Grei­fen trotz Hand­läh­mung – Ver­sor­gungs­bei­spiel mit myo­elek­tri­scher Handorthese

S. Matyssek, D. Hepp
Durch die Entwicklung exoskelettärer Strukturen wird der Versuch unternommen, verlorengegangene Funktionen des Bewegungsapparates möglichst gut zu ersetzen. In diesem Zusammenhang stellt die Nachbildung der komplexen Greiffunktion einer Hand eine besondere Herausforderung dar. Das Orthesensystem „exomotion® hand one“ ermöglicht es seinem Anwender, mit Hilfe eines EMG-Signals einen aktiven Orthesenaufbau anzusteuern und verschiedene Griffmuster auszuführen. Mit Hilfe digitaler Fertigungsmethoden sowie der entsprechenden Baugruppen der Herstellerfirma ist es somit möglich, ein adäquates Gesamtsystem mit individueller Passform zu verwirklichen, das seinem Anwender einen Mehrwert im Alltag bietet. Der Beitrag erläutert den kompletten Versorgungsvorgang mit einer myoelektrischen Handorthese und geht dabei auch auf das Zusammenspiel zwischen Hersteller und Orthopädietechniker ein.

Ein­lei­tung

Bis­her tra­ten akti­ve Exo­ske­let­te im Beson­de­ren zur Mobi­li­täts­ver­bes­se­rung, zur Kraft­un­ter­stüt­zung oder zu the­ra­peu­ti­schen Zwe­cken – meist im Bereich der unte­ren Extre­mi­tä­ten – in Erschei­nung. Der Fokus liegt dabei über­wie­gend auf einem kon­fek­tio­nier­ten, aber anpass­ba­ren Auf­bau 1 2 3. Bei kur­zer Anwen­dungs­dau­er spielt eine indi­vi­du­el­le Pass­form oft nur eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le – die­ser Umstand ver­än­dert sich jedoch dras­tisch, sobald eine all­tags­taug­li­che, dau­er­haf­te Bewe­gungs­un­ter­stüt­zung erzielt wer­den soll. Der Schlüs­sel dazu liegt in einer Kom­bi­na­ti­on aus indus­tri­ell her­ge­stell­ten leis­tungs­star­ken Bau­grup­pen aus den Berei­chen Steuerungs‑, Antriebs- und Ver­bin­dungs­tech­nik und einer indi­vi­du­el­len Kör­per­an­bin­dung. In der Tech­ni­schen Ortho­pä­die wird die­ses Vor­ge­hen seit Jahr­zehn­ten vor allem in der Pro­the­tik sehr erfolg­reich umge­setzt. Für die Ver­wirk­li­chung akti­ver Orthe­sen fehl­ten aller­dings bis­lang schlicht die ent­spre­chen­den Pass­tei­le – Exo­ske­let­te für die obe­re Extre­mi­tät kamen bis jetzt meist nur im Rah­men von For­schungs­vor­ha­ben im Bereich The­ra­pie 4 oder als sta­tio­nä­re Robo­ter­sys­te­me 5 zum Ein­satz. Ein im All­tag anwend­ba­res bewe­gungs­un­ter­stüt­zen­des Sys­tem stellt die „MyoPro“-Orthese dar 6.

Anzei­ge

Mit den Pro­duk­ten des Unter­neh­mens HKK Bio­nics besteht nun­mehr die Mög­lich­keit, eine voll­stän­dig indi­vi­du­el­le Hand­orthe­se (Modell „exo­mo­ti­on® hand one“) zu ver­wirk­li­chen, mit deren Hil­fe sechs Griff­mus­ter (Dau­men­griff, Drei-Fin­ger-Griff, Faust­griff, Maus­griff, Tas­ta­turg­riff, Zwei-Fin­ger-Griff) aus­ge­führt wer­den kön­nen. Durch eine direk­te Inte­gra­ti­on der ent­spre­chen­den Bau­grup­pen in den indi­vi­du­el­len Orthe­sen­auf­bau ent­steht neben einer indi­vi­du­el­len Pass­form ein schlan­kes, leich­tes und den­noch leis­tungs­star­kes Hilfs­mit­tel. Im Zuge des Her­stel­lungs­pro­zes­ses kom­men über­wie­gend digi­ta­le Fer­ti­gungs­ver­fah­ren zum Ein­satz: Neben klas­si­scher Gips­tech­nik zur Abfor­mung der indi­vi­du­el­len Hand­struk­tur wird auf 3D-Scan­ver­fah­ren, Sili­kon­tech­nik, CAD-Kon­struk­ti­on und 3D-Druck zurück­ge­grif­fen. Mög­li­che Indi­ka­tio­nen, die eine der­ar­ti­ge Ver­sor­gung begrün­den, sind distal beton­te Läh­mun­gen der obe­ren Extre­mi­tät mit gerin­ger Spas­tik. In Fra­ge kom­men­de Ursa­chen hier­für sind bei­spiels­wei­se Ver­let­zun­gen im Bereich des Ple­xus bra­chia­lis, dege­ne­ra­ti­ve Erkran­kun­gen und Schlag­an­fäl­le. Im Fol­gen­den wird anhand eines Fall­bei­spiels ein mög­li­cher Ver­sor­gungs­weg mit einer akti­ven Hand­orthe­se beschrieben.

Fall­be­schrei­bung

Der ver­sorg­te Pati­ent ist 33 Jah­re alt und lei­det seit 2014 an einer sehr lang­sam fort­schrei­ten­den Son­der­form der Amyo­tro­phen Late­ral­skle­ro­se (ALS) mit Aus­bil­dung eines Flail-Arm-Syn­droms beid­seits. Er führt sei­nen Haus­halt noch selbst­stän­dig, ist voll berufs­tä­tig und dort über­wie­gend im Büro tätig. Das Ver­sor­gungs­ziel besteht pri­mär dar­in, sei­ne Selbst­stän­dig­keit im All­tag zu ver­bes­sern bzw. zumin­dest zu bewah­ren und sei­ne noch vor­han­de­nen Bewe­gungs­fä­hig­kei­ten so gut als mög­lich zu erhal­ten. Im Spe­zi­el­len sol­len das Grei­fen und das siche­re Hal­ten von Besteck und ande­ren Gegen­stän­den ermög­licht wer­den. Der Pati­ent ist Rechts­hän­der, die Rest­kraft in bei­den Armen tages­form­ab­hän­gig, jedoch über­wie­gend gering vor­han­den. Bei­de Arme sind bis zu den Schul­tern von der Bewe­gungs­ein­schrän­kung betrof­fen. Ent­ge­gen der meist schul­ter- und ober­arm­be­ton­ten Sym­pto­ma­tik des Flail-Arm-Syn­droms ver­fügt der ver­sorg­te Pati­ent über deut­li­che Rest­funk­tio­nen in der Schul­ter und im Ober­arm, bis auf die Beu­gung des Ring­fin­gers rechts jedoch über kei­ne Funk­ti­on mehr im Bereich der Fin­ger. Eine Fle­xi­on und Exten­si­on im Ellen­bo­gen mit Kraft­grad Jan­da 3 kann eigen­stän­dig aus­ge­führt wer­den; erreicht wird die end­gra­di­ge Beu­gung aber nur durch eine Kör­per­ver­la­ge­rung nach hinten.

Ver­sor­gungs­ver­lauf

Hilfs­mit­tel­pla­nung und Anamnese

Im Vor­ge­spräch wird die grund­sätz­li­che Eig­nung des Pati­en­ten zur Nut­zung des Hilfs­mit­tels geklärt. Aus­ge­präg­te Kon­trak­tu­ren oder ein hoher Mus­kel­to­nus stel­len Kon­tra­in­di­ka­tio­nen dar. Ein poten­zi­el­ler Anwen­der muss nach Her­stel­ler­vor­ga­ben zudem älter als 18 Jah­re und kogni­tiv imstan­de sein, die Hilfs­mit­tel­ver­wen­dung und ‑steue­rung zu begrei­fen. Dar­über hin­aus muss eine grund­sätz­li­che Bewe­gungs­fä­hig­keit in den MCP-Fin­ger­ge­len­ken gege­ben sein. Für die EMG-Steue­rung des Orthe­sen­sys­tems „exo­mo­ti­on® hand one“ muss zudem eine Mus­kel­par­tie gefun­den wer­den, an der eine Ampli­tu­de in aus­rei­chen­der Höhe detek­tiert wer­den kann. Aus die­sem Grund emp­fiehlt es sich, bereits zu Beginn einen Myo­test durch­zu­füh­ren, um eine geeig­ne­te Posi­ti­on für den EMG-Sen­sor zu finden.

Sowohl im Bereich der Hand­ge­lenks­fle­xi­on (Mus­cu­lus flex­or car­pi ulnaris) als auch der Hand­ge­lenks­exten­si­on (Mus­cu­lus exten­sor car­pi­ra­dia­lis) lässt sich beim vor­ge­stell­ten Pati­en­ten ein EMG-Signal ermit­teln, das zu Steue­rungs­zwe­cken genutzt wer­den kann. Auf­grund der Bewe­gungs­ein­schrän­kung bis zu den Schul­ter­ge­len­ken ist eine Ober­arm­fas­sung zwin­gend nötig. Um einen fes­ten Sitz der Ober­arm­an­bin­dung zu gewähr­leis­ten, wird zusätz­lich auf einen Schul­ter­gurt zurück­ge­grif­fen. Zur Kraft­un­ter­stüt­zung der Fle­xi­on im Ellen­bo­gen fin­det das Gelenk „CDS-360°“ (Albrecht GmbH) zur dyna­mi­schen Redres­si­on Anwendung.

Abform­tech­nik

Die Abfor­mung der Hand sowie des Ober­arms erfolgt in klas­si­scher Wei­se mit­tels Gips­tech­nik. Die Fin­ger­an­bin­dun­gen wer­den aus HTV-Sili­kon her­ge­stellt; daher bie­tet sich das Arbei­ten mit fein­po­ri­gem Gips ohne­hin an. Bei der Gips­ab­druck­nah­me gebührt der Fin­ger­stel­lung ein beson­de­res Augen­merk. Zur kor­rek­ten Funk­ti­on der Orthe­se „exo­mo­ti­on® hand one“ gibt der Her­stel­ler Posi­ti­on und Win­kel der Fin­ger­ge­len­ke exakt vor: Die MCP-Gelen­ke müs­sen gestreckt sein (0°), PIP und DIP leicht gekrümmt (PIP 30–45° Fle­xi­on, DIP 5–15° Fle­xi­on). Der Dau­men wird im Zuge des­sen nach außen gedreht und in leicht erhöh­te Oppo­si­ti­on zum Zei­ge­fin­ger gebracht (geöff­ne­ter Schlüsselgriff).

Pro­duk­ti­on in der OT-Werkstatt

Eine grund­sätz­li­che Her­aus­for­de­rung bei der Ver­sor­gung mit kraft­un­ter­stüt­zen­den Orthe­sen besteht dar­in, die appli­zier­te Kraft mög­lichst effi­zi­ent und ziel­ge­rich­tet anzu­le­gen und die resul­tie­ren­de Bewe­gung zu len­ken. Das vor­ge­stell­te Sys­tem löst die­se Her­aus­for­de­rung durch sei­ne modu­lar auf­ge­bau­te Exo­me­cha­nik, die in die Sili­kon-Fin­ger­an­bin­dung ein­ge­bet­tet wird. Die Exo­me­cha­nik ist in zwei wich­ti­ge Seg­men­te unterteilt:

  • Die Gelenk­seg­men­te erlau­ben das Beu­gen und Stre­cken der Fin­ger (im MCP-Gelenk ist bis zu 90° Fle­xi­on möglich).
  • Die Line­ar­seg­men­te ver­fü­gen über einen trans­la­to­ri­schen Frei­heits­grad und glei­chen die Län­gen­än­de­rung des mensch­li­chen Fin­gers bei der Fle­xi­on aus. Dadurch wird eine Rela­tiv­ver­schie­bung der Exo­me­cha­nik gegen­über dem Fin­ger ver­mie­den. Durch eine Anpas­sung ihrer Anzahl und ihrer Art kann auf die Fin­ger­grö­ße reagiert wer­den. Dabei wer­den bis zu 7N Kraft ortho­go­nal zum Fin­ger­rü­cken eingeleitet.

Wäh­rend die Kunst­stoff­tei­le der Exo­me­cha­nik im Bau­kas­ten­sys­tem des Her­stel­lers mit­ge­lie­fert wer­den, muss die Fin­ger­an­bin­dung aus HTV-Sili­kon hand­werk­lich erstellt wer­den. Zur Sta­bi­li­sie­rung der Fin­ger­glie­der im dista­len Bereich der Sili­kon­fin­ger­lin­ge wur­de im hier beschrie­be­nen Fall zusätz­lich mit Car­bon-Pre­preg-Ein­la­gen gear­bei­tet. Sili­kon und Fin­ger­me­cha­nik kön­nen farb­lich nach Pati­en­ten­wunsch auf­ein­an­der abge­stimmt wer­den (Abb. 1a u. b).

Die fol­gen­den Pro­duk­ti­ons­schrit­te wer­den digi­tal durch­ge­führt. Zu die­sem Zweck wird ein 3D-Scan des Gips­po­si­tivs inklu­si­ve Fin­ger­an­bin­dung (Sil­kon­fin­ger­lin­ge + Exo­me­cha­nik) ange­fer­tigt. Es bie­tet sich an, wich­ti­ge Mar­kie­run­gen für die Kon­struk­ti­on von Unter­arm­schie­ne und Ober­arm­man­schet­te auf dem Gips­po­si­tiv zu mar­kie­ren und dadurch beim Scan­nen direkt zu erfas­sen. Im Bereich der Unter­arm­schie­ne kom­men vor­ge­fer­tig­te Scha­blo­nen zum Ein­satz, die dem Bau­kas­ten­sys­tem bei­lie­gen. Mit deren Hil­fe kön­nen die Mar­ker­punk­te auf dem Modell fest­ge­legt wer­den, die für die fol­gen­de Kon­struk­ti­on rele­vant sind, da sie unter ande­rem den Ver­lauf der Unter­arm­schie­ne defi­nie­ren. Die Ober­arm­an­bin­dung wird nach indi­vi­du­el­len Bedürf­nis­sen – aus­ge­hend vom erstell­ten Scan­mo­dell und der Ana­mne­se – in Eigen­ver­ant­wor­tung des Ver­sor­gers im Rah­men der Son­der­an­fer­ti­gung kon­stru­iert und ist nicht Bestand­teil des Lie­fer­um­fangs der Fir­ma HKK Bio­nics. Das dyna­mi­sche Redres­si­ons­ge­lenk kann auf die­se Wei­se direkt in die Kon­struk­ti­on ein­ge­bet­tet wer­den und wird in die­sem Fall über das Ver­bin­dungs­ele­ment „coni­ungi“ der Fir­ma Albrecht GmbH mit der Arm­schie­ne ver­bun­den (Abb. 2a–c).

Pro­duk­ti­on beim Passteilhersteller

Die indi­vi­du­el­le Unter­arm­schie­ne mit Auf­nah­me­stel­len für die Antrie­be, die Befes­ti­gungs­gur­te und die Exo­me­cha­ni­ken wird par­al­lel vom Sys­tem­her­stel­ler für die ers­te Anpro­be kon­stru­iert. Im Zuge des­sen wer­den Details wie z. B. die Posi­tio­nie­rung der Schlau­fen für Befes­ti­gungs­ma­te­ri­al mit dem Ortho­pä­die­tech­ni­ker bzw. der Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin abge­spro­chen. Auf Anfra­ge sorgt der Her­stel­ler für die nöti­ge Koor­di­na­ti­on mit dem Druck­dienst­leis­ter, um das Ober­arm­teil inner­halb des­sel­ben Auf­trags wie die Unter­arm­schie­ne per 3D-Druck zu erstel­len und zu fär­ben. Zum Ein­satz kommt dabei der bereits aus­gie­big in der Pra­xis erprob­te SLS-Pro­zess (SLS = Selek­ti­ves Laser­sin­tern) mit dem Werk­stoff Poly­amid 12 (PA 12). Die Fär­bung der Bau­tei­le erfolgt nach Kun­den­wunsch und eben­falls im sel­ben Pro­zess. Auf die­se Wei­se wird sicher­ge­stellt, dass sowohl ein annä­hernd glei­ches Mate­ri­al­ver­hal­ten (der­sel­be Druck­raum) als auch die glei­che Farb­ge­bung erreicht wer­den kann (der­sel­be Fär­be­pro­zess). Die 3D-gedruck­ten Mate­ria­li­en sind wie auch die Fär­bung inkl. Farb­stof­fe nach ISO 10993–5/-10 bio­kom­pa­ti­bel zertifiziert.

Im Rah­men der Ver­sor­gung wird stan­dard­mä­ßig mit der Kon­struk­ti­on einer ers­ten Arm­schie­ne zur Pro­be und einer zwei­ten Arm­schie­ne zur Defi­ni­tiv­ver­sor­gung geplant. Besteht nach der Anpro­be Opti­mie­rungs­be­darf, kann die­ser in der zwei­ten Arm­schie­ne umge­setzt werden.

Beschrei­bung des Gesamtsystems

Der gesam­te Auf­bau des akti­ven Orthe­sen­sys­tems lässt sich im hier vor­ge­stell­ten Anwen­dungs­bei­spiel in 5 Funk­ti­ons­ein­hei­ten unter­tei­len (Abb. 3a u. b; vgl. die ent­spre­chen­den Num­mern in Abb. 3b):

  1. Ober­arm­an­bin­dung mit Schul­ter­gurt zur Sta­bi­li­sie­rung der Schul­ter­ro­ta­ti­on und mit­ge­druck­ter Gelenkaufnahme
  2. Gelenk­pass­teil mit Trenn­me­cha­nis­mus zur Anbin­dung der Unterarmschiene
  3. Unter­arm­schie­ne, bestehend aus Antriebs­pa­ket mit Seh­nen (die­se fun­gie­ren mecha­nisch gese­hen als fle­xi­ble Zug- und Druck­stä­be) und in das Pols­ter inte­grier­tem EMG-Sensor
  4. Sili­kon­fin­ger­lin­ge mit außen­lie­gen­der, ins Sili­kon inte­grier­ter Exo­me­cha­nik, die durch die bidi­rek­tio­na­len Seh­nen gestreckt (Zug auf der Seh­ne) und gebeugt (Schub auf der Seh­ne) wer­den können
  5. Bedien­ein­heit mit Akku und Touch-Dis­play (wird am Gür­tel getra­gen, ermög­licht ver­schie­de­ne Ein­stel­lun­gen und die Visua­li­sie­rung des EMG-Signals zum Erler­nen der Steuerung)

Anpro­be mit Patient

Bei der Anpro­be mit dem Pati­en­ten wer­den das Anle­gen des Hilfs­mit­tels, des­sen Funk­tio­na­li­tä­ten sowie die Bedie­nung der Orthe­se erläu­tert und die ent­spre­chen­den Soft­ware­pa­ra­me­ter ein­ge­stellt. Anschlie­ßend wird das Grei­fen ver­schie­de­ner The­ra­pie­ge­gen­stän­de (Kegel, Bäl­le, Schaum­stoff) sowie all­täg­li­cher Gegen­stän­de durchgeführt.

Ins­be­son­de­re das Anle­gen der Orthe­se muss mit dem Anwen­der geübt wer­den. Für ein­sei­tig Betrof­fe­ne stellt das Anzie­hen der Unter­arm­schie­ne sowie das Anle­gen der Ober­arm­an­bin­dung bei vor­he­ri­gen Ver­sor­gun­gen nach kur­zer Zeit kein Pro­blem mehr dar. Die beid­sei­tig stark aus­ge­präg­te Bewe­gungs­ein­schrän­kung des hier vor­ge­stell­ten Pati­en­ten macht das selbst­stän­di­ge Anle­gen von Hilfs­mit­teln im der­zei­ti­gen Zustand jedoch noch unmög­lich (Abb. 4–7).

Dis­kus­si­on /praktische Eva­lua­ti­on des Versorgungsergebnisses

Wie sich gezeigt hat, ist der Pati­ent in der Lage, sich sehr schnell an die Steue­rung des Hilfs­mit­tels zu gewöh­nen. Auch das Wech­seln der Griff­mus­ter und deren dif­fe­ren­zier­tes Benut­zen ist nach kur­zer Übungs­zeit mög­lich. Die nöti­ge Zeit, die der Pati­ent auf­brin­gen muss, um bewusst eine bestimm­te Greif­funk­ti­on durch­zu­füh­ren, sinkt merk­lich mit zuneh­men­dem Trai­ning. Bereits nach kur­zer Zeit (weni­ger als eine Stun­de nach dem ers­ten Anle­gen der Orthe­se) ist der Pati­ent in der Lage, ver­schie­de­ne Greif- und Trans­port­auf­ga­ben zu bewäl­ti­gen, die für ihn ohne Orthe­se nicht mög­lich sind. Teil­wei­se wird dabei die lin­ke Hand als Wider­la­ger oder zur Sta­bi­li­sie­rung des Objekts genutzt. Der Pati­ent konn­te bereits bei der Anpro­be selbst­stän­dig im Sit­zen eine Mahl­zeit mit den Hän­den zu sich neh­men, die er nach eige­ner Aus­sa­ge sonst auf dem Boden kniend von der Tisch­kan­te essen müss­te. Gegen­stän­de wie Was­ser­fla­schen oder ein Tele­fon kön­nen in ver­schie­de­nen Raum­hö­hen auf­ge­nom­men und wie­der abge­legt wer­den. Das Anhe­ben des Armes wird effi­zi­ent und wirt­schaft­lich durch das dyna­mi­sche Redres­si­ons­ge­lenk unter­stützt, sodass die Hand trotz des zusätz­li­chen Ver­sor­gungs­ge­wichts („exo­mo­ti­on® hand one“ ohne Bedien­ein­heit: 685 g; Ober­arm­teil: 414 g) aktiv in Rich­tung Kopf und Mund geführt wer­den kann. Durch die indi­vi­du­el­le Kör­per­an­bin­dung ist die Pass­form laut Aus­sa­ge des Pati­en­ten sehr zufriedenstellend.

Limi­tie­run­gen

Gleich­wohl weist die Ver­sor­gung bestimm­te Limi­tie­run­gen auf. Durch die feh­len­de Pro- und Supi­na­ti­on ist die Aus­füh­rung man­cher Griff­mus­ter (bei­spiels­wei­se Tas­ta­turg­riff) in die­sem Fall nicht oder nur durch Aus­gleichs­be­we­gun­gen mit dem Ober­kör­per möglich.

Eine wei­te­re Limi­tie­rung stellt in beid­sei­tig betrof­fe­nen Fäl­len – wie dem hier vor­ge­stell­ten – das selbst­stän­di­ge Anle­gen dar, das bei der ers­ten Arm­schie­ne noch nicht mög­lich ist. Im Bereich der Hand­auf­la­ge und der Ober­arm­man­schet­te soll zukünf­tig – im Rah­men der Kon­struk­ti­on der Defi­ni­tiv-Arm­schie­ne – durch klapp­ba­re Bestand­tei­le und Ras­ter­ver­schlüs­se das selbst­stän­di­ge Anle­gen ermög­licht wer­den. Des Wei­te­ren soll eine Wand­hal­te­rung kon­stru­iert und ange­fer­tigt wer­den, in wel­che die Orthe­se zum Ein- und Aus­zie­hen ein­ge­hängt wer­den kann.

Fazit

Das hier beschrie­be­ne Fall­bei­spiel zeigt Mög­lich­kei­ten und Ein­schrän­kun­gen bei der Ver­sor­gung mit akti­ven Hand­orthe­sen auf. Die Kom­bi­na­ti­on aus indi­vi­du­ell her­ge­stell­ter Kör­per­an­bin­dung und vor­ge­fer­tig­ten Pass­tei­len erweist sich erneut als leis­tungs­star­ke Kom­bi­na­ti­on. Durch die Kon­se­quen­te Nut­zung digi­ta­ler Fer­ti­gungs­me­tho­den kön­nen Aspek­te wie Design, Pass­form, Gewichts­re­duk­ti­on und Funk­tio­na­li­tät opti­mal berück­sich­tigt wer­den. Je nach Aus­prä­gung der Läh­mung ste­hen unter­schied­li­che Ver­sor­gungs­kon­zep­te (bspw. mit oder ohne Ober­arm­an­bin­dung) zur Ver­fü­gung. Der erreich­ba­re Funk­ti­ons­um­fang hängt jedoch von der indi­vi­du­el­len Kon­sti­tu­ti­on des Pati­en­ten ab. Es gilt daher im Vor­feld die grund­sätz­li­che Eig­nung zur Steue­rung und Bedie­nung des Hilfs­mit­tels abzu­klä­ren und dem Pati­en­ten ein rea­lis­ti­sches Bild des mög­li­chen Ver­sor­gungs­er­geb­nis­ses zu ver­mit­teln. Bei dop­pel­sei­ti­ger Bewe­gungs­ein­schrän­kung bestehen zum jet­zi­gen Zeit­punkt noch Limi­ta­tio­nen beim eigen­stän­di­gen An- und Able­gen der Orthe­se. Dem Pati­en­ten ist es (trotz etwa­iger Ein­schrän­kun­gen) auf­grund der akti­ven Orthe­se jedoch mög­lich, Gegen­stän­de zu grei­fen, unter­schied­li­che Griff­mus­ter zu ver­wen­den und eigen­stän­dig zu essen. Durch geziel­tes Trai­ning soll der Umgang mit dem Hilfs­mit­tel kon­ti­nu­ier­lich ver­bes­sert wer­den. Außer­dem soll durch Ver­bes­se­run­gen am Orthe­sen­auf­bau in den Berei­chen Ver­schluss­tech­nik und Anzieh­hil­fen ein höhe­res Maß an Eigen­stän­dig­keit erreicht werden.

Die Autoren:
Stef­fen Matyssek, M. Sc.
Lei­ter For­schung und Entwicklung
Häuss­ler Tech­ni­sche Ortho­pä­die GmbH
Jäger­stra­ße 6
89073 Ulm
matyssek@haeussler-ulm.de

Domi­nik D. Hepp, M. Eng.
Geschäfts­füh­rer
HKK Bio­nics GmbH
Prit­t­witz­stra­ße 100
89075 Ulm
hepp@hkk-bionics.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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