro­the­sen-Modu­la­ti­on mit dem Kor­sett­bau zu ver­bin­den. Daher wird seit 1995 zum Kor­sett­bau eine CAD-CAM-Soft­ware benutzt, die sich im Lau­fe meh­re­rer Jah­re bis heu­te in Zusam­men­ar­beit mit der Her­stel­ler­fir­ma bewährt hat. Die­ses Sys­tem hat sich inner­halb der ver­gan­ge­nen 20 Jah­re in drei wesent­li­chen Etap­pen ent­wi­ckelt, die im Fol­gen­den genau­er vor­ge­stellt werden.

Etap­pe 1 – Kor­sett­sys­tem C95 (Chê­neau 95)

In den Jah­ren ab 1995 wur­de zunächst die Metho­de „C95“ ange­wandt, bestehend aus einer Biblio­thek mit sym­me­tri­schen 3‑D-Model­len, die in Zusam­men­ar­beit mit Dr. Chê­neau mit soge­nann­ten Over­lays (Abb. 1) ergänzt wur­den. Hier­bei han­delt es sich um eine gezeich­ne­te Regi­on, erzeugt durch meh­re­re Maus­klicks, bei denen der letz­te Klick die Regi­on schließt. Nach der Erfas­sung manu­ell abge­nom­me­ner Maße am Pati­en­ten konn­te der Tech­ni­ker mit die­ser Metho­de aus ver­schie­de­nen soge­nann­ten 3‑D-Mor­pho­ty­pen, die aus „nor­ma­len“, nicht ver­krümm­ten Biblio­the­ken­for­men (vir­tu­el­len 3‑D-Stan­dard-Model­len) in der Libra­ry stamm­ten, die am bes­ten pas­sen­de Form aus­wäh­len. Die Model­le wur­den sodann mit Hil­fe einer Maß­ta­bel­le mit den ent­spre­chen­den Kör­per­for­men der Pati­en­ten und deren Maßen in Rela­ti­on gebracht (Abb. 2).

Digi­ta­le Kame­ras waren zu die­sem Zeit­punkt noch nicht wie heu­te üblich im Ein­satz. Zwar wur­den damals zur Unter­stüt­zung der Modu­la­tio­nen teu­re Pola­roid-Bil­der gefer­tigt und für Doku­men­ta­ti­ons­zwe­cke genutzt, jedoch konn­ten die­se Bil­der nicht digi­tal hin­ter­legt wer­den und gin­gen somit ver­lo­ren. Nach dem Model­lie­ren der Form mit der CAD-CAM-Soft­ware wur­de dann ein PU-Hart­schaum­mo­dell auf einer 3‑Achs-Frä­se gefräst und anschlie­ßend mit der her­kömm­li­chen Tief­zieh­tech­nik weiterverarbeitet.

Die­se Metho­de hat sich über vie­le Jah­re in der Zusam­men­ar­beit mit den Zen­tral-Fer­ti­gungs-Kun­den bewährt, und es wur­den mit die­ser Tech­nik in Deutsch­land vie­le Pati­en­ten ver­sorgt. Die Metho­de hat­te jedoch eini­ge Schwä­chen und hing, was die Genau­ig­keit der Maße anging, vom sorg­fäl­ti­gen Mes­sen und Foto­gra­fie­ren des Tech­ni­kers ab. Bei Anpro­ben der so ent­stan­de­nen Kor­set­te zeig­te sich, dass die Metho­de gegen­über einem genau­en Gips­ab­druck, was die Pass­form­ge­nau­ig­keit anging, nicht über­le­gen war. Dies galt sowohl für die Genau­ig­keit der Höhen und der Volu­mi­na als auch der Drü­cke. Zudem konn­te man mit die­sem Sys­tem zu Beginn mit ca. 25 Over­lays nur die klas­si­sche Dou­ble-Major-Sko­lio­se behandeln.

Das Over­lay-Regio­nen-Sys­tem war also zu die­sem Zeit­punkt für nur einen Sko­lio­se­typ noch gut über­schau­bar. Beim Aus­bau für wei­te­re Sko­lio­se­ty­pen, wie zum Bei­spiel für die Ent­wick­lung von Dero­ta­ti­ons­or­the­sen, erwies sich die Ent­wick­lung wei­te­rer Over­lays jedoch als sehr kom­pli­ziert. Es wur­de damals ver­sucht, die Klas­si­fi­ka­ti­on nach King-Chê­neau von 1 bis 5 (Abb. 3) mit­zu­be­rück­sich­ti­gen. Aber bei min­des­tens 20 bis 25 Over­lays je Form, mul­ti­pli­ziert mit 5 Kor­sett-Typen, das Gan­ze gespie­gelt, war die­se Auf­ga­be fast nicht mehr zu bewäl­ti­gen und wäre sicher­lich auch nicht mehr über­schau­bar gewe­sen (es hät­ten sich min­des­tens 250 Regio­nen nur für die Mäd­chen-Biblio­thek ergeben).

Etap­pe 2 – Kor­sett­sys­tem C2000 (Chê­neau 2000)

Somit wur­de in den Jah­ren zwi­schen 2002 und 2005 eine neue Grund­bi­blio­thek nach dem Sche­ma „C2000“ ent­wi­ckelt (Abb. 4). Die­se Biblio­thek bestand aus fer­tig modu­lier­ten Sko­lio­se-Model­len und ermög­lich­te dadurch eine neue Metho­de der Modu­la­ti­on. Sie erlaub­te es, Model­le sowohl für Mäd­chen als auch für Jun­gen und zudem ver­schie­de­ne Krüm­mungs­mus­ter in Unter­grup­pen zu hin­ter­le­gen. Das Auf­le­gen von Over­lays oder Pads war als Funk­ti­on in der Soft­ware wei­ter­hin enthalten.

Die­se Metho­de deck­te zwar einen Groß­teil der Pati­en­ten ab, hat­te jedoch eben­falls eini­ge Schwä­chen. Das Ver­fah­ren mit nur einem Grund­mo­dell (jedes Modul stamm­te aus ledig­lich einer Kor­sett­form eines belie­bi­gen Pati­en­ten), ob lum­bal, „dou­ble major“, tho­ra­kal, tho­ra­ko­lum­bal oder dop­pelt hoch­tho­ra­kal, sowohl für Mäd­chen als auch für Jun­gen, konn­te nicht zufrie­den­stel­len, da hier­bei die Mor­pho­lo­gie der Pati­en­ten immer noch nicht mit den Biblio­the­ken­for­men fusio­niert wer­den konnte.

Etap­pe 3 – Kor­sett-Biblio­the­ken in Ver­bin­dung mit Scannerdaten

Im Jahr 2012 wur­de eine neue Metho­de ein­ge­führt, bei der „ech­te“ 3‑D-Pati­en­ten­ra­di­en durch Scan­nen mit Biblio­the­ken-For­men gemixt wer­den konn­ten. Die­se wei­ter­ent­wi­ckel­te Modu­lier­me­tho­de dürf­te heu­te vie­len Tech­ni­kern nicht nur ermög­li­chen, mit einem CAD-Pro­gramm Kor­set­te zu kon­stru­ie­ren, son­dern auch die indi­vi­du­el­le Mor­pho­lo­gie des Pati­en­ten und sei­ne Krüm­mungs­mus­ter mit Kor­rek­tur­sche­ma­ta wie Len­ke, Lohn­stein, Rigo oder wei­te­ren per­so­na­li­sier­ten Kor­sett-Sys­te­men, die auf mehr­jäh­ri­ger Erfah­rung beru­hen, zu verbinden.

Bei die­sem Ver­fah­ren foto­gra­fiert, misst und scannt der Tech­ni­ker den Pati­en­ten für die spä­te­ren Modu­lier­zwe­cke. Vor der Abrei­se des Pati­en­ten müs­sen alle Daten sorg­fäl­tig über­prüft wer­den, da ein Spei­cher­feh­ler schwer­wie­gen­de Fol­gen haben kann. Denn im Gegen­satz zum Gips­ne­ga­tiv hat der Tech­ni­ker bei einem Daten­ver­lust kei­ne Chan­ce mehr, die­se wie­der­zu­er­lan­gen, außer indem er den Pati­en­ten für eine neue Daten­er­fas­sung ein zwei­tes Mal ein­be­stellt. Dafür ist der Scan eines Pati­en­ten, falls gut gesi­chert, für alle Zei­ten ver­füg­bar. Unab­hän­gig davon erweist sich das Sichern von 3‑D-Kon­tu­ren der Pati­en­ten für die Doku­men­ta­ti­on und damit als Ver­gleichs- und kli­ni­sche Kon­troll­me­tho­de für wei­te­re Kor­sett­ver­sor­gun­gen als gro­ßer Vorteil.

Nach Über­prü­fung aller Daten ver­gleicht der Tech­ni­ker erneut die exak­ten Maße des Pati­en­ten im jewei­li­gen Erfas­sungs­pro­gramm des ange­schaff­ten Scan­ners. Dazu müs­sen nur 2 oder 3 Kon­troll­ma­ße mit den Scan­ner­da­ten abge­gli­chen wer­den, um sicher­zu­stel­len, dass der Scan­ner stets kor­rekt kali­briert ist und dass die von Hand abge­nom­me­nen Maße mit den Scan­ner-Maßen übereinstimmen.

Nach­dem die 3‑D-Daten des Pati­en­ten mit dem jewei­li­gen vor­ge­wähl­ten Sko­lio­se-Modul ver­knüpft wur­den (hier­bei ist die Erfah­rung des Ortho­pä­die-Tech­ni­kers ein wich­ti­ger Aspekt), ver­bin­den sich die Scan­ner­da­ten mit dem Skoliose-Modul.

Im CAD-Pro­gramm blei­ben im lin­ken Fens­ter als Kon­troll­mo­dell die Pati­en­ten­da­ten stets sicht­bar, wäh­rend der Tech­ni­ker im akti­ven Fens­ter das Kor­rek­tur­mo­dell mit allen Werk­zeu­gen des CAD-Pro­gramms bear­bei­ten kann (mehr oder weni­ger Volu­men, mehr oder weni­ger Shift, Schnitt­kan­ten ver­le­gen usw.) (Abb. 5).

Die­se Tech­nik funk­tio­niert bei dem vom Ver­fas­ser genutz­ten Kor­sett-Biblio­the­ken­sys­tem, kann aber auch für alle ande­ren Kor­sett-Kon­struk­ti­ons­va­ri­an­ten genutzt wer­den. Der Unter­schied bei die­ser Model­lier­me­tho­de besteht nur im Design der jewei­li­gen 3‑D-Sko­lio­se-Grund­for­men.

Fazit

Zwar kön­nen heut­zu­ta­ge alle aktu­ell auf dem Markt befind­li­chen CAD-Pro­gram­me über eine rela­tiv ein­fa­che Ein­ga­be in einer Maß­ta­bel­le hoch­wer­ti­ge Grund­for­men erzeu­gen. Die Ver­gan­gen­heit hat aber gezeigt, dass als Kon­troll­mo­dell „ech­te“ Scan­ner­da­ten, die mit 3‑D-Biblio­the­ken ver­bun­den wer­den, viel bes­se­re End­ergeb­nis­se sowohl in Bezug auf die Pass­form als auch auf Volu­mi­na und Höhen erzeu­gen können.

Der Autor:
Fred­dy Hoeltzel
Regnier Ortho­pä­die GmbH
Franz-John-Str. 10
77855 Achern
fh@regnier-gmbh.com

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on Hoelt­zel F. Kor­sett­fer­ti­gung – aktu­el­ler Stand der CAD-Tech­nik. Ortho­pä­die Tech­nik, 2016; 67 (2): 36–38
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