Ver­sor­gungs­fall einer jugend­li­chen Sep­sis-Pati­en­tin: Schritt für Schritt ins neue Leben

Es ist einer der schlimmsten Albträume, die sich Menschen vorstellen können: nach scheinbar normalen Kopfschmerzen aus dem Koma aufzuwachen und festzustellen, dass Gliedmaßen fehlen. Ein Auslöser kann eine Sepsis aufgrund einer Meningokokken-Erkrankung sein. In Deutschland kommen laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung pro Jahr bei einer Millionen Menschen vier Meningokokken-Erkrankungen vor. Im April 2017 traf es die 1998 geborene Justina.

Die Abitu­ri­en­tin klagt am 13. April 2017 über Kopf- und Glie­der­schmer­zen. Nur einen Tag spä­ter liegt sie mit hohem Fie­ber und star­ken Schmer­zen in der Uni­kli­nik Köln. Dia­gno­se: Menin­go­kok­ken-Infek­ti­on. Die Infek­ti­on ver­läuft extrem dra­ma­tisch, mehr­fach kämpft die jun­ge Frau um ihr Leben. Inner­halb von 14 Tagen wer­den ihr ein Unter­schen­kel, spä­ter Stück für Stück alle zehn Fin­ger und zum Schluss auch der zwei­te Unter­schen­kel ampu­tiert. Dann end­lich ist die Infek­ti­on im Griff. „Sie hat über­lebt. Ihre Füße und Fin­ger jedoch nicht“, fas­sen ihre Eltern, Rita und Bru­no, das Unfass­ba­re zusam­men. Lobend erwäh­nen sie die enge Zusam­men­ar­beit von Gefäß- und Hand­chir­ur­gen in der Kli­nik. Doch bei der kli­ni­schen Nach­sor­ge erhof­fen sie sich mehr Eigen­in­itia­ti­ve der Pfle­ger. „Immer wie­der müs­sen wir an eigent­lich selbst­ver­ständ­li­che Behand­lungs­ab­läu­fe wie Ver­bands­wech­sel erin­nern“, erklä­ren Jus­ti­nas Eltern im Gespräch. Die wich­tigs­te Fra­ge für Jus­ti­na und ihre Fami­lie lau­tet aber: Was nun? Wie soll es ohne die bei­den Unter­schen­kel und zehn Fin­ger weitergehen?

Anzei­ge

Schnel­ler Kon­takt zu Orthopädie-Technikern

Die behan­deln­den Ärz­te und Pfle­ger ver­fü­gen, so der Ein­druck der Eltern, kaum über Infor­ma­tio­nen zu einer geeig­ne­ten Pro­the­sen­ver­sor­gung. Daher sei ein schnel­ler Kon­takt mit Ortho­pä­die-Tech­ni­kern sehr wich­tig für Pati­en­ten mit Ampu­ta­tio­nen. Die behan­deln­den Ärz­te über­ge­ben den Eltern eine Lis­te mit Leis­tungs­er­brin­gern in der Regi­on. Ver­merkt ist hier unter ande­rem das Unter­neh­men „Rahm – Zen­trum für Gesund­heit“, für das sich die Fami­lie nach Besich­ti­gung ver­schie­de­ner Betrie­be ent­schei­det. Zusätz­lich zu den klas­si­schen Leis­tun­gen einer Ortho­pä­die-Tech­nik-Werk­statt und eines Sani­täts­hau­ses bie­tet die Fir­ma mit der Toch­ter Pro­theo­fit eine Phy­sio­the­ra­pie für Ampu­tier­te und neu­ro­lo­gi­sche Pati­en­ten an.

Pro­theo­fit betreibt seit 2013 zudem ein Test- und Trai­nings­zen­trum für Men­schen mit Han­di­cap. „Mit­tels video­ge­stütz­ter Ana­ly­se kön­nen wir im Test- und Trai­nings­zen­trum die Wir­kung ein­zel­ner Pass­tei­le am Men­schen mes­sen und gegen­über den Kran­ken­kas­sen doku­men­tie­ren“, erläu­tert Geschäfts­füh­re­rin Mei­ke Rahm. „Das erleich­tert die Bean­tra­gung und Bewil­li­gung auch ver­gleichs­wei­se kos­ten­in­ten­si­ver Hilfs­mit­tel enorm.“ Zu den Mit­ar­bei­tern des Unter­neh­mens gehö­ren am für Jus­ti­na zustän­di­gen Stand­ort Trois­dorf-Spich auch meh­re­re Exper­ten spe­zi­ell für die Arm­pro­the­tik und für die untere­ Extre­mi­tät. „Die Spe­zia­li­sie­rung unse­rer Mit­ar­bei­ter führt zur pro­fes­sio­nel­len Behand­lung sol­cher kom­ple­xen Ver­sor­gun­gen. Unser Allein­stel­lungs­merk­mal ist die Bün­de­lung die­ser Kom­pe­ten­zen mit der Phy­sio­the­ra­pie“, erklärt Mei­ke Rahm.

Per­spek­ti­ven für eine hohe Mobilität

Nach­dem sich die Fami­lie für das Unter­neh­men in Trois­dorf ent­schie­den hat, fin­det im Mai 2017 ein ers­tes Gespräch am Kran­ken­haus­bett von Jus­ti­na statt. Mar­kus Rehm, Ortho­pä­die-Tech­ni­ker-Meis­ter bei Rahm, besucht die jun­ge Frau und ihre Fami­lie in der Kli­nik. „Ich habe einen klei­nen ent­schei­den­den Vor­teil. Ich bin zwar nur ein­sei­tig unter­schen­kel­am­pu­tiert, kann aber sehr gut aus eige­ner Erfah­rung nach­voll­zie­hen, wie sich die Zeit nach einer Ampu­ta­ti­on anfühlt“, so Rehm. „Das ist bei mir sehr prä­sent, auch wenn mein Unfall eini­ge Jah­re her ist.“ Für Jus­ti­na ist die­ser ers­te Besuch eines Ortho­pä­die-Tech­ni­kers, der anhand sei­ner eige­nen Pro­the­sen ein Bei­spiel für die Ver­sor­gung einer Unter­schen­kel­am­pu­ta­ti­on und den Umgang mit Pro­the­sen erläu­tert, „sehr wich­tig“. „Es ist ein ers­ter Schritt in Rich­tung Zukunft“, so die jun­ge Frau.

Im Vor­der­grund eines ers­ten Gesprächs ste­hen bei aller Emo­tio­na­li­tät die tech­ni­schen Aspek­te einer Pro­the­sen­ver­sor­gung. „Es ist wich­tig, den Pati­en­ten den Weg hin zum Gehen zu erklä­ren und ihnen Per­spek­ti­ven in eine mög­lichst hohe Mobi­li­tät auf­zu­zei­gen. Als Betrof­fe­ner ist das so weit weg vom der­zeit Mög­li­chen, dass ich hier sehr viel Hoff­nung auf­bau­en muss“, betont Mar­kus Rehm. „Es ist eine Grat­wan­de­rung zwi­schen größt­mög­li­cher Moti­va­ti­on und Über­for­de­rung des Betrof­fe­nen.“ Der akti­ve Leicht­ath­let, unter ande­rem Para­lym­pics-Gewin­ner im Weit­sprung, ist spe­zia­li­siert auf die Ver­sor­gung der unte­ren Extre­mi­tä­ten. Sein Kol­le­ge Ortho­pä­die-Tech­ni­ker-Meis­ter Lutz Kla­sen betreut seit 25 Jah­ren bei Rahm Men­schen mit Ampu­ta­tio­nen an den obe­ren Extre­mi­tä­ten. Gemein­sam bera­ten und beglei­ten sie Justina.

Unte­re Extre­mi­tä­ten im Fokus

In den Gesprä­chen zwi­schen den Ortho­pä­die-Tech­ni­ker-Meis­tern und der Fami­lie wird schnell klar: Jus­ti­nas größ­te Lei­den­schaft vor der Erkran­kung galt dem Tan­zen. Ihr größ­tes Ziel ist es daher, mög­lichst schnell wie­der selbst­stän­dig mobil zu sein. Zwei­tens: Ihre Hän­de sind nur teil­am­pu­tiert und erlau­ben genug Funk­ti­on, um Stütz­leis­tun­gen etwa wäh­rend des Gang­trai­nings mit Pro­the­sen zu über­neh­men. Der Schwer­punkt der Ver­sor­gung liegt damit auf den unte­ren Extre­mi­tä­ten. Im ers­ten Schritt soll­ten das Gehen und lang­fris­tig auch wie­der sport­li­che Akti­vi­tä­ten erlernt werden.

Um Jus­ti­nas Wunsch nach einer Pro­the­sen­ver­sor­gung nach­zu­kom­men, die mög­lichst vie­le Akti­vi­tä­ten zulässt, tes­ten die Ortho­pä­die-Tech­ni­ker-Meis­ter gemein­sam mit ihr vie­le Pass­tei­le im Test- und Trai­nings­zen­trum aus. Nach vier Mona­ten fällt die Ent­schei­dung: Car­bon­fa­ser­fü­ße sind für ihren Fall die bes­te Lösung. „Sie sind leich­ter als ande­re Pro­the­sen­ar­ten und sor­gen gleich­zei­tig für Sta­bi­li­tät und Dyna­mik. Zudem geben sie die gespei­cher­te Ener­gie zurück“, erklärt Lutz Kla­sen im Gespräch. „Mit ihrer Hil­fe kann die jun­ge Frau im All­tag dyna­misch und selbst­stän­dig mit wech­seln­den Geschwin­dig­kei­ten gehen.“ Inzwi­schen hat sie mit Mar­kus Rehm sogar schon auf der Lauf­bahn ers­te Run­den gedreht. „Sie ist so unglaub­lich posi­tiv gestimmt“, so Lutz Kla­sen wei­ter. „Das beob­ach­te ich bei allen Sep­sis-Fäl­len, die ich bis­her betreu­en durf­te. Es ist fas­zi­nie­rend, wozu Men­schen in der Lage sind, wenn sie ein Ziel errei­chen wollen.“

Ers­te Tanz­schrit­te nach der Amputation

Zu den emo­tio­nals­ten Augen­bli­cken in der Ver­sor­gung von Jus­ti­na zählt für die bei­den betreu­en­den Ortho­pä­die-Tech­ni­ker-Meis­ter der Augen­blick, als ein Phy­sio­the­ra­peut ihres Hau­ses, der auch Tän­zer ist, gemein­sam mit Jus­ti­na eine Tanz­cho­reo­gra­fie ein­stu­diert. „Durch ihre Erfah­rung im Hip-Hop-Tan­zen vor ihrer Ampu­ta­ti­on war das wahn­sin­nig moti­vie­rend und hat ihre Koor­di­na­ti­on extrem gestei­gert“, schwärmt Mar­kus Rehm. „Ergo­the­ra­peu­tisch wur­den Knif­fe erar­bei­tet, All­tags­si­tua­tio­nen mit den feh­len­den Fin­ger­glie­dern zu meis­tern.“ Um sport­lich aktiv zu wer­den, trägt sie eine Sport­pro­the­se mit Cheetah-Car­bon­fe­dern. Zusätz­lich ver­fügt sie über was­ser­fes­te Pro­the­sen, sodass sie sich auch frei und eigen­stän­dig im Nass­be­reich bewe­gen kann.

„Bei so schwe­ren Fäl­len, die aber gleich­zei­tig so posi­ti­ve Per­spek­ti­ven wie Jus­ti­na haben, stim­men die Kran­ken­kas­sen meist schnell und unbü­ro­kra­tisch den Ver­sor­gungs­vor­schlä­gen zu“, meint Mei­ke Rahm. „Wenn man zusätz­lich Eva­lua­ti­ons­da­ten zu den Vor­tei­len der aus­ge­wähl­ten Ver­sor­gung mit­schi­cken kann, beschleu­nigt das natür­lich den Pro­zess.“ Aller­dings sei die Ver­sor­gung mit Arm­pro­the­tik mit den Kran­ken­kas­sen ver­trag­lich nicht so gut gere­gelt wie bei den unte­ren Extre­mi­tä­ten und der Weg zur Bewil­li­gung des­halb län­ger, wie Rahm betont. „Arm­pro­the­tik ist tech­nisch oft sehr hoch­ge­rüs­tet und ent­spre­chend teu­er. Hin­zu kommt der opti­sche Aspekt, der an den obe­ren Extre­mi­tä­ten eine noch grö­ße­re Rol­le spielt.“

Doch das ist nicht der Grund, war­um Jus­ti­na bis­her kei­ne Hand­ver­sor­gung trägt, die in ihrem Fal­le aus Sili­ko­n­epi­the­sen bestehen wür­de. Die Rest­funk­tio­nen in ihren Hän­den und ihr uner­müd­li­ches Trai­ning erlau­ben ihr das Errei­chen ihrer wich­tigs­ten Zie­le: das selbst­stän­di­ge Essen und Trin­ken sowie das Anzie­hen der Bein­pro­the­sen und damit ein selbst­be­stimm­tes Leben. Um die­sen Sta­tus zu errei­chen, hat sie vor allem in den ers­ten sechs Mona­ten der Pro­the­sen­ver­sor­gung viel Zeit mit dem Erler­nen des Gehens, aber auch mit der stän­di­gen Anpas­sung des Schaf­tes an den Stumpf ver­bracht. „Zum Glück war und ist Jus­ti­na sehr sport­lich und schlank, sodass sich die Was­ser­ein­la­ge­run­gen bei ihr in Gren­zen hal­ten und zukünf­tig die Anpas­sung der Pro­the­sen nicht mehr so häu­fig statt­fin­den muss“, erklärt Lutz Kla­sen. Ob und wann Jus­ti­na eine pro­the­ti­sche Ver­sor­gung für ihre Hän­de angeht, steht noch nicht fest. Im nächs­ten Schritt will sich die jun­ge Frau auf ihr Stu­di­um der Psy­cho­lo­gie, das sie im Herbst 2018 auf­ge­nom­men hat, konzentrieren.

Viel Unter­stüt­zung – zu wenig Aus­tausch mit Fachärzten

Als erschre­ckend bezeich­net Jus­ti­na zwei Jah­re nach ihrer Erkran­kung vor allem die ers­ten Wochen des Krank­heits­ver­laufs. „Den­noch habe ich ins­ge­samt posi­ti­ve Erfah­run­gen gemacht. So beka­men wir als Fami­lie viel Unter­stüt­zung von dem Ver­sor­gungs­team, den Ärz­ten, dem Sani­täts­haus und den Pfle­gern. Die Geh­schu­le mit den Ortho­pä­die-Tech­ni­kern vor Ort ganz in unse­rer Wohn­ort­nä­he war beson­ders hilf­reich. „Das alles hat mir den Weg erleich­tert, wie­der zurück ins Leben zu fin­den“, so Jus­ti­na rück­bli­ckend. „Aller­dings ist ein inten­si­ve­rer Aus­tausch mit dem Fach­ärz­te­team nach der Kli­nik­ent­las­sung wün­schens­wert. Es gibt Fra­gen, etwa die nach einer sinn­vol­len Schmerz­the­ra­pie, die Ortho­pä­die-Tech­ni­ker nicht allein mit dem Haus­arzt beant­wor­ten kön­nen. Hier wird aus mei­ner Sicht zu wenig mit­ein­an­der gear­bei­tet.“ Jus­ti­na hin­ge­gen arbei­tet uner­müd­lich wei­ter an ihrer Mobi­li­tät und an ihrem ganz nor­ma­len Leben. Im Mai 2019 steht für sie das ers­te Leicht­ath­le­tik­trai­nings­la­ger mit Schwer­punkt Lau­fen mit dem TSV Bay­er 04 Lever­ku­sen an. Über die Web­site walkwithjustina.jimdo.com kön­nen Men­schen Jus­ti­na auf ihrem Weg beglei­ten und mit posi­ti­ven Nach­rich­ten unterstützen.

Ruth Jus­ten

Michael Blatt
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