Einleitung
Das Sitzkissen bildet eine wichtige Schnittstelle zwischen Rollstuhl und Benutzer. Ein Sitzkissen in der Rollstuhlversorgung dient dabei aber nicht nur der Dekubitusprophylaxe, sondern es erfüllt vielmehr eine zentrale Aufgabe im Rahmen der Gesamtmobilität des Nutzers eines Rollstuhls. Zur besseren Einordnung wird die Gesamtmobilität in drei Mobilitätsaspekte aufgeteilt:
- Die Mobilität des Rollstuhlnutzers auf seinem Sitzkissen: Diese ist wichtig zur Selbstpositionierung und für Transfers.
- Die Mobilität des Nutzers mit dem Rollstuhl, als Funktionseinheit beim Antreiben: Dabei kommt dem Kissen die Aufgabe zu, den Nutzer in einer ergonomisch bestmöglichen Position in Relation zum Antriebsrad zu halten.
- Der Erhalt der langfristigen Mobilität: Diese wird nur dann erhalten bleiben, wenn es gelingt, den Nutzer in eine orthopädisch-gesunde Sitzposition zu bringen. Dies ist eine den Restfunktionen entsprechende, möglichst aufrechte Position, die den Halteapparat aber nicht überfordern darf.
Das Sitzkissen als Dekubitusprohylaxe
Ein Sitzkissen kann durch Material und Formgebung der Dekubitusprophylaxe dienen. Bis zu 16 extrinsische und intrinsische Einflussfaktoren werden für die Entstehung eines Dekubitus benannt 1. Von diesen vielen Faktoren gibt es fünf extrinsische Hauptfaktoren, auf die ein Sitzkissen Einfluss nehmen kann. Diese sind: Reibungskräfte, Scherkräfte, Hautfeuchte, Hauttemperatur – von denen jeder einzelne zunächst die Druckresistenz der Haut absenkt. Dazu kommt als fünfter Faktor der Bewegungsmangel hinzu, der die Dauer, in der der schädigende Druck auf die gefährdeten Stellen wirkt, verlängert. In der Kategorie 11 (Hilfsmittel gegen Dekubitus) listet das HMV (Stand Juli 2021) 240 Produkte auf, mit denen diese Faktoren einzeln oder in Kombination abgemildert oder ausgeschaltet werden können 2.
Hier einige Beispiele:
- viskoelastische Materialien, die den Patienten weichlagern und den Sitzdruck durch flächenvergrößerndes Einsinken verteilen, aber dadurch auch die Hautfeuchte erhöhen können,
- Trockenflotationssitzkissen von Herstellern wie Roho®, Systam®, Vicair® etc., die den Druckpunkten bei Gewichtsverlagerung dynamisch ausweichen, dafür die Sitzposition etwas instabiler machen können,
- die Supracore-Technologie „Stimulite®“, die ihre Kernwirksamkeit in einer maximalen Belüftung der Haut sowie dem Ableiten jeglicher Flüssigkeiten hat,
- Kaltschaum, der beim Sitzkissen Jay® Basic (Sunrise Medical) verwendet wird und welcher mit der Rückstellkraft des Kaltschaums dynamische Druckspitzen bei der Rollstuhlnutzung mildern soll sowie durch anatomische Anformung den Sitzdruck verteilt (Abb. 1a‑d).
Jedes dieser genannten Materialien und Bauweisen hat aber neben dem jeweiligen Grad der Dekubitusprophylaxe auch Einfluss auf die Mobilität des Nutzers. Je nachgiebiger das Kissenmaterial, desto schwieriger wird die Bewegung des Nutzers auf seinem Sitzkissen. Ein Sitzkissen kann auf diese Weise das Einleiten eines Transfers erleichtern oder erschweren und hat somit Einfluss auf die Selbstständigkeit des Rollstuhlnutzers.
Mobilität des Nutzers auf dem Sitzkissen
Der Transfer zur Mobilität des Nutzers unterteilt sich in zwei Phasen:
- die Phase des nach vorne Rutschens und
- entweder das Aufstehen oder das Herüberstützen auf einen anderen Untergrund (Abb. 2).
Das nach vorne Rutschen wird dabei maßgeblich von der Kissenfestigkeit ermöglicht oder behindert. Die Bedeutung des Materials für die zweite Phase wird bei der Auswahl eines Sitzkissens jedoch oftmals übersehen. Beide Transfer-Varianten nutzen in der zweiten Phase das vordere Drittel des Kissens als finale „Absprungkante“. Daher ist es bedeutsam, welche Festigkeit das Kissen in diesem vorderen Bereich aufweist. Ein Trockenflotationskissen nach Roho®-Bauart gibt beispielsweise im Moment der Abstützbelastung ca. 6 bis 8 cm nach, ein viskoelastisches Kissen um ca. 5 cm. Dieser Höhenverlust kann je nach Behinderungsbild kritisch dafür sein, ob ein Transfer oder das Aufstehen noch selbstständig gelingt. In diesen Fällen entsteht ein Konflikt zwischen dem für den individuellen Dekubitusschutz notwendigen Material und dem für einen selbstständigen Transfer förderlichen Material. Diesen Konflikt können Sitzkissen in Hybridbauweise lösen.
Hybrid bedeutet in diesem Zusammenhang eine Kombination aus Materialien, die nicht in der Sandwichbauweise (also übereinander) angeordnet sind, sondern in Zonen. Dies erfolgt üblicherweise in Form eines stabilen Rahmens, der mit seiner Festigkeit dem Transfer und der Sitzstabilität dienlich ist, und einer Schutzzone aus anderem Material. Diese ist auf den Bereich begrenzt, in welchem Dekubitusproblematiken entstehen könnten. Diese Schutzzone besteht je nach Hersteller wahlweise aus Fluid, Visko, Trockenflotation etc. (Abb. 3a‑c). Ein Sitzkissen in Hybridbauweise kann somit den manchmal gegensätzlichen Erfordernissen von Dekubitusprophylaxe und Transferfähigkeit gerecht werden. Für diesen Aspekt bei der Sitzkissenauswahl (Transferfähigkeit) ist es noch nicht entscheidend, ob der Nutzer Selbstfahrer ist, geschoben wird oder den größten Teil des Tages passiv bleibt. Sondern dieser Aspekt ist lediglich die reine Basisbetrachtung bei der Sitzkissenauswahl. Dieser funktionale Aspekt findet aber bei der Klassifizierung des Sitzkissens im HMV aktuell keine Beachtung.
Mobilität des Nutzers mit dem Rollstuhl als Funktionseinheit
Zurück zur Eingangsthese, die das Sitzkissen als einen zentralen Bestandteil der Mobilität des Nutzers mit dem Rollstuhl als Funktionseinheit beschreibt; sowohl hinsichtlich dessen Fähigkeit, den Rollstuhl anzutreiben als auch der dazu notwendigen Aufrichtung des Patienten im Sitz. Die Abbildungen 4a‑c zeigen Negativbeispiele realer Sitzsituationen, bei denen mit den Anpassungen weder eine gesunde Sitzposition erreicht wurde noch eine Position, aus der heraus der Nutzer seine Armkraft ergonomisch auf den Greifreifen bringen könnte (Antreibeleistung). Bei diesen Anpassungen wurden weder das Rollstuhlmodell noch die Rückenlehne oder das Sitzkissen auf den darin befindlichen Körper und dessen Restfunktionen angepasst. Stattdessen werden diese Nutzer von ihren Rollstühlen in Fehlhaltungen „gezwungen“, die sich nach ihrem Krankheitsbild nicht notwendigerweise ergeben würden. Darüber hinaus verursacht diese als Dauerversorgung Folgeschäden oder hat diese bereits verursacht. Diese möglichen Folgen können bei einer unzureichenden Sitzanpassung entstehen:
- Fehlhaltung: Brustwirbelsäule (BWS) kyphotisch, Halswirbelsäule (HWS) in Hyperlordose und Translation, Hüften in Abduktion, Becken nach hinten gekippt, Druckverteilung auf die Oberschenkel fehlt, Schiefsitz zur alternierenden Entlastung des zu hohen Drucks auf das Gesäß
- Restfunktionen des Oberkörpers sind eingeschränkt: Armeinsatz bei gebeugtem Oberkörper deutlich eingeschränkt, Arme werden zum Abstützen eingesetzt und sind nicht frei für die Fortbewegung, Rumpfrotation und Kopfrotation sind durch kyphotische Haltung eingeschränkt
- mögliche Sitzdauer ist verkürzt: Schmerzen im Nacken durch die Kopfhaltung, Schmerzen im Gesäß durch Hauptbelastung im hinteren Gesäßbereich, Schmerzen der Wirbelsäule durch Beugedruck auf alle Wirbelgelenke, Einschränkung der Atmung durch gekrümmte Sitzhaltung
- selbstständige Antriebsfähigkeit ist eingeschränkt: Weitere Informationen im Abschnitt „Restfunktion des Oberkörpers eingeschränkt“ – zusätzlich unergonomische Position der Arme zum Rad
Bei dieser Anpassung in Abbildung 4a ist die Sitzfläche parallel zum Boden, die Rückenlehne zu hoch und zu steil eingestellt. Der Körper muss sich gegen so eine Einstellung mit viel Kraft aufrichten. Anhand der Faltenbildung des Pullovers ist deutlich eine entsprechende Kyphosierung der gesamten BWS zu sehen sowie in der Folge die Translation des Kopfes nach vorn. Der Oberkörper verkürzt sich relativ zu den Armlehnen, wodurch die auf den Armlehnen aufliegenden Arme die Schultern nach oben drücken. Auch der Greifbereich des Greifreifens ist auf diese Weise relativ zum Körper nach oben verschoben und wird so das Antreiben nur durch weiteres Hochziehen der Schultern ermöglichen. Es ist davon auszugehen, so die Erfahrung der Autorin, dass, sobald die Arme die Armlehnen zwecks Antreibens verlassen, der Oberkörper nur mit viel Muskelarbeit in eine aufrechte Position gebracht werden kann.
In der Abbildung 4b ist die Fußraste zu lang eingestellt. Erkennbar ist diese Fehleinstellung am fehlenden Fersenkontakt mit der Fußraste. Konsekutiv erhält der Oberkörper keine Abstützung durch eine adäquate Beinauflage, sondern das Becken wird über den Oberschenkel aus dem Sitz gehebelt. Die daraus folgende Kyphosierung hat man versucht aufzuhalten, indem der Rückwinkel geöffnet wurde. Er steht nun zur Sitzfläche in einem Winkel über 90°. Das gibt dem Becken zu viel Freiheit, um nach hinten zu kippen und der Entwicklung der im Bild sichtbaren Kyphosierung ungehemmt Vorschub zu leisten. Deutliches Indiz dafür, dass die bereits sichtbare Kyphose noch nicht an ihrem Entwicklungsende angekommen ist, sind die auf den Knien abgelegten Hände. Sie nutzen einen längeren Hebel zur Aufrichtung des Oberkörpers, als es beim Abstützen der Ellenbogen auf den Armlehnen der Fall wäre. Auch hier würde der Einsatz der Arme zum Antreiben des Rollstuhls eine hohe Muskelarbeit zur Aufrichtung des Rumpfes notwendig machen. Man erkennt, dass die HWS auf die Kyphosierung der BWS mit Gegenschwung reagiert, um die Blickachse wieder zu heben.
Beim Beispiel in Abbildung 4c ist die Sitztiefe zu kurz und die Fußraste ist ein wenig zu hoch eingestellt. Letzteres gibt dem Becken einen sehr guten Drehimpuls nach hinten, der in Zusammenarbeit mit der Rückenlehne eine recht gute Aufrichtung für die Wirbelsäule erreicht. Man sieht diese Aufrichtung an der annähernd gesunden Haltung der HWS. Aber die zu kurze Sitztiefe und ein fehlendes Kissen zum Lückenschluss unter den Oberschenkeln (siehe im weiteren Textverlauf) lassen die Beine ohne Führung. Sie fallen nach außen. Auf die Dauer führt der dadurch entstehende Kontakt zwischen Oberschenkel und Seitenteil sowie zwischen Unterschenkel und Fußraste zu Schmerzen und sogar Druckstellen. Durch die Position der Unterschenkel stehen beide Knöchel in Valgusstellung. Die Fußrasten biegen sich unter dem zu hohen Druck der Beine nach unten. Was an dieser Stelle sichtbar an Druck auf den Fußrasten lastet, fehlt physikalisch an Druckverteilung im Gesäßbereich. Der Sitzdruck dieses Patienten lastet somit fast ausschließlich auf den Tubern. Solche Fehlanpassungen sind nicht nur bei Versorgungen mit Leichtgewicht- und Standardstühlen zu finden. Es gibt sie auch bei Aktivrollstuhlversorgungen; vom Kindesalter bis zur Geriatrie 3.
Wie eine adäquate Rollstuhlanpassung aussehen könnte und welche allgemein positiven Auswirkungen sie hat, wird im Folgenden aufgeführt. Die Abbildungen 5a und b zeigen ergonomische und orthopädisch-adäquate Rollstuhlanpassungen hinsichtlich Modellwahl, Abmessungen und Aufrichtung.
- Die Bewegungsachsen von Schulter, Ellenbogen und Hand sind in eine ergonomisch nutzbare Position zum Antriebsrad gebracht, welche den krankheitsbildspezifischen Restfunktionen entspricht. Nur so kann die Armkraft effizient auf die Greifreifen übertragen werden.
- Körperschwerpunkt und Drehpunkt des Stuhls sind den Restfunktionen entsprechend zueinander gebracht, um den Rollstuhl wendig zu halten und den Rollwiderstand zu minimieren.
- Der Körper ist in eine orthopädisch so gesunde Position wie möglich aufgerichtet, die aber gleichzeitig den Halteapparat sowie die Restfunktionen des Nutzers nicht überfordert.
In der Abbildung 5a kann man am Verlauf der Hemdfalten eine Kyphosierung der BWS erkennen. Diese ist für einen Tetraplegiker leider in Kauf zu nehmen, da er keine stabilisierende Rumpfmuskulatur zur Verfügung hat. Entscheidend für das Maß an „Gesundheit“ dieser Sitzhaltung ist die HWS, die bei diesem Rollstuhlnutzer normal aufgerichtet ist und so die volle Kopfbeweglichkeit ermöglicht. Das Gewicht der Arme, das sich beim Antreiben immer zusätzlich an den Rumpf hängt, fällt durch die gute Aufrichtung des Nutzers neutral (also nicht BWS-kollabierend) aus. Dies ermöglicht ihm die Aufrechterhaltung der passiven Aufrichtung des Oberkörpers. Die Beine haben eine gute Führung und die Sitzbreite ist so eng wie möglich gewählt, was die Fahrergonomie unterstützt. Auf die den Greifbereich störenden Armlehnen wurde verzichtet. Die Fingerspitzen reichen bei hängenden Armen über die Radnabe. Das heißt, der Hand-Rad-Abstand ist korrekt gewählt für eine optimale Kraftausnutzung.
Auf der Abbildung 5b wiederholen sich die soeben aufgeführten Aspekte einer guten Anpassung. Entsprechend der Lähmungshöhe mit voll erhaltener Rumpfmuskulatur ist keine Kyphosierung zu sehen und die Rückenlehne deutlich niedriger, um dem Oberkörper Bewegungsfreiheit für Aufrichtung, Neigung und Rotation zu geben. Zusätzlich kann man in der seitlichen Aufnahme gut erkennen, dass sich die Achse der Antriebsräder und damit der Dreh- und Kipppunkt des Stuhls nah am Körperschwerpunkt befinden. Dies entspricht einem effizienten Fahrverhalten des Stuhls 4. Die bei einer adäquaten Rollstuhlanpassung gewählte Sitzposition muss einem Körper zum einen Stabilität verleihen, denn nur aus der Stabilität des Oberkörpers heraus kann die Kraft aus den Armen entwickelt werden, um den Rollstuhl anzutreiben 5. Zum anderen muss die Sitzposition eine Mobilität des Oberkörpers nach vorne und hinten ermöglichen, die wiederum den Restfunktionen des Nutzers entsprechen sollte. Damit wird gewährleistet, dass dieser auf verschiedene Phasen oder auf Zwischenfälle beim Antreiben des Rollstuhls reagieren kann (z. B.: Veränderung der Kippneigung bei Steigungen und Hindernissen, erster Antriebsschub nach Stillstand, Verlagerung des Oberkörpers beim Bremsen oder beim Rückwärtsfahren). Das Sitzkissen ist dasjenige Element bei der Rollstuhlversorgung, das das Einnehmen einer solchen Sitzposition überhaupt erst ermöglicht und den Körper zudem bei der dynamischen Nutzung des Rollstuhls an dieser Stelle hält. Da die dynamische Nutzung des Rollstuhls eine Grundbedingung für die selbstständige Fortbewegung und Mobilität ist, soll dieser Punkt im Folgenden vertiefend betrachtet werden.
„Antriebsmotor Mensch“
Zur Sicherung einer selbstständigen Fortbewegung im Rollstuhl müssen zunächst die Antriebsart und der Schwerpunkt zur individuellen Antriebsfähigkeit passen (Armeinsatz, Fußeinsatz, Balancefähigkeit, Reaktionsfähigkeit). Darüber hinaus müssen die Positionen des menschlichen „Motors“, die Achse des Antriebsrades und die Höhe der Greifreifen in ergonomisch nutzbare Relationen gebracht werden. Die Position des Körpers ist dabei unter Beachtung der Anatomie und der Art der Behinderung für jeden Nutzer eines Rollstuhls sehr individuell. Wurde die optimale Position gefunden, gilt es – unter Ausnutzung von im nächsten Schritt nun zu schaffenden Druckpunkten und richtig gesetzten Hebeln – die Wirbelsäule aufzurichten. Dabei entstehen jedoch besondere Drücke im Gesäßbereich, die ein entsprechendes, von Form und Material geeignetes Sitzkissen auffangen muss. Darüber hinaus muss das Sitzkissen diese optimale Position stabilisieren, indem es das Becken gegen Rutschen sichert (Abb. 6a‑c).
Der „Antriebsmotor Mensch“ basiert beim Antreiben des Rollstuhlrades auf einem komplexen Muskelzusammenspiel rund um drei Bewegungszentren: Schulter, Ellenbogen, Hand. Als hochbewegliches viertes Element wird auch noch der Oberkörper durch Seitneigung, Vorbeugen und Aufrichtung in die Kraftentwicklung mit einbezogen. All diese Faktoren beeinflussen über unterschiedliche Kraftentfaltungsmöglichkeiten und entstehende wirkende Hebelarme das letztendlich am Greifring ansetzende Drehmoment. Der gesunde Arm wird beim Antreiben von einem komplexen Zusammenspiel aller im Oberkörper befindlichen Muskeln bewegt – nicht nur der Armmuskulatur. Man spricht daher von Muskelketten. Für die Antreibebewegung kommen bei einem voll funktionsfähigen Oberkörper die Brust- und Schultermuskulatur, die Armbeuger und Strecker, die Pro- und Supinatioren der Hand und die Fingermuskulatur zum Einsatz sowie die Rücken- und Bauchmuskulatur 6 7 8.
Je nach Relation des Oberkörpers zum Antriebsrad werden bestimmte Muskeln in der Kette betont, andere abgeschwächt. So arbeitet der gesunde Arm, wenn er in eine ergonomisch sinnvolle Position zum Antriebsrad gebracht wird, für die Entwicklung des Hauptschubes tendenziell trizepsbetont, also unter Einsatz einer starken Armstreckung. Je weiter der Nutzer vor der Antriebsradachse sitzt, desto mehr wird der Hauptschub vom Bizeps generiert. Je weiter er hinter der Achse sitzt, desto mehr werden Schulter‑, Brust- und Bauchmuskulatur aktiviert. Diese Verlagerung kann man besonders gut beim Rennrollstuhl beobachten 9 10.
Antreiben mit „unvollständiger“ Muskulatur
Einem Menschen mit Behinderung stehen oftmals die kompletten Muskelketten nicht mehr zur Verfügung. Das bedeutet, dass die ökonomisch beste Position für das Antreiben nun von den jeweiligen Restfunktionen bestimmt wird. Wird dies nicht beachtet, kann das die Mobilität des Rollstuhlnutzers beeinträchtigen. Bei Multipler Sklerose und Spastik liegen zum Beispiel neben Muskelschwäche zusätzlich Koordinierungsschwierigkeiten innerhalb der Muskelkette vor. Bei Muskeldystrophien schwindet die Kraft der gesamten Kette. Es kommt zu Kompensationsbewegungen im Rumpf, um den Rollstuhl weiter antreiben zu können, solange dies dem Patienten noch möglich ist. Einem Tetraplegiker hingegen fehlen in der Kette ganze Muskelgruppen im Arm sowie die gesamte Rumpfmuskulatur. Bei hoher Paraplegie sind die Arme intakt, aber der gesamte Rumpf, als stabile Basis für die effektive Nutzung dieser Armkraft, fehlt.
Für jedes Behinderungsbild ist daher die ideale ergonomische Position zum Antriebsrad eine andere und muss individuell aufgefunden werden. Kann eine zum Antreiben ideale Sitzposition nicht gehalten werden, verlässt der Körper den für ihn ergonomisch effizienten Bereich über dem Rad. Damit verliert zwangsläufig die Muskelkette ihre beste Arbeitsposition und somit der Nutzer einen Großteil seiner Mobilität. Abweichungen von nur 2 bis 4 cm von der individuellen Ideal-Position entscheiden im Extremfall vollständig über Umfang und Zeit einer selbstständigen Fortbewegung. Die ergonomisch ideale Position ist sowohl in der Höhe des Körpers zum Antriebsrad als auch im horizontalen Abstand zur Radachse korrekt zu wählen. Die Achsverstellung des Antriebsrades des Rollstuhls reicht nicht aus, um diese Position zu erreichen. Sie kann nur der Grobeinstellung dienen, denn die Hoheit darüber, ob diese Position auch dauerhaft gehalten werden kann, hat fast ausschließlich das Sitzkissen.
Funktion des Sitzkissens beim Halten der Sitzposition in der Frontal- und Sagittalebene
Das Verlassen der geeigneten Sitzposition kann sowohl vom Becken eingeleitet werden als auch vom Oberkörper.
Vom Oberkörper
Ist der Oberkörper nicht geeignet ausbalanciert und/oder werden Drücke gegen die Rückenlehne nicht abgefangen, wird dieser nach vorne kollabieren. Durch das Kollabieren kommt es zum einen zu einer für die Fahreigenschaften ungünstigen Schwerpunktverlagerung vor den Kipppunkt des Stuhls. Zum anderen werden durch die Vorneigung zusätzlich die Schultern in eine ungeeignete Position zum Antriebsrad gebracht. Dasselbe gilt für eine Seitneigung des Rumpfes, was eine Lateralverschiebung der Armkraft zur Folge hat sowie eine zwangsläufige Kyphosierung der BWS (durch die Bandverbindungen der Facettengelenke 11 mit den bereits beschriebenen Folgen für Schwerpunkt und Schulterposition).
Vom Becken
Bei einem vom Becken eingeleiteten Verlassen der Sitzposition handelt es sich um die nicht aufgehaltene, dem angelehnten Sitzen immanente Rutschtendenz des Beckens nach vorne. Diese geschieht meist als Kompensation einer vom Nutzer nicht haltbaren, zu aktiven Sitzposition oder anderer Anpassungsfehler z. B. im Sitzgefälle oder in der Rückenlehneneinstellung (Winkel/Höhe/Form). Beiden Auslösemechanismen für das Zusammensinken des Oberkörpers – sowohl vom Oberkörper als auch vom Becken eingeleitet – kann mit dem Einsatz eines geeigneten Sitzkissens begegnet werden.
Dies gelingt folgendermaßen: Sitzt ein Körper auf einer waagerechten Unterlage in 90°-Hüftbeugung und 90-Kniewinkel, beginnt er in wenigen Sekunden nach vorne zusammenzusinken. Das liegt daran, dass in dieser Position alle der Wirbelsäule anhängenden Gewichte (Gesichtsschädel, Arme, Brust, Brustkorb) vor dem funktionellen Drehpunkt der Wirbelsäule liegen. Das Lot dieser Gewichte wirkt über die Wirbelsäule am langen Hebel auf das Becken und dreht dieses nahezu widerstandslos nach hinten. Der Körper sackt infolge zusammen. Kein Sitzkissen und keine Lordosestütze können diese Wirkung des Oberkörpergewichts auf das Becken aufhalten und den Körper in dieser Position aufgerichtet halten. Allerdings ist nach Ansicht der Autorin der Einsatz einer Begurtung an dieser Stelle verfrüht und inakzeptabel.
Um diese wirkenden Gewichte zu neutralisieren, muss als erste Maßnahme einer Rollstuhlanpassung das Ausbalancieren dieser von oben auf das Becken wirkenden Gewichte erreicht werden. Das Ziel dieses ersten Anpassungsschrittes ist, ein labiles Gleichgewicht zu schaffen. Dies geschieht durch eine leichte Kippung der gesamten Sitzeinheit nach hinten. Daran anschließend wird über die Beine ein Impuls auf das Becken gegeben, der dieses in Richtung Rückenlehne dreht. Dies geschieht über die Anhebung der Fußrasten, bis die Kniegelenke leicht über den Hüftgelenken stehen (Abb. 7a‑c). Die Drehung des Beckens nach hinten lässt den Oberkörper konsekutiv in diese Richtung folgen, wo dieser nun auf die Rückenlehne trifft. Der so geschaffene Druckpunkt des Oberkörpers gegen die Rückenlehne wird mittels einer anpassbaren Rückenbespannung aufgefangen und unter Ausnutzung biomechanischer Hebelwirkungen durch Rückenhöhe und Rückenwinkel in eine Aufrichtung umgeleitet. Nach diesen beiden Maßnahmen sitzt der Nutzer aufgerichtet. Er ist in der Lage, seine Arme zwecks Fortbewegung am Greifring einzusetzen, seinen Rumpf zu drehen, sich anzulehnen und er kann sich bei Bedarf mit wenig Kraftaufwand nach vorne neigen, da er nicht zu stark gegen die Rückenlehne gepresst wird.
Durch das Hochstellen der Beine wird jedoch eine Lücke zwischen Oberschenkel und Sitzfläche geschaffen und somit der Druck hin zu den Sitzbeinen (Tuber Ischii) verlagert. Zudem wurde das Oberkörpergewicht durch die Aufrichtung senkrechter über die Tuber Ischii gebracht als zuvor und damit der Druck auf diese abermals erhöht. Das heißt, der Nutzer ist in dieser Position stärker dekubitusgefährdet als in der Ausgangsposition. Ohne eine Druckverteilung kann der Nutzer diese Sitzposition nicht einnehmen. Das Sitzkissen muss die Lücke unter den Oberschenkeln schließen, um Gewicht aufzunehmen und den Druck auf die Sitzbeine wieder zu reduzieren.
Um diese Lücke schließen zu können, muss das Kissen anatomisch angeformt sein, insofern als die vordere Kissenhälfte 2 – 3 cm höher ist als die hintere. Der Gesäßbereich wird somit gegenüber den Beinen in eine vorgeformte Mulde abgesenkt. Das gewählte Kissenmaterial sollte unter den Tubern den individuell notwendigen Dekubitusschutz bieten; gegebenenfalls auch mit Hybridtechnik (Abb. 8a‑c).
Weiterhin besteht aber auch noch die Rutschtendenz des Beckens, die dem angelehnten Sitzen immanent ist, ungehindert fort. Da durch die oben beschriebenen Anpassungsschritte der Körper auf eine gewisse Weise zwischen Sitzfläche und Rückenlehne aufgespannt wurde, hat sich diese gegenüber der Ausgangsposition (Abb. 8a‑c) noch verstärkt. Ohne eine Maßnahme zur Rutschhemmung wird der Nutzer die Sitzposition nicht halten können. Diese Rutschtendenz kann wiederum durch ein vorne erhöhtes Sitzkissen effektiv abgefangen werden. Mit einem Standardkissen, wie in der Versorgung von Geriatrie- und Multiple-Sklerose-Patienten oftmals üblich, wird dies nicht erreicht. Nebenbei bemerkt, kann auch der mit dem jeweiligen Material des Sitzkissens angestrebte Dekubitusschutz erst dann zu 100% wirken, wenn Scher- und Reibungskräfte durch die Aufhebung der Rutschtendenz des Beckens beseitigt sind.
Fazit
Erst durch ein geeignetes Sitzkissen kann eine orthopädisch-gesunde Aufrichtung des sitzenden Körpers erreicht werden, ohne ein gesteigertes Dekubitusrisiko und/oder einen Schmerz zu provozieren. Die aufrechte Position dient dem langfristigen Gesund- und Funktionserhalt des Skeletts. Das Sitzkissen sollte dazu anatomisch vorgeformt sein oder die gewählten Materialien sollten eine entsprechende Formung durch den Körper zulassen.
Die korrekte Position des Oberkörpers zum Antriebsrad ist essenziell für die Antreibefähigkeit des Nutzers eines Rollstuhls. Dabei ermöglichen eine hinreichende Stabilität des Oberkörpers die Kraftentfaltung und die Position des Oberkörpers die Effizienz der Kraftaufbringung auf das Rad. Das Halten dieser Position ermöglicht wiederum das Sitzkissen durch die Aufrichtung und die Eliminierung der immer vorhandenen Rutschtendenz des Beckens. Ein Sitzkissen ist somit nicht nur ein Mittel zur Dekubitusprophylaxe und kein subsidiäres Beiwerk einer Rollstuhlanpassung. Es stellt nach Ansicht der Autorin vielmehr ein zentrales Element zur Gesunderhaltung und Mobilitätssicherung nach orthopädischen, ergonomischen und kraftökonomischen Gesichtspunkten dar.
Die Autorin:
Nina Sörensen, Dortmund
Physiotherapeutin mit Spezialisierung
auf Querschnittlähmung
seit 2002 tätig in der Rollstuhlanpassung
seit 2005 Referentin für div. Themen
rund um Rollstuhlversorgung
nina.soerensen@web.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Sörensen N. Ist ein Sitzkissen nur Dekubitusprophylaxe? Orthopädie Technik, 2021; 72 (9): 50–57
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
- Lang F: Dekubitus: Entstehung und Behandlungsprinzipien. https://www.hartmann.info/de-de/wissen-undnews/a/6/dekubitus-entstehung-und-behandlungsprinzipien (Zugriff 03.08.2021)
- GKV-Hilfsmittelverzeichnis Produktgruppe 11. Hilfsmittel gegen Dekubitus. https://www.rehadat-gkv.de/produkt/index.html?pgnr=11 (Zugriff am 20.07.21)
- Hörstmeier R, Klemme B. Viele Rollstühle: Statt Hilfe – zusätzliche Behinderung. Erste Forschungsergebnisse zum Rollstuhlkomfort. Pressemitteilung der Fachhochschule Bielefeld, 2008 https://www.fh-bielefeld.de/presse/archiv/ingenieurwissenschaften-mathematik/viele-rollstuehle-statt-hilfe-e2-80–93-zusaetzliche-behinderung (Zugriff am 03.08.2021)
- Hörstmeier R, Lenz A. Energiebetrachtungen in der Hilfsmittel Forschung – Qualität in der Rollstuhlversorgung durch das KfB-Energiecluster für manuelle Rollstühle“. Praxis Ergotherapie. 2011; Jg. 24 (4)8. Seite 184–188.
- Engström B. Ergonomie – Sitzen im Rollstuhl. Analyse, Verständnis und Eigenerfahrung. Köln: Posturalis Books, 2001 Kap. Schäden durch Hilfsmittel S. 95 ff.; Kap.9 S. 189 ff und Kap11. S. 223 ff
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- Tittel K. Beschreibende und funktionelle Anatomie. 16. überarbeitete und erweiterte Auflage, München: Kiener Verlag, 2016, Kap.8, 9 und 10
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