Fast 20 Vorträge fasste das hochkarätige Programm, das immer wieder während oder im Anschluss der Beiträge Raum zum interdisziplinären Dialog ließ. Den Gedanken der „Versorgung aus einer Hand“ stellte bereits Prof. Dr. med. Tobias Renkawitz, Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik in Heidelberg, bei seiner Begrüßung in den Vordergrund: „Die konservative Orthopädie ist fest in die Klinik integriert. Wir leben täglich den Campus-Gedanken an einem Standort.“ Der jüngst zum neuen Vorsitzenden der ISPO Deutschland gewählte Michael Schäfer bedauerte, aus terminlichen Gründen nicht persönlich am Kongress teilnehmen zu können, lobte jedoch per Video-Grußbotschaft die wissenschaftliche Leitung der Veranstaltung um seinen Vorgänger Prof. Greitemann und die beiden Vorstandsmitglieder Dipl.-Ing. (FH) Merkur Alimusaj und Dipl.-Ing. (FH) Daniel Heitzmann, dass sich diese dem wichtigen Thema der Gang- und Bewegungsanalyse zugewandt und in den inhaltlichen Mittelpunkt gestellt hätten.
Keynote liefert „Blick von außen“
Geschickt gewählt waren mit Christopher Coenen und Martina Baumann die Protagonisten der Keynote „Nutzerpartizipation in der Pro- und Orthetik“, die zu Beginn eine „Außenperspektive“ auf die Versorgungslage in Deutschland einnahmen. So hätte etwa eine Umfrage des Instituts für Technikfolgeabschätzung und Systemanalyse (ITAS) unter 150 Prothesenträger:innen ergeben, dass rund ein Viertel von ihnen erst nach Widerspruch gegen eine Ablehnung der Bewilligung durch die Krankenkassen die Erstattung der Kosten bewilligt bekommen habe. Sozialgesellschaftlich gebe es in Deutschland derzeit kaum eine tiefergehende Diskussion darüber, was denn Gesundheit kosten dürfe. Beim konkreten Bezug auf eine prothetische Hilfsmittelversorgung stünden sich in der Wahrnehmung außerdem die Positionen der „Early Adopter“ der zur Verfügung stehenden Technologien und eine laut der Referent:innen „Abwertung von nicht-technisierter sowie behinderter Körperlichkeit“ gegenüber. Insgesamt eine spannende Annährung an den Versorgungskontext auf Metaebene.
Bis zur Mittagspause bekamen die Kongressteilnehmer:innen dann nacheinander von Prof. Dr. rer. nat Harald Böhm, Prof. Greitemann und Dr. med. Stefan Middeldorf die Anwendungsbereiche, Möglichkeiten und Verfahren einer Ganganalyse demonstriert. Dabei gelang es den Referenten, ihr ausgeprägtes Fachwissen nicht rein theoretisch auszubreiten, sondern auf die Praxis zu übertragen und so das Publikum in Heidelberg zur Interaktion anzuregen. Am Ende des Vortragsblocks hielt Dr. Middeldorf als Fazit fest: „Der Einsatz der Ganganalyse verbessert die Behandlungsergebnisse.“
Möglichkeiten der markerlosen Messung
Die Ergänzung „step-by-step“ im Beitragstitel „Gait analysis in P&O” war bei Prof. Dr. Han Houdijk von elementarer Bedeutung. Der Wissenschaftler und Physiotherapeut setzt zur Stabilisierung des Gangbilds seiner Patient:innen nach einer Amputation u. a. einen besonderen Fokus auf die Verbesserung der Gehgeschwindigkeit. Mit vermeintlich simplen, wenngleich effizienten Methoden ermittelt er dabei zunächst die dynamischen Potentiale. Prof. Dr. Steffen Willwacher setzt die Bewegungsanalyse dagegen im Hochleistungsumfeld sowohl zur Vorbeugung von Verletzungen als auch zur Leistungssteigerung von olympischen und paralympischen Athlet:innen ein. Der Sportwissenschaftler präsentierte im Rahmen des ISPO-Kongresses verschiedene Beispiele aus dem Stabhoch- oder auch Weitsprung, die sich mit einer Optimierung der Energiebilanz auseinandersetzen. Dank der Technik einer markerlosen Messung sei es mittlerweile möglich, authentischere – und auch schnellere – Ergebnisse unter „Laborbedingungen“ zu erzielen.
Für Dr. med. Marco Götze ist die Ganganalyse auch in seinem Fachgebiet der Neuroorthopädie unabdingbar. Seines Erachtens ergeben sich durch einen Einsatz nachweislich Vorteile bei der Therapieplanung, der Steuerung von Behandlungsverläufen bis hin zu deren Ergebnissen. Ebenso komme es zu einer Reduzierung von Operationen. Dass die (experimentelle) Bewegungsanalyse auch in der Armprothetik von Relevanz sein kann, demonstrierte Dr. Eike Jakubowitz anhand des Forschungsprojekts „SoftPro“, dessen motorgesteuerte Handprothese in der Lage ist, alle Finger gleichzeitig und intuitiv zu steuern. Fast von Science-Slam-Charakter war der durch plakative Präsentations-Charts aufgelockerte Vortrag von Co-Gastgeber Alimusaj zum Mosaikstein der Bewegungsanalytik bei der Evaluierung von Versorgungsfortschritten. Anhand eines Patienten mit Fußheberschwäche arbeitete er unter Zuhilfenahme der Ganganalyse die Vorteile einer individualisierten Orthese gegenüber einem konfektionierten Hilfsmittel heraus. Insbesondere im Bereich der Kinetik führe aktuell einzig die instrumentelle Ganganalyse zu validen Ergebnissen.
Muskuloskelletale Simulation
Legten die Beiträge im Mittagsblock ihr Augenmerk verstärkt auf eine Verbesserung des Gangbilds, so setzte Dr. Cleveland Barnett nach der Kaffeepause einen Schritt eher an. Der Brite gab seine Expertise bei der Rehabilitation nach Amputationen der unteren Extremität an das Auditorium weiter und erläuterte die Bedeutung der Fähigkeit der Balance beim Stehen. Ebenfalls mit großer Neugier verfolgte das Publikum anschließend die Präsentation von Maximilian Melzner zu „Biomechanik und muskuloskelettaler Simulation“. „Wir sind mit unseren Vorhersagen mittels einer Vorwärtssimulation teilweise 5 bis 10 Prozent vom Goldstandard der Kraftmessplatte entfernt“, ordnete Melzner den aktuellen technologischen Fortschritt in diesem Bereich ein. Der letzte Vortrag eines abwechslungsreichen Kongress-
tages war schließlich Daniel Heitzmann vorbehalten, der sich mit dem Parameter der Balancefähigkeit bei Menschen mit einer Amputation der unteren Extremität auseinandersetzte. Das von ihm dargestellte Konzept der „Balance Evaluation“ (Baleva) könne u. a. Dysbalancen erkennen sowie als Trainingswerkzeug eingesetzt werden und die Gehqualität einer Prothese bemessen. Gleichzeitig stellte er heraus, dass „Baleva“ noch Optimierungspotential besitze, etwa beim Monitoring der Gleichgewichtskontrolle.
Der bereits am ersten Veranstaltungstag gelebte Dialog zwischen Referent:innen und Auditorium nahm im Workshop-Format am Freitag noch weiter an Fahrt auf. Zum Auftakt berichteten Dipl.-Ing. (FH) Julia Block und Daniel Heitzmann per Videoschalte live aus dem Ganglabor des Heidelberger Klinikums. Das Duo lieferte kurzweilig, aber gleichsam fundiert Einblicke in standardisierte Testverfahren, wie etwa den „Heidelberger Obstacle Trail“ (HOT), bei der Zustandserhebung von Patient:innen. Spannend war im Zuge dessen auch eine Folgediskussion über die Referenz zu Normwerten. So kam die Frage auf: „Was ist normal?“ Unter den Teilnehmer:innen herrschte weitestgehend Einigkeit darüber, dass bei der Ergebnisfindung stets variable Merkmale und die individuelle Konstitution der Patient:innen zur Geltung kommen müssten.
Workshops finden Anklang
Ein Highlight der Workshops war sicherlich die Vorstellung der Patientenfälle aus der Klinik Münsterland in Bad Rothenfelde, wo Prof. Greitemann zusammen mit Orthopädietechniker Wolfram Wohlhüter und Physiotherapeutin Helga Kaiser interdisziplinär die klinischen Ganganalysen auswertet. Auf die eingangs zitierte Frage: „Was sehen Sie?“ gab es jeweils zahlreiche Rückmeldungen, so dass sich tatsächlich so etwas wie eine Vorlesungs- bzw. Seminar-Atmosphäre einstellte.
Ähnlich „lebhaft“ ging es auch bei Dr. Christian Werner zu, der im geriatrischen Umfeld den Einsatz sensorbasierter Messungen dazu nutzt, um Erfolge in der Reha besser nachweisen zu können. Dr. Sonia D‘Souza und Sportwissenschaftler Matthias Hartmann lotsten die Aufmerksamkeit der Anwesenden in ihren jeweiligen Beiträgen in den Versorgungsbereich von Kindern und Jugendlichen, während Prof. Houdijk noch die Anwendung der klinischen Ganganalyse in den Niederlanden vorstellte.
Dinner-Speech
Welch signifikante Bedeutung die Bewegungsanalyse insbesondere auch für die Orthopädie-Technik darstellt, zeigten nicht nur die beiden regulären Veranstaltungstage des Kongresses, sondern war darüber hinaus zentraler inhaltlicher Bestandteil der „Dinner-Speech“ von Dr. Margit Meier im Rahmen des Kollegentreffs im Heidelberger Qube Hotel. Meier sprach sich sowohl für eine verstärkte Zuwendung der bereits von Prof. Willwacher vorgestellten markerlosen Messsysteme als auch für den Ausbau einer „Wissensbibliothek“ im Fach zur Variabilität der Bewertungsinstrumente aus. Nach ihrer Ansicht fußt eine optimale orthopädietechnische Versorgung auf einem Dreiklang aus handwerklichem Können, einer professionellen Dokumentation sowie der Überprüfbarkeit der Wirkung der erfolgten Maßnahmen mit Blick auf das definierte Versorgungsziel.
Sowohl in der Vermittlung der „Basics“ als auch bei der Vorstellung ausgewählter Einsatzgebiete der Bewegungsanalyse haben die Organisatoren, die sich ausdrücklich bei den Sponsoren für die Möglichkeit der Realisierung des ISPO-Jahreskongresses in Heidelberg bedankten, in diesem Jahr ihre Expertise und Netzwerkqualitäten bewiesen. Geht es nach Michael Schäfer, ist es Anspruch und Aufgabe der ISPO Deutschland, zusätzlich zur Ausrichtung des Jahreskongresses verstärkt Online-Veranstaltungen zu realisieren, um so auch gerade die internationale Sichtbarkeit auszubauen. Für den interdisziplinären Austausch in der Technischen Orthopädie bleibt das Engagement der ISPO Deutschland von großer Bedeutung.
Michael Blatt
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