ISPO Deutsch­land: Dia­log der Disziplinen

„Was sehen Sie?“, fragte Prof. Dr. med. Bernhard Greitemann in das Auditorium der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg und die Teilnehmer:innen des Jahreskongresses der ISPO Deutschland e.V. spielten engagiert ihre Eindrücke zu den präsentierten Patientenvideos zurück an den Referenten. Am 2. und 3. Juni trafen sich Orthopädietechniker:innen, Ärzt:innen und Physiotherapeut:innen unter dem Titel „Bewegungsanalyse im Kontext der Technischen Orthopädie“ auf Einladung der hiesigen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Prothetik und Orthetik (ISPO) zum Fachaustausch auf Augenhöhe.

Fast 20 Vor­trä­ge fass­te das hoch­ka­rä­ti­ge Pro­gramm, das immer wie­der wäh­rend oder im Anschluss der Bei­trä­ge Raum zum inter­dis­zi­pli­nä­ren Dia­log ließ. Den Gedan­ken der „Ver­sor­gung aus einer Hand“ stell­te bereits Prof. Dr. med. Tobi­as Ren­ka­witz, Ärzt­li­cher Direk­tor der Ortho­pä­di­schen Uni­ver­si­täts­kli­nik in Hei­del­berg, bei sei­ner Begrü­ßung in den Vor­der­grund: „Die kon­ser­va­ti­ve Ortho­pä­die ist fest in die Kli­nik inte­griert. Wir leben täg­lich den Cam­pus-Gedan­ken an einem Stand­ort.“ Der jüngst zum neu­en Vor­sit­zen­den der ISPO Deutsch­land gewähl­te Micha­el Schä­fer bedau­er­te, aus ter­min­li­chen Grün­den nicht per­sön­lich am Kon­gress teil­neh­men zu kön­nen, lob­te jedoch per Video-Gruß­bot­schaft die wis­sen­schaft­li­che Lei­tung der Ver­an­stal­tung um sei­nen Vor­gän­ger Prof. Grei­temann und die bei­den Vor­stands­mit­glie­der Dipl.-Ing. (FH) Mer­kur Ali­mus­aj und Dipl.-Ing. (FH) Dani­el Heit­zmann, dass sich die­se dem wich­ti­gen The­ma der Gang- und Bewe­gungs­ana­ly­se zuge­wandt und in den inhalt­li­chen Mit­tel­punkt gestellt hätten.

Key­note lie­fert „Blick von außen“

Geschickt gewählt waren mit Chris­to­pher Coe­nen und Mar­ti­na Bau­mann die Prot­ago­nis­ten der Key­note „Nut­zer­par­ti­zi­pa­ti­on in der Pro- und Orthe­tik“, die zu Beginn eine „Außen­per­spek­ti­ve“ auf die Ver­sor­gungs­la­ge in Deutsch­land ein­nah­men. So hät­te etwa eine Umfra­ge des Insti­tuts für Tech­nik­fol­ge­ab­schät­zung und Sys­tem­ana­ly­se (ITAS) unter 150 Prothesenträger:innen erge­ben, dass rund ein Vier­tel von ihnen erst nach Wider­spruch gegen eine Ableh­nung der Bewil­li­gung durch die Kran­ken­kas­sen die Erstat­tung der Kos­ten bewil­ligt bekom­men habe. Sozi­al­ge­sell­schaft­lich gebe es in Deutsch­land der­zeit kaum eine tie­fer­ge­hen­de Dis­kus­si­on dar­über, was denn Gesund­heit kos­ten dür­fe. Beim kon­kre­ten Bezug auf eine pro­the­ti­sche Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung stün­den sich in der Wahr­neh­mung außer­dem die Posi­tio­nen der „Ear­ly Adop­ter“ der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Tech­no­lo­gien und eine laut der Referent:innen „Abwer­tung von nicht-tech­ni­sier­ter sowie behin­der­ter Kör­per­lich­keit“ gegen­über. Ins­ge­samt eine span­nen­de Annäh­rung an den Ver­sor­gungs­kon­text auf Metaebene.

Bis zur Mit­tags­pau­se beka­men die Kongressteil­nehmer:innen dann nach­ein­an­der von Prof. Dr. rer. nat Harald Böhm, Prof. Grei­temann und Dr. med. Ste­fan Mid­del­dorf die Anwen­dungs­be­rei­che, Mög­lich­kei­ten und Ver­fah­ren einer Gang­ana­ly­se demons­triert. Dabei gelang es den Refe­ren­ten, ihr aus­ge­präg­tes Fach­wis­sen nicht rein theo­re­tisch aus­zu­brei­ten, son­dern auf die Pra­xis zu über­tra­gen und so das Publi­kum in Hei­del­berg zur Inter­ak­ti­on anzu­re­gen. Am Ende des Vor­trags­blocks hielt Dr. Mid­del­dorf als Fazit fest: „Der Ein­satz der Gang­ana­ly­se ver­bes­sert die Behandlungsergebnisse.“

Mög­lich­kei­ten der mark­erlo­sen Messung

Die Ergän­zung „step-by-step“ im Bei­trags­ti­tel „Gait  ana­ly­sis in P&O” war bei Prof. Dr. Han Hou­di­jk von ele­men­ta­rer Bedeu­tung. Der Wis­sen­schaft­ler und Phy­sio­the­ra­peut setzt zur Sta­bi­li­sie­rung des Gang­bilds sei­ner Patient:innen nach einer Ampu­ta­ti­on u. a. einen beson­de­ren Fokus auf die Ver­bes­se­rung der Geh­ge­schwin­dig­keit. Mit ver­meint­lich simp­len, wenn­gleich effi­zi­en­ten Metho­den ermit­telt er dabei zunächst die dyna­mi­schen Poten­tia­le. Prof. Dr. Stef­fen Will­wa­cher setzt die Bewe­gungs­ana­ly­se dage­gen im Hoch­leis­tungs­um­feld sowohl zur Vor­beu­gung von Ver­let­zun­gen als auch zur Leis­tungs­stei­ge­rung von olym­pi­schen und para­lym­pi­schen Athlet:innen ein. Der Sport­wis­sen­schaft­ler prä­sen­tier­te im Rah­men des ISPO-Kon­gres­ses ver­schie­de­ne Bei­spie­le aus dem Stab­hoch- oder auch Weit­sprung, die sich mit einer Opti­mie­rung der Ener­gie­bi­lanz aus­ein­an­der­set­zen. Dank der Tech­nik einer mark­erlo­sen Mes­sung sei es mitt­ler­wei­le mög­lich, authen­ti­sche­re – und auch schnel­le­re – Ergeb­nis­se unter „Labor­be­din­gun­gen“ zu erzielen.

Für Dr. med. Mar­co Göt­ze ist die Gang­ana­ly­se auch in sei­nem Fach­ge­biet der Neu­ro­or­tho­pä­die unab­ding­bar. Sei­nes Erach­tens erge­ben sich durch einen Ein­satz nach­weis­lich Vor­tei­le bei der The­ra­pie­pla­nung, der Steue­rung von Behand­lungs­ver­läu­fen bis hin zu deren Ergeb­nis­sen. Eben­so kom­me es zu einer Redu­zie­rung von Ope­ra­tio­nen. Dass die (expe­ri­men­tel­le) Bewe­gungs­ana­ly­se auch in der Arm­pro­the­tik von Rele­vanz sein kann, demons­trier­te Dr. Eike Jaku­bo­witz anhand des For­schungs­pro­jekts „Soft­Pro“, des­sen motor­ge­steu­er­te Hand­pro­the­se in der Lage ist, alle Fin­ger gleich­zei­tig und intui­tiv zu steu­ern. Fast von Sci­ence-Slam-Cha­rak­ter war der durch pla­ka­ti­ve Prä­sen­ta­ti­ons-Charts auf­ge­lo­cker­te Vor­trag von Co-Gast­ge­ber Ali­mus­aj zum Mosa­ik­stein der Bewe­gungs­ana­ly­tik bei der Eva­lu­ie­rung von Ver­sor­gungs­fort­schrit­ten. Anhand eines Pati­en­ten mit Fuß­he­ber­schwä­che arbei­te­te er unter Zuhil­fe­nah­me der Gang­ana­ly­se die Vor­tei­le einer indi­vi­dua­li­sier­ten Orthe­se gegen­über einem kon­fek­tio­nier­ten Hilfs­mit­tel her­aus. Ins­be­son­de­re im Bereich der Kine­tik füh­re aktu­ell ein­zig die instru­men­tel­le Gang­ana­ly­se zu vali­den Ergebnissen.

Mus­ku­los­kel­le­ta­le Simulation

Leg­ten die Bei­trä­ge im Mit­tags­block ihr Augen­merk ver­stärkt auf eine Ver­bes­se­rung des Gang­bilds, so setz­te Dr. Cleve­land Bar­nett nach der Kaf­fee­pau­se einen Schritt eher an. Der Bri­te gab sei­ne Exper­ti­se bei der Reha­bi­li­ta­ti­on nach Ampu­ta­tio­nen der unte­ren Extre­mi­tät an das Audi­to­ri­um wei­ter und erläu­ter­te die Bedeu­tung der Fähig­keit der Balan­ce beim Ste­hen. Eben­falls mit gro­ßer Neu­gier ver­folg­te das Publi­kum anschlie­ßend die Prä­sen­ta­ti­on von Maxi­mi­li­an Melz­ner zu „Bio­me­cha­nik und mus­ku­los­ke­letta­ler Simu­la­ti­on“. „Wir sind mit unse­ren Vor­her­sa­gen mit­tels einer Vor­wärts­si­mu­la­ti­on teil­wei­se 5 bis 10 Pro­zent vom Gold­stan­dard der Kraft­mess­plat­te ent­fernt“, ord­ne­te Melz­ner den aktu­el­len tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt in die­sem Bereich ein. Der letz­te Vor­trag eines abwechs­lungs­rei­chen Kongress-
tages war schließ­lich Dani­el Heit­zmann vor­be­hal­ten, der sich mit dem Para­me­ter der Balance­fä­hig­keit bei Men­schen mit einer Ampu­ta­ti­on der unte­ren Extre­mi­tät aus­ein­an­der­setz­te. Das von ihm dar­ge­stell­te Kon­zept der „Balan­ce Eva­lua­ti­on“ (Bale­va) kön­ne u. a. Dys­ba­lan­cen erken­nen sowie als Trai­nings­werk­zeug ein­ge­setzt wer­den und die Geh­qua­li­tät einer Pro­the­se bemes­sen. Gleich­zei­tig stell­te er her­aus, dass „Bale­va“ noch Opti­mie­rungs­po­ten­ti­al besit­ze, etwa beim Moni­to­ring der Gleichgewichtskontrolle.

Der bereits am ers­ten Ver­an­stal­tungs­tag geleb­te Dia­log zwi­schen Referent:innen und Audi­to­ri­um nahm im Work­shop-For­mat am Frei­tag noch wei­ter an Fahrt auf. Zum Auf­takt berich­te­ten Dipl.-Ing. (FH) Julia Block und Dani­el Heit­zmann per Video­schal­te live aus dem Gang­la­bor des Hei­del­ber­ger Kli­ni­kums. Das Duo lie­fer­te kurz­wei­lig, aber gleich­sam fun­diert Ein­bli­cke in stan­dar­di­sier­te Test­ver­fah­ren, wie etwa den „Hei­del­ber­ger Obs­ta­cle Trail“ (HOT), bei der Zustands­er­he­bung von Patient:innen. Span­nend war im Zuge des­sen auch eine Fol­ge­dis­kus­si­on über die Refe­renz zu Norm­wer­ten. So kam die Fra­ge auf: „Was ist nor­mal?“ Unter den Teilnehmer:innen herrsch­te wei­test­ge­hend Einig­keit dar­über, dass bei der Ergeb­nis­fin­dung stets varia­ble Merk­ma­le und die indi­vi­du­el­le Kon­sti­tu­ti­on der Patient:innen zur Gel­tung kom­men müssten.

Work­shops fin­den Anklang

Ein High­light der Work­shops war sicher­lich die Vor­stel­lung der Pati­en­ten­fäl­le aus der Kli­nik Müns­ter­land in Bad Rothen­fel­de, wo Prof. Grei­temann zusam­men mit Ortho­pä­die­tech­ni­ker Wolf­ram Wohl­hü­ter und Phy­sio­the­ra­peu­tin Hel­ga Kai­ser inter­dis­zi­pli­när die kli­ni­schen Gang­ana­ly­sen aus­wer­tet. Auf die ein­gangs zitier­te Fra­ge: „Was sehen Sie?“ gab es jeweils zahl­rei­che Rück­mel­dun­gen, so dass sich tat­säch­lich so etwas wie eine Vor­le­sungs- bzw. Semi­nar-Atmo­sphä­re einstellte.

Ähn­lich „leb­haft“ ging es auch bei Dr. Chris­ti­an Wer­ner zu, der im ger­ia­tri­schen Umfeld den Ein­satz sen­sor­ba­sier­ter Mes­sun­gen dazu nutzt, um Erfol­ge in der Reha bes­ser nach­wei­sen zu kön­nen. Dr. Sonia D‘Souza und Sport­wis­sen­schaft­ler Mat­thi­as Hart­mann lots­ten die Auf­merk­sam­keit der Anwe­sen­den in ihren jewei­li­gen Bei­trä­gen in den Ver­sor­gungs­be­reich von Kin­dern und Jugend­li­chen, wäh­rend Prof. Hou­di­jk noch die Anwen­dung der kli­ni­schen Gang­ana­ly­se in den Nie­der­lan­den vorstellte.

Din­ner-Speech

Welch signi­fi­kan­te Bedeu­tung die Bewe­gungs­ana­ly­se ins­be­son­de­re auch für die Ortho­pä­die-Tech­nik dar­stellt, zeig­ten nicht nur die bei­den regu­lä­ren Ver­an­stal­tungs­ta­ge des Kon­gres­ses, son­dern war dar­über hin­aus zen­tra­ler inhalt­li­cher Bestand­teil der „Din­ner-Speech“ von Dr. Mar­git Mei­er im Rah­men des Kol­le­gen­treffs im Hei­del­ber­ger Qube Hotel. Mei­er sprach sich sowohl für eine ver­stärk­te Zuwen­dung der bereits von Prof. Will­wa­cher vor­ge­stell­ten mark­erlo­sen Mess­sys­te­me als auch für den Aus­bau einer „Wis­sens­bi­blio­thek“ im Fach zur Varia­bi­li­tät der Bewer­tungs­in­stru­men­te aus. Nach ihrer Ansicht fußt eine opti­ma­le ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung auf einem Drei­klang aus hand­werk­li­chem Kön­nen, einer pro­fes­sio­nel­len Doku­men­ta­ti­on sowie der Über­prüf­bar­keit der Wir­kung der erfolg­ten Maß­nah­men mit Blick auf das defi­nier­te Versorgungsziel.

Sowohl in der Ver­mitt­lung der „Basics“ als auch bei der Vor­stel­lung aus­ge­wähl­ter Ein­satz­ge­bie­te der Bewe­gungs­ana­ly­se haben die Orga­ni­sa­to­ren, die sich aus­drück­lich bei den Spon­so­ren für die Mög­lich­keit der Rea­li­sie­rung des ISPO-Jah­res­kon­gres­ses in Hei­del­berg bedank­ten, in die­sem Jahr ihre Exper­ti­se und Netz­werk­qua­li­tä­ten bewie­sen. Geht es nach Micha­el Schä­fer, ist es Anspruch und Auf­ga­be der ISPO Deutsch­land, zusätz­lich zur Aus­rich­tung des Jah­res­kon­gres­ses ver­stärkt Online-Ver­an­stal­tun­gen zu rea­li­sie­ren, um so auch gera­de die inter­na­tio­na­le Sicht­bar­keit aus­zu­bau­en. Für den inter­dis­zi­pli­nä­ren Aus­tausch in der Tech­ni­schen Ortho­pä­die bleibt das Enga­ge­ment der ISPO Deutsch­land von gro­ßer Bedeutung.

Micha­el Blatt

 

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