Die Versorgungsrate für alle Hilfsmittel liegt bei 70,2 %; für komplexe Hilfsmittel zeigen sich deutlich geringere Versorgungsraten. Eine Ablehnung durch Kostenträger ist der häufigste Grund für das Nichtzustandekommen einer Versorgung – mit deutlichen Unterschieden bei Ablehnungsraten und ‑latenzen zwischen Kostenträgern und Hilfsmittelgruppen. Die hier vorgestellten Studien adressieren den hohen Bedarf an systematischen Versorgungsdaten und helfen, die symptomatische und palliative Behandlung der Amyotrophen Lateralsklerose zu optimieren.
Einleitung
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine neurodegenerative Erkrankung der Motoneurone, die durch eine fortschreitende Lähmung der Willkürmuskulatur einschließlich der Sprech‑, Schluck- und Atemmuskulatur sowie durch einen zunehmenden Verlust an motorischen Fähigkeiten charakterisiert ist. Die ALS ist eine unheilbare Erkrankung. Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland bis zu 8.000 Menschen an einer ALS erkrankt sind, wobei pro Jahr ca. 2 bis 3 neue Erkrankungen pro 100.000 Einwohner auftreten. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 67 Jahren, wobei auch deutlich jüngere und ältere Manifestationsalter auftreten können 1. Einer der prominentesten Erkrankten war der 2018 verstorbene Physiker Stephen Hawking.
Aufgrund der zunehmenden erkrankungsbedingten Einschränkungen entwickeln sich bei den Betroffenen im Erkrankungsverlauf zunehmende Bedürfnisse zum Erhalt der Selbstständigkeit, der Kommunikation sowie lebenswichtiger Funktionen wie Atmung und Ernährung, die unter anderem durch den Einsatz bestimmter Technologien abgedeckt werden. Neben Hilfsmitteln zum Erhalt der Mobilität können dies Hilfsmittel zur Sicherstellung der Kommunikation und der Atem- und Hustenfunktion sein (mechanische Hustenhilfen, Beatmungsgeräte). Die Hilfsmittelversorgung bei ALS hat einen hohen Stellenwert bei der Sicherstellung der Lebensqualität und der sozialen Teilhabe der Patienten 2 3 4 5 6. Aufgrund des fortschreitenden Charakters der Erkrankung ist die ALS eine beispielhafte Erkrankung für die Versorgung mit Hilfsmitteln und den Einsatz von Technologien zur Kompensation krankheitsbedingter Defizite. Die komplexe Hilfsmittelversorgung bei ALS ist von verschiedenen Faktoren wie dem Genehmigungsverhalten der Kostenträger, den persönlichen Ressourcen der Betroffenen, den psychosozialen Bedingungen und den unterschiedlichen technischen Eigenschaften der Hilfsmittel geprägt. Untersuchungen in verschiedenen Gesundheitssystemen zeigen, dass eine adäquate Versorgung mit Hilfsmitteln unter anderem durch den hohen administrativen Aufwand in der Versorgung und im Kostenübernahmeprozess erschwert wird 7 8 9 10 11. Es liegen bisher nur wenige systematische Untersuchungen zur Hilfsmittelversorgung bei ALS vor; insbesondere existieren kaum systematische Analysen, die die Hilfsmittelversorgung innerhalb des deutschen Gesundheitssystems abbilden 12 13 14 15 16. Zum Versorgungsgrad und zum Genehmigungsverhalten der zuständigen Kostenträger sowie zur zeitlichen Latenz von der Indikationsstellung bis zur Lieferung liegen keine Untersuchungen vor.
Methoden und Ergebnisse
Das Ambulanzpartner-Versorgungsnetzwerk (Ambulanzpartner, AP) ist ein multizentrisches Fallmanagement-Netzwerk, das ein sozialmedizinisches Fallmanagement mit einem internetbasierten Managementportal (http://www.ambulanzpartner.de) kombiniert. Nach dem informierten Einverständnis der Patienten wird der Hilfsmittelbedarf im direkten ArztPatienten-Kontakt ermittelt (Indikationsstellung), an ein Datenmanagement weitergeleitet und digitalisiert. Der entstandene Datensatz wird in einer digitalen Versorgungskette erfasst und einem Hilfsmittelversorger zugeordnet. Mit der Zuordnung eines Bedarfs an einen Leistungserbringer erhält der Versorger Zugang zu den versorgungsrelevanten Daten und vereinbart mit dem Patienten eine Beratung und die Erprobung eines Hilfsmittels. Auf dieser Basis wird eine ärztliche Verordnung erstellt und dem Kostenträger zur Prüfung eingereicht. Dieser genehmigt das Hilfsmittel oder lehnt es ab. Bei Genehmigung wird das Hilfsmittel vom Hilfsmittelversorger an den Patienten geliefert. Die einzelnen Versorgungsschritte werden auf dem AmbulanzpartnerPortal digital dokumentiert 1718.
Seit 2011 wurden deutschlandweit Patienten mit ALS an aktuell 12 spezialisierten ALS-Zentren in das AP-Netzwerk eingebunden und Daten zur gesamten Hilfsmittelversorgung bei insgesamt 1.494 Patienten mit ALS retrospektiv ausgewertet 19. Erfasst wurden sämtliche Hilfsmittel, die im Beobachtungszeitraum innerhalb des Ambulanzpartner-Netzwerkes versorgt wurden. Neben demografischen und krankheitsspezifischen Daten wurden die Kategorie und die Spezifizierung des indizierten Hilfsmittels sowie das Datum der Anforderung und der Lieferung beziehungsweise der Ablehnung des Hilfsmittels erfasst. Die Kategorisierung der Hilfsmittelgruppen erfolgte in Anlehnung an den Hilfsmittelkatalog der GKV. Insgesamt wurden von 11.364 Hilfsmittelprozessen nach Ausschluss aller unvollständigen Datensätze 9.072 Hilfsmittelprozesse ausgewertet, bei denen vom Zeitpunkt der Indikationsstellung bis zur Lieferung beziehungsweise zur Ablehnung mit Erfassung der Ablehnungsgründe der gesamte Versorgungsvorgang dokumentiert war. Der Anteil der tatsächlich gelieferten Hilfsmittel wurde als „Versorgungsrate“ definiert. Die Ablehnung wurde in einem gesonderten Statusschritt dokumentiert (Datum, Ablehnung durch Patient oder Kostenträger, Gründe der Ablehnung). Der Anteil der abgelehnten Hilfsmittel im Vergleich zur Gesamtheit der ärztlich indizierten Hilfsmittel wurde als „Ablehnungsrate“ bezeichnet. Berücksichtigt wurden ausschließlich endgültige Ablehnungen. Ablehnungen durch Kostenträger, die durch Widerspruchsverfahren revidiert wurden, wurden nicht als abgelehnt gewertet. Als „Versorgungslatenz“ wurde die Zeit zwischen der Meldung eines Hilfsmittelbedarfs und dem dokumentierten Zeitpunkt der Lieferung definiert.
Für vier ausgewählte Hilfsmittelgruppen wurde bei 479 ALS-Patienten zwischen 2011 und 2014 an vier deutschen ALS-Zentren (Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinik Bergmannsheil Bochum, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Medizinische Hochschule Hannover, Universitätsklinikum Jena) die Versorgung im Hinblick auf die Kostenübernahmeraten der Kostenträger und Lieferzeiten ausgewertet 20. Die Auswahl der analysierten Hilfsmittelgruppen orientierte sich an Relevanz, Häufigkeit und Kostenintensität 21 22 2324 25 26:
- Gesamtheit von Arm‑, Bein- und Zervikalorthesen,
- „Bewegungstrainer“ der unteren und oberen Extremitäten mit Elektroantrieb zur passiven Bewegung paretischer Extremitäten,
- Hilfsmittel der unterstützten Kommunikation einschließlich TabletComputern sowie hand‑, kopf- und augengesteuerten Kommunikationshilfen,
- Elektrorollstühle einschließlich Leichtgewicht- und Multifunktionsrollstühlen mit elektrischer Schiebehilfe.
In der Analyse wurden die fünf häufigsten Kostenträger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) berücksichtigt:
- AOK – Die Gesundheitskasse (AOK)
- Techniker Krankenkasse (TK)
- Barmer GEK (Barmer)
- DAK-Gesundheit (DAK)
- BKK
Aufgrund der geringen Patientenzahlen der einzelnen Betriebs- und Innungskrankenkassen wurden diese Versicherten in der Gruppe BKK (mit IKK) zusammengefasst. Analog wurde mit Versicherten der privaten Krankenversicherungen (PKV) verfahren (Gruppe PKV).
Abbildung 1 zeigt die erfasste Hilfsmittelversorgung. Die größten Hilfsmittelgruppen sind die der Rollstühle, der Alltags- und Badezimmerhilfen und der Orthesen; Bewegungstrainer und Gehhilfen sind deutlich weniger häufig vertreten. Die mittlere Anzahl von Hilfsmittelprozessen pro Patient liegt bei 7,6. Etwa 55 % der Patienten benötigen fünf oder mehr Hilfsmittel; bei 6,5 % der Patienten liegen über 20 Hilfsmittelversorgungsprozesse vor. Die Gesamtversorgungsrate für alle Hilfsmittel kann mit etwa 70 % angegeben werden. Die geringsten Ablehnungsraten entfallen auf die Gruppen der Gehhilfen, der Orthesen und der Alltagshilfen, während sich in den komplexen Hilfsmittelkategorien deutlich höhere Ablehnungsraten zeigen. Innerhalb der Gruppe der Rollstühle zeigen sich signifikante Unterschiede bei den Ablehnungsraten zwischen manuellen und elektrischen Rollstühlen (Abb. 2). Ablehnungsgründe und Versorgungslatenzen wurden für die Hilfsmittelgruppen Elektrorollstühle, Orthesen, motorunterstützte Bewegungstrainer und Kommunikationshilfen untersucht. Eine Ablehnung durch den Kostenträger ist der häufigste Grund für die Ablehnung bzw. das Nichtzustandekommen einer Hilfsmittelversorgung. Weitere häufige Gründe sind die Ablehnung einer Hilfsmittelversorgung durch den Patienten und der Tod des Patienten vor der Versorgung.
Auffällige Unterschiede bestehen zwischen den Ablehnungsraten einer verordneten Hilfsmittelversorgung durch die Patienten selbst. Orthesen hatten eine hohe Akzeptanz; die Versorgung mit Elektrorollstühlen war jedoch mit einer hohen Ablehnungsrate durch Patienten verbunden (Abb. 3). Auffällig war die deutlich höhere Ablehnung der Hilfsmittelversorgung bei Versicherten der PKV im Vergleich zur GKV (Abb. 4).
Von den analysierten Hilfsmitteln wurden 26,3 % von den Kostenträgern abgelehnt, wobei sich zwischen den Kostenträgern deutliche Unterschiede bei den Ablehnungsraten ergaben: TK und DAK zeigen im Vergleich die geringsten Ablehnungsraten, die Gruppen PKV und BKK die höchsten.
Für Orthesen zeigt sich mit 16,2 % eine relativ geringe Ablehnungsrate durch Krankenkassen, während in den Hilfsmittelgruppen der unterstützten Kommunikation (30,4 %), der therapeutischen Bewegungsgeräte (34,8 %) und der Elektrorollstühle (35,6 %) die Ablehnungsraten höher liegen. Die AOK zeigt eine höhere Ablehnungsrate bei Orthesen (25,4 %) im Vergleich zur DAK (10,6 %). Im Gegensatz dazu findet sich für die unterstützte Kommunikation bei der AOK die geringste Ablehnungsrate (19,2 %), während die DAK einen hohen Ablehnungswert zeigt (32 %). Bei den therapeutischen Bewegungsgeräten er geben sich insgesamt hohe Ablehnungsraten. Dennoch sind auch hier Unterschiede zwischen den Kostenträgern nachweisbar (BKK 52,2 %, TK 22,1 %). Bei Elektrorollstühlen besteht die höchste Ablehnungsrate mit erheblichen Unterschieden zwischen den Kostenträgern (BKK 50,3 %, TK 18,3 %). Zwischen den Hilfsmittelgruppen bestehen deutliche Unterschiede bei der mittleren Versorgungslatenz (Abb. 5). Zwischen einzelnen Kostenträgern finden sich bei der unterstützten Kommunikation und der Orthetik signifi kante Unterschiede in den Latenzen. Bei Elektrorollstühlen und therapeutischen Bewegungsgeräten bestehen keine signifikanten Unterschiede.
Diskussion
In dieser Übersichtsarbeit werden die ersten systematischen Analysen zur Hilfsmittelversorgung bei ALS in Deutschland vorgestellt. Bisher vorliegende Analysen einzelner Kostenträger, z. B. des „Hilfsmittelreports“ der Barmer, beruhen überwiegend auf Kostendaten und berücksichtigen keine patienten- und arztseitigen Faktoren sowie Daten zu Prozessen und Zeitabläufen, da diese Daten für Krankenkassen nur eingeschränkt zugänglich sind. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung erfolgte eine Analyse von der Indikationsstellung bis zur Lieferung oder Ablehnung eines Hilfsmittels, unabhängig von Verordner, Hilfsmittelversorger und Kostenträger. Die kostenträgerübergreifende Datenerfassung ermöglichte eine vergleichende Analyse unterschiedlicher Kranken- und Ersatzkassen. Komplexe und individuell angepasste Hilfsmittel wie elektrische Rollstühle und Kommunikationshilfen mit Umfeldsteuerungen stellen wichtige Hilfsmittelgruppen dar. So sind 13 % der ALS-Patienten mit komplexen elektronischen Kommunikationshilfen mit Augen oder Kopfsteuerung versorgt – eine vorher nicht in dieser Form beschriebene Gruppe.
Die hohe Zahl der pro Patient verordneten Hilfsmittel dokumentiert die hohe Relevanz der Hilfsmittelversorgung bei ALS. Obwohl etwa 70 % der indizierten Hilfsmittel tatsächlich geliefert wurden, zeigt sich eine hohe Ablehnungsrate bei komplexen, für die Lebensqualität und die Patientenautonomie der ALS-Patienten besonders wichtigen Hilfsmitteln, etwa bei Hilfsmitteln zur Kommunikation und zur Elektromobilität. Bei den weniger kostenintensiven Orthesen fand sich die geringste Ablehnungsrate und Versorgungslatenz. Die unterstützte Kommunikation und die therapeutischen Bewegungsgeräte wiesen etwa doppelt so hohe Ablehnungsraten und deutlich höhere Latenzen bis zur Versorgung auf.
Die für die ALS besonders relevante Hilfsmittelgruppe der Elektrorollstühle zeigte die größten Ablehnungsraten und Latenzen. Eine Ablehnung durch den Kostenträger war häufigster Ablehnungsgrund für Hilfsmittel. Kostenintensive Hilfsmittel wie Elektrorollstühle, elektronische Kommunikationshilfen und motorunter stützte Bewegungstrainer wurden häufiger abgelehnt als weniger kostenintensive Hilfsmittel wie manuelle Rollstühle.
Im Vergleich der Kostenträger ergaben sich zum Teil gravierende Unterschiede bei den Ablehnungsraten von Hilfsmitteln durch Kostenträger und bei den Versorgungslatenzen der Hilfsmittelgruppen. Bei den Krankenkassen TK und DAK bestanden die geringsten Ablehnungsraten. Vor allem bei Elektrorollstühlen fand sich eine signifi kant geringere Ablehnung bei der TK und bei der DAK im Vergleich zur AOK, den BKK und der PKV. Bei der Ablehnungsrate der Kostenträger konnten erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Kranken- und Ersatzkassen nachgewiesen werden. Entgegen der medialen Diskussion ergaben sich dabei aber keine Hinweise auf eine „Zwei-Klassen-Medizin“ zugunsten der PKV. Vielmehr zeigte die PKV in den untersuchten Hilfsmittelgruppen die höchste Ablehnungsrate. Allerdings fanden sich auch innerhalb der GKV Unterschiede, die sich mit deutlich divergierenden Ablehnungsraten darstellten und auf kassenspezifische Differenzen in den Bewilligungsprozessen hinweisen.
Angesichts dieser Unterschiede müssen „Klassenunterschiede“ eher innerhalb der GKV diskutiert werden. Die kasseninternen Entscheidungsprozesse sind weitgehend unbekannt. Es ist zu diskutieren, inwieweit bei den hohen Ablehnungsraten und Versorgungslatenzen für kostenintensive Hilfsmittel finanzielle Beweggründe der Kostenträger eine Rolle spielen und inwiefern der Versorgungsprozess aus diesen Gründen von den Kostenträgern zusätzlich verzögert wird. Es besteht eine Diskrepanz in der arzt- und kostenträgerseitigen Einschätzung der Hilfsmittelindikation, die mit einem hohen Ressourcenverbrauch an Arbeitszeit für die beteiligten Personengruppen verbunden ist. Eine Studie des Patientenbeauftragten der Bundesregierung, die das Genehmigungsverhalten von Krankenkassen zum Gegenstand hat, unterstreicht die hohe Ablehnungsrate kostenintensiver komplexer Hilfsmittel und weist ebenfalls auf das heterogene Genehmigungsverhalten unterschiedlicher Kostenträger hin 27.
An zweiter Stelle bei den Gründen für die Ablehnung steht eine Ablehnung des Hilfsmittels durch den Patienten selbst. Dies ist ein bisher nur wenig beachteter Faktor bei der Hilfsmittelversorgung. Eine Interpretation der vorliegenden Daten ist nur eingeschränkt möglich, da patientenbezogene Faktoren wie Krankheitsprogression, psychosoziale Faktoren, Bildungsstand und soziales Umfeld innerhalb der Studie nicht systematisch erfasst wurden. Zu diskutieren sind als Gründe fehlende Infrastruktur (z. B. fehlende Unterstellmöglichkeiten für Elektrorollstühle in städtischen Wohnlagen), eine Fehlversorgung mit Hilfsmitteln ohne positiven Nutzen für die Patienten oder das subjektive Erleben einer Hilfsmittelversorgung als „Meilenstein“ einer progredienten Erkrankung. Eine Einbeziehung der Patientenressourcen und ‑vorstellungen sowie sozialer Faktoren in die Hilfsmittelberatung kann hier eventuell die Versorgungsrate verbessern. Die Hilfsmittelversorgung bei an ALS Erkrankten sollte durch spezialisierte, mit dem Krankheitsbild der ALS vertraute Hilfsmittelversorger und die Möglichkeit der Erprobung eines Hilfsmittels im persönlichen Patientenumfeld erfolgen 28 29. Eine kontinuierliche Qualifi zierung aller in die Betreuung von ALS-Patienten eingebundenen Berufsgruppen und eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit sind wünschenswert 3031.
Ein weiterer Faktor einer Unterversorgung kann die Frustration des Patienten durch die Verzögerung der Hilfsmittelversorgung sein, die in der Datenbanksystematik dieser Studie als „Ablehnung durch Patienten“ klassifiziert wurde. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass die PKV die höchste patientenseitige Ablehnungsrate aufwies. Sozioökonomische Faktoren wie Abb. 5 Versorgungslatenzen für ausgewählte Hilfsmittel. Belastungen durch das Kostenerstattungsprinzip sind als Ursache zu diskutieren. Ein substantieller Anteil der Patienten war vor der Versorgung verstorben. Dafür kann neben einer im Erkrankungsverlauf zu spät gestellten Indikation für ein Hilfsmittel oder einem für die Progression der Erkrankung zu langen Versorgungsprozess auch eine überdurchschnittlich rasche Progressionsrate der ALS- Erkrankung eine Rolle spielen. Die zeitliche Latenz von der Indikationsstellung bis zur Lieferung ist eine wesentliche Herausforderung in der Hilfsmittelversorgung, wobei die längsten Versorgungslatenzen in den für die Lebensqualität und die Autonomie der Patienten essentiellen Hilfsmittelgruppen wie Elektromobilität und Kommunikationshilfen vorlagen. Vor dem Hintergrund des progredienten Charakters der Erkrankung ist eine rechtzeitige Versorgungsinitiierung sinnvoll, um unnötige Belastungen der Patienten zu vermeiden – eventuell als Konzept der „Vorabberatung“ zu Hilfsmitteln mit hoher Versorgungslatenz. Bereits bei der Beratung sollten Patienten über die zu erwartende Ablehnungswahrscheinlichkeit und die Möglichkeit eines Widerspruchs im Falle einer Ablehnung informiert werden.
Limitationen und Ausblick
Als Limitation der vorgestellten Studie ist ein „Selektionsbias“ zu nennen, da ausschließlich spezialisierte ALS-Zentren teilnahmen und somit eine spezialisierte und homogene Verordnerstruktur vorliegt. Deshalb ist es möglich, dass komplexe und kostenintensivere spezialisierte Hilfsmittel in dieser Untersuchung überrepräsentiert sind und dass der Gesamtbedarf an Hilfsmitteln höher liegt als in den Studien beschrieben. Die Versorgung mit einfachen Hilfsmitteln erfolgt möglicherweise außerhalb spezialisierter Zentren und ohne Unterstützung eines digitalen Fallmanagementportals. Um die Versorgung mit Hilfsmitteln zu optimieren, wären Studien im internationalen Vergleich wünschenswert. Trotz der zentralen Bedeutung für die Betreuung von Patienten mit ALS steht die Hilfsmittelversorgung bisher nicht im Fokus der Forschung; auch die Behandlungsleitlinien für ALS enthalten keine klaren Indikationskriterien für Hilfsmittel. Weitere Untersuchungen zur Hilfsmittelversorgung und die Schaffung von Leitlinien zur Hilfsmittelversorgung sind daher wünschenswert.
Für die Autoren
Andreas Funke
Facharzt für Neurologie
Lessingstr. 24
15745 Wildau
a.funke@neurologie-wildau.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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