Dabei begann am 1. Juli 2001 zunächst alles mit gerade einmal drei Mitarbeitern. Zwei Jahre zuvor war das isländische Unternehmen an die Börse gegangen, hatte die beiden Hersteller Century XXII und Flex-Foot Inc. übernommen und begründete damit maßgeblich die eigene Erfolgsgeschichte.
Um die Jahrtausendwende übernahm noch Medi aus Bayreuth den Vertrieb von Össur-Produkten in Deutschland, als die Zentrale im hohen Norden entschied, die Prothetik-Sparte fortan selbst zu vermarkten. Neben Alfred Zeller und Ulf Hensling gehörte Martin Penckwitt zu den ersten Mitarbeitern. Der ehemalige Außendienstmitarbeiter von Medi kannte sich nicht nur mit der seinerzeit noch überschaubaren Produktpalette der Isländer aus, sondern brachte eine für die damalige Situation bedeutsame Eigenschaft mit: Hemdsärmlichkeit! „Wir haben einfach erstmal losgelegt“, erinnert sich Penckwitt, der auch zwei Dekaden später noch zur Belegschaft gehört. Zunächst hieß es, einen logistisch geeigneten Standort in guter Erreichbarkeit zur Europa-Zentrale mit dem europäischen Vertrieb, Marketing und Warenlager im niederländischen Eindhoven zu finden. Die Wahl fiel auf ein Wohnhaus in Pulheim bei Köln, in das Martin Penckwitt kurzerhand gleich selbst einzog. 6 Monate nach der Anmietung gehörten noch eine Orthopädietechnikerin und eine Bürokraft zum örtlichen Personal. Der pragmatische Einstieg dauerte eineinhalb Jahre, bis eine neue Immobilie in Pulheim hermusste. „Wir hatten, verbunden mit unserem Wachstum, auch mehr Warenverkehr, der uns aus den Sanitätshäusern erreichte. Das gab dann zunehmend Probleme mit der Nachbarschaft“, schmunzelt Penckwitt. Zwar verschickte Össur alle neuen Produkte, darunter ab 2004 das wegweisende Rheo Knee, direkt von Eindhoven an die Betriebe, doch Rücksendungen und Reparaturen gingen zunächst nach Pulheim. Gleichzeitig wuchs das Team an Mitarbeitern stetig. 2004 zählte die deutsche Dependance schon 14 Mitarbeiter, darunter 6 Außendienstmitarbeiter unter der Vertriebsleitung von Martin Penckwitt.
Eine wegweisende Entscheidung der Führungsriege um CEO Jon Sigurdsson in Island war dann der globale Ausbau der Orthetik-Sparte. Da Penckwitt aus eigener Erfahrung wusste, wie man einen Vertrieb „von null aus“ angeht, fiel es seiner Person in neuer Funktion zu, ab 2007 auch den Geschäftsbereich Orthetik in Deutschland aufzubauen und sich unter anderem um den strategischen Eintritt in den Markt, die richtige Produktauswahl und die Bereitstellung der Marktvoraussetzungen zu bemühen. Der verstärkte Fokus auf die Versorgung von Patienten mit Kniearthrose mit Unterstützung der Unloader One-Knieorthese machte sich in jener Zeit auch hierzulande spürbar positiv bemerkbar. Das Marketing lief derweil noch weiter über die Kolleg:innen in Eindhoven. Im Übrigen sei es bis heute nie eine ernsthafte Überlegung gewesen, in Deutschland ein eigenes Warenlager zu eröffnen, da die Belieferung der Kunden stets zeitnah aus den Niederlanden erfolgen könne. Nichtsdestotrotz setzte das Unternehmen, seit 2009 vom aktuellen Standort in Frechen aus agierend, 2012 seine formale Professionalisierung mit der Gründung der Össur Deutschland GmbH fort. Drei Jahre später folgte die Etablierung der Össur Schweiz AG.
Wachstumsstrategien
Für nationales und internationales Aufsehen sorgten 2016 die Übernahmen von Medi Prosthetics in Deutschland und Touch Bionics in Großbritannien. „Össur verbindet sein organisches Wachstum mit zielgerichteten Akquisitionen, die zum einen der Steigerung von Marktanteilen, zum anderen der Ausweitung des Produktportfolios dienen“, skizzierte Jon Sigurdsson im Mai 2020 im Interview mit der OT die Unternehmensstrategie.
Die besondere Markt- und Konkurrenzsituation in Deutschland bringt es mit sich, dass Össur hier rund drei Viertel seiner Umsätze in der Prothetik verzeichnet und ein Viertel in der Orthetik. Zum Vergleich: Global beträgt das Verhältnis 59 % (Prothetik) zu 41 % (Orthetik). Das hat sich auch seit Beginn der Corona-Pandemie nicht grundlegend geändert. Selbstredend hat auch Össur mit erschwerten Bedingungen zu kämpfen, konnte sich aber im Bereich der internen Kommunikation aufgrund der bereits gegebenen internationalen digitalen Vernetzung schnell neu und weitestgehend kontaktlos organisieren. „Ich bin seit etwa einem Jahr nicht mehr hier gewesen“, stellt Tobias Schmidt anlässlich des Interviews zu 20 Jahren Össur in Deutschland in Frechen überrascht fest. Schmidt dockte 2012 beim Vertriebsaußendienst an und leitet seit 2019 den Vertrieb der Prothetik im Unternehmen. „In Summe ist Össur gut durch das letzte Jahr gekommen – auch was das Geschäft betrifft“, bilanziert er und Martin Penckwitt ergänzt: „Zu Beginn war die Situation schwierig, aber mit entsprechenden internen und externen Hygienekonzepten hat sich die Lage verbessert.“ Vertrieb und Technischer Service haben hybride Modelle entwickelt, mit denen die Kommunikation und Begegnungen vor Ort zum Teil von digitalen Möglichkeiten und Angeboten abgelöst worden sind.
Seite an Seite mit dem Handwerk
„Deutschland hat die Corona-Pandemie in der Gesundheitsversorgung bis hierhin gut gemeistert“, bestätigt Europa-Chef Dr. Axel Schulz. In anderen europäischen Ländern seien die Bereiche Orthetik und Prothetik deutlich stärker betroffen. „In Großbritannien fanden z. B. fast keine prothetischen Nachversorgungen mehr statt“, so Schulz. Dass sich die Situation in Deutschland nicht so extrem zugespitzt habe, sei auch auf das besondere Engagement des Handwerks zurückzuführen. Er rechnet ebenso wie Penckwitt und Schmidt damit, dass sich das eigene Geschäft nach Abklingen der Pandemie wieder stabilisieren und weiterhin wachsen werde. Auch deshalb hielt Össur zuletzt an seinen Umzugsplänen fest. Aus den anfangs drei Mitarbeitern sind mittlerweile knapp 110 Kolleg:innen in der D‑A-CH-Region geworden. Vor allem der Standort in Frechen „platzt aus allen Nähten“. Am neuen Standort in Köln werden dann bald nicht nur die Verwaltung und das Marketing für den Bereich Deutschland, Österreich und Schweiz ihren Sitz haben, sondern auch die Academy in neuen Seminarräumen, Räume und eine Freifläche für Anwendertrainings sowie eine moderne Werkstatt angedockt. Bei allem Wachstum und aller Veränderung im Vergleich zu der Anfangszeit legt Axel Schulz Wert darauf, dass sich die grundsätzliche Haltung der Belegschaft nicht verändert: „Hemdsärmelig bleiben und mit hochgeklapptem Visier gemeinsam mit unseren Kunden nach vorne gehen.“
Michael Blatt
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