Der Wissenschaftler, selbst Träger einer Hightech-Prothesenhand von Össur, ist auch in der Clubszene kein Unbekannter: Meyer produziert elektronische Musik und legt als DJ auf. Dabei koppelt er seine Prothese mit dem Synthesizer und steuert die Regler per Muskelimpuls. Im Interview spricht er über seine Forschung zu Stereotypen gegenüber Nutzer:innen bionischer Prothesen sowie über eigene Erfahrungen. Außerdem erklärt der Wissenschaftler, warum er den Begriff Cyborg nicht mag.
OT: Herr Professor Meyer, Sie sind auf der OTWorld kein Unbekannter. So waren Sie 2018 am Stand des Unternehmens Össur nicht nur ein gefragter Gesprächspartner, sondern haben abends zusätzlich als DJ für Stimmung gesorgt. Im kommenden Jahr werden Sie erstmals als Keynotespeaker über Ihre aktuellen Forschungsarbeiten zu Stereotypen gegenüber Träger:innen bionischer Prothesen sprechen. Was bedeutet das für Sie?
Bertolt Meyer: Zum ersten Mal war ich 2010 auf der OTWorld, damals mit Touch Bionics (2016 von Össur übernommen, Anm. d. Red.). Es ist mir eine große Freude, dass ich jetzt die Gelegenheit bekomme, im Kongress einen Einblick in unsere psychologische Forschung zum Thema Prothetik und Behinderung zu geben. Am Chemnitzer DFG-Sonderforschungsbereich Hybrid Societies (DFG = Deutsche Forschungsgemeinschaft, Anm. d. Red.) untersuchen wir gerade, welche Stereotype es gegenüber Träger:innen bionischer Prothesen gibt.
OT: Sie stellen in Ihrem Keynotevortrag die Chancen und Risiken der Digitalisierung für Menschen mit Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt – wo liegen die Chancen?
Meyer: Zu den Chancen gehört, dass die Digitalisierung bei den Menschen mit Beeinträchtigungen ankommt und uns nicht nur bei prothetischen Hilfsmitteln völlig neue Möglichkeiten eröffnet – zum Beispiel durch Mustererkennung (Pattern Recognition, lernende Steuerung, die Bewegungsmuster
interpretiert, Anm. d. Red.) in der Arm- und Handprothetik, durch digital gesteuerte Exoskelette für Menschen mit Querschnittlähmung, durch Steuerung mittels Blickbewegungserkennung (Eye-Tracking) für Menschen mit mehrfacher Behinderung. Unsere Forschung zeigt, dass in der neuen Technik nicht nur ein funktionaler, sondern ebenfalls ein psychologischer Vorteil liegt.
OT: Worin besteht dieser Vorteil?
Meyer: Moderne Prothesen verströmen nicht mehr den Charme des Sanitätshauses der 1970er Jahre. Mit ihrer Anmutung von Hightech tragen sie dazu bei, dass ihre Nutzer:innen von Menschen ohne Behinderung auf eine andere Weise betrachtet werden. So zeigen die Ergebnisse unserer Studien, dass moderne Prothesen und Hilfsmittel das nach wie vor vorhandene Stigma einer Behinderung kompensieren können – sowohl aus der Sicht der Träger:innen als auch aus Sicht der nicht behinderten Mehrheitsgesellschaft. Dieser psychologische Aspekt kommt in der bisherigen Diskussion über die Chancen neuer Technologien zu kurz, weil es immer nur um funktionale Gesichtspunkte geht.
OT: Sie werden aber ebenso über Risiken sprechen – welche sehen Sie?
Meyer: Dass der Diskurs zum Umgang mit Behinderung verengt wird auf eine rein technische Debatte – nach dem Motto: Es gibt keine Behinderung, es gibt nur schlechte Technik. So wird Behinderung zu einer lediglich technologischen Herausforderung degradiert. Als ob sich für jede Beeinträchtigung eine technische Lösung finden lässt, die sie dann vollständig kompensiert. Technik ändert aber nichts am Stigma, an Diskriminierungen und Vorurteilen, denen Menschen mit Beeinträchtigungen im Alltag begegnen. Sie nimmt die nicht behinderte Mehrheit nicht aus der Pflicht, die Umwelt barrierefrei zu gestalten, auf Menschen mit Behinderung ohne Vorurteile zuzugehen, inklusive Schulen zu ermöglichen, eine inklusive Gesellschaft zu schaffen. Betrachtet man alles nur technisch, bleiben die gesellschaftlichen Überlegungen darüber auf der Strecke, was die nicht behinderte Mehrheit tun muss, um für die bessere Integration der schon behinderten Menschen zu sorgen. Zudem werden nicht alle Betroffenen von den Krankenkassen mit modernen Versorgungen ausgestattet – da sind oft Kämpfe auszufechten.
OT: Was meinen Sie mit „schon behindert“?
Meyer: „Schon behindert“ deshalb, weil eine barrierefreie Umwelt allen zugutekommt. Denjenigen, die vielleicht in Zukunft, im Alter behindert sein werden, aber genauso den Eltern mit Kinderwagen oder bei temporärer Beeinträchtigung aufgrund einer Erkrankung.
OT: Sie sprechen von Stigmata und Stereotypen, von denen Menschen mit Behinderung betroffen sind. Welche sind das?
Meyer: Aus sozialpsychologischer Sicht dominiert das paternalistische Stereotyp: Menschen mit einer körperlichen Behinderung werden eher gute Absichten unterstellt sowie eine geringe Kompetenz. Man glaubt, sie seien nett und könnten vieles nicht so gut. Diese Vorannahmen beeinflussen, wie man sich gegenüber Menschen mit Behinderung verhält und was man empfindet. Tendenziell ist die Empfindung Mitleid, das daraus resultierende Verhalten ist Helfen, Unterstützen. Das ist gut gemeint, impliziert aber ein Verhältnis von oben nach unten und drückt aus: Man hält das Gegenüber für weniger kompetent als sich selbst. Ähnlich paternalistisch ist das Verhältnis gegenüber alten Menschen, denen oft weniger Kompetenz zugebilligt wird und die entsprechend von oben herab behandelt werden.
OT: Erleben Sie das selbst nach wie vor?
Meyer: Neulich waren wir mit den Schwiegereltern essen, saßen zu viert am Tisch. Der Kellner brachte vier Teller. Nur auf meinem war das Fleisch zerschnitten, auf den anderen nicht. Der meinte das nett, für mich war es eine Unverschämtheit. Das zeigt die Diskrepanz, die ich erlebe – wie ich mich sehe und wie mich die Gesellschaft sieht. Darüber definiert sich der gesellschaftliche Status. Hoher Status bedeutet viel Kompetenz. Menschen mit Behinderung wird weniger Status, weniger Kompetenz zugeschrieben. Durch eine Behandlung von oben herab zeigt die Gesellschaft, wo man hingehört. Der eigene Körper wird in den Augen der anderen als defizitär wahrgenommen, was Scham erzeugen kann. Also, wer beim Anblick eines Menschen mit einer Beeinträchtigung einen mitleidigen Impuls verspürt, helfen möchte, sollte innehalten und checken, ob die Person tatsächlich Hilfe benötigt – wenn es so scheint, dann trotzdem vorher fragen. Das gilt genauso für Mitarbeiter:innen im Sanitätshaus. Kein Verhalten von oben herab! Gerade wenn Menschen mit Assistenz unterwegs sind, wird oft die Begleitperson angesprochen – man traut also dem Menschen im Rollstuhl nicht zu, ein Gespräch zu führen.
OT: Worauf achten Sie vor diesem Hintergrund bei der Auswahl Ihres Sanitätshauses, Ihrer Orthopädietechniker:in?
Meyer: Ich möchte nicht als Patient, sondern als Kunde behandelt und angesprochen werden. Ich bin ein Kunde, der über die Möglichkeit einer prothetischen Versorgung einen großen Auftrag in das Sanitätshaus bringt – allein ein neuer Prothesenschaft kostet mehr als 15.000 Euro, da ist die Hand noch gar nicht dabei. Ich bin mit einem komplexen Highend-Produkt versorgt. Da lege ich Wert auf Top-Leute auf dem neuesten Stand und entsprechende Zertifizierungen. Ich möchte die beste Lösung, und nicht von unkreativen Menschen abgespeist werden. In den letzten zehn Jahren habe ich diesbezüglich eine deutliche Professionalisierung festgestellt. Meine jetzige Orthopädietechnikerin beispielsweise verbindet technischen Sachverstand auf der Höhe der Zeit, Einfühlungsvermögen und Kreativität. Nicht zuletzt ist das Internet ein Segen! Ich kann mich herstellerunabhängig informieren und vor allem vernetzen. Das erlebe ich als Befreiung.
OT: Sie untersuchen aktuell die Stereotype in Verbindung mit Träger:innen bionischer Prothesen. Ändern sich gesellschaftliche Einstellungen, je mehr Hightech bei der Versorgung ins Spiel kommt?
Meyer: Das kann ich noch nicht sagen. Die Interviews mit zehn Profi-Anwender:innen werden gerade ausgewertet. Sie sprechen darüber, was ihnen ihre Prothese psychologisch bedeutet und wie andere Menschen mit ihnen umgehen, seit sie eine bionische Prothese tragen. Daraus entsteht eine Doktorarbeit, die ich betreue. Pate gestanden hat die Veröffentlichung „Disabled or Cyborg?“, deren Mitautor ich war und die 2018 in „Frontiers in Psychology“ erschienen ist. Darin konnten wir zeigen, dass bionische Prothesen aus Sicht nicht behinderter Menschen in der Lage waren, das mit der Körperbehinderung verbundene Stigma fast völlig auszugleichen. Die Träger:innen wurden als fast genauso kompetent betrachtet. An der TU Chemnitz gehen wir aber noch einen weiteren experimentellen Weg: Wir bauen ein virtuelles Untersuchungslabor auf, in dem sich der Körper mit Hilfe eines Virtual-Reality-Helms in Echtzeit verändern und ein Körperteil zum Beispiel durch eine Prothese ersetzen lässt. Wir möchten erkunden, wie sich die Selbstwahrnehmung durch Prothesen verschiedener Materialien verändert und welche psychologischen Prozesse angestoßen werden. Wir wollen herausfinden, welche Wirkungen verschiedene Prothesendesigns erzeugen. Im Herbst sollen erste Daten erhoben werden.
OT: Im Zusammenhang mit modernen Hilfsmitteln taucht der Begriff des Cyborgs immer wieder auf. Sind Cyborgs das Ziel?
Meyer: Den Begriff und die teils popkulturellen Diskurse darum halte ich aus psychologischer Sicht für problematisch. Cyborg – das wirkt gefährlich und kalt. Wenn ich das derzeitige Zerrbild des Menschen mit Behinderung durch das Zerrbild des Cyborgs ersetze, ist für eine inklusive Gesellschaft aus meiner Sicht nichts gewonnen. Der Cyborg wird als Bedrohung wahrgenommen, sogar von „Techno-Doping“ als Schummelei oder sogar Betrug im Sport ist die Rede. Überdies reduziert der Begriff Cyborg das Thema Behinderung ebenfalls auf ein technisches Problem. Wir müssen aufpassen, dass für behinderte Menschen kein Zwang zur technologischen Optimierung und Anpassung entsteht. Denn das ist keine Inklusion.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
ist seit 2014 Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der TU Chemnitz (seit 2019: Arbeits‑, Organisations- und Wirtschaftspsychologie). Er forscht unter anderem zu Diversität und Stereotypen, Digitalisierung und gesellschaftlichen Folgen der Verschmelzung von Mensch und Technik sowie psychischer Gesundheit in der Arbeitswelt. Am DFG-Sonderforschungsbereich „Hybride Gesellschaften“ (Hybrid Societies) ist er an einem Forschungsprojekt zu Stereotypen gegenüber Träger:innen bionischer Prothesen beteiligt. Meyer wurde aufgrund einer Dysmelie ohne linken Unterarm geboren. Er trägt die bionische Prothesenhand I‑Limb Quantum HD von Össur.
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