Stehen – Grundposition des menschlichen Körpers
Der zweibeinige, aufrechte Stand des Menschen ist das Ergebnis eines langen funktionell-anatomischen Entwicklungsprozesses der menschlichen Evolution. Der Umbau des Bewegungsapparates ging dabei Hand in Hand mit der Entwicklung des Großhirns. Stehen und Gehen sind komplexe sensomotorische Leistungen. Bei Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Nervensystems sind daher Auffälligkeiten der Haltung und des Gangbildes zu beobachten. Das erstmalige Erreichen des Stehens und Gehens ist ein Meilenstein der kindlichen Entwicklung und hängt unmittelbar mit der Entwicklung der Psyche und des Selbstbewusstseins zusammen. Schwere neuromotorische Störungen führen zu mangelnder selbstständiger Vertikalisierung und bei Ausbleiben einer ausreichenden Steh- bzw. Gehtherapie in weiterer Folge zu Störungen zahlreicher Organfunktionen.
Ziel einer Steh- und Gehtherapie bei Menschen mit zerebralen Bewegungsstörungen und neuromuskulären Erkrankungen ist daher der Ausgleich der „behinderten Vertikalisation“, um Sekundärschäden des Körpers zu vermeiden.
Die Ziele der Vertikalisierung können wie folgt zusammengefasst werden:
- Verbesserung der Kraft der tonischen „Anti-Schwerkraft-Muskulatur“ mit Kräftigung der Kopf‑, Rumpf- und Haltungskontrolle und erleichterter Aktivierung der oberen Extremitäten,
- Verbesserung der Sensorik und der Perzeption mit Beeinflussung des Muskeltonus und Hemmung spastischer Muskelüberaktivität,
- Vergrößerung des Bewegungsausmaßes der Muskeln und Gelenke mit Vorbeugen von Sekundärschäden durch Erhalt der Dehnfähigkeit des Muskels und damit Vermeidung von Kontrakturen und konsekutiven knöchernen Deformitäten sowie Vermeidung häufig unterschätzter muskuloskelettaler Schmerzen,
- Beeinflussung des Knorpelwachstums und der Gelenkentwicklung,
- Belastung der unteren Extremitäten und Wirbelsäule zur Vermeidung einer Inaktivitätsosteoporose,
- im Wachstumsalter Stimulation der Wachstumsfugen,
- Verbesserung urologischer Funktionen,
- Verbesserung gastrointestinaler Funktionen,
- Vermeidung von Hautproblemen,
- Verbesserung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit,
- Verbesserung der zerebralen Leistungsfähigkeit,
- Normalisierung des Serotonin-Stoffwechsels,
- Reduktion psychologischer Probleme durch Steigerung des Selbstbewusstseins.
Behandlungsoptionen zur Vertikalisierung sind die aktive und passive Steh- und Gehtherapie durch die erfahrenen Hände der Therapeutin und Betreuungsperson oder durch das unterstützende orthetische oder rehabilitationstechnische Gerät der spezialisierten Orthopädie-Technik. Außerdem ist das Erreichen einer aktiven Stehbereitschaft für selbstständiges Stehen oder Transferstehen und Transfergehen ein Ziel der Steh- und Gehtherapie. Bewegungstherapeutische Behandlungsansätze fördern die folgenden Aspekte:
- die aktive Stehbereitschaft mittels Desensibilisierung der Fußsohlen,
- die Anbahnung einer symmetrischen Haltung in den tiefen Lagen,
- die Kräftigung der aufrichtenden Muskulatur in den tiefen Lagen,
- die Anbahnung der Gewichtsübernahme über die erhöhte Bauchlage,
- das Erreichen eines ersten Fußsohlenkontakts durch Heruntergleiten, danach teilweise Gewichtsübernahme,
- die Anbahnung des symmetrischen, aktiven Sitzens sowie von Gewichtsverlagerung und alternierenden Beinbewegungen im Sitz,
- die Anbahnung eines symmetrischen, aktiven Standes und einer Gewichtsverlagerung (Keil-Bastendorff, zit. nach Käferle 1).
Auch durch regelmäßige Gewichtsübernahme in Ganzkörper-Stehorthesen bei Kindern oder in Stehständern sowie in Schrägliegebrettern bei Erwachsenen kann die aktive Stehbereitschaft gezielt gefördert werden. Erfahrungen mehrerer Zentren zeigen, dass die oben angeführten Ziele tatsächlich erreicht werden können. Jedoch existieren bislang nur sehr wenige Studien, die diese Ergebnisse objektiv unterstützen oder Zahlenangaben zur täglichen Mindestdauer der Vertikalisierung liefern.
Gehen – Physiologie und Pathologie
Das Gehen des Menschen kann als „aufrechte Fortbewegung mit reziproker, weitgehend unwillkürlich automatisierter, aber steuerbarer Beinbewegung“ definiert werden. Es handelt sich um eine komplexe motorische Leistung, an der Lokomotionsgeneratoren des Rückenmarks und bestimmte Hirnareale beteiligt sind. Die Existenz von Lokomotionszentren konnte bei Menschen noch nicht nachgewiesen werden – sie sind bisher nur im Tierexperiment mit Katzen, bei denen sich durch Elektrostimulation Schritte auslösen lassen, untersucht worden. Jahn 2konnte in einer Studie, in der sich Testpersonen Stehen und Laufen vorstellen mussten, zeigen, dass Gehen und Laufen nur wenige kortikale Areale, viel stärker jedoch subkortikale Areale des Kleinhirns und im Hirnstamm aktivieren, sodass diese als Äquivalent zu bei Tieren bekannten Lokomotionszentren bezeichnet werden könnten. Deaktivierungen in somatosensorischen und vestibulären Arealen würden dabei die Annahme einer Inhibition sensorischer Signale bei der Lokomotion unterstützen.
Das pathologische Gangbild bei Menschen mit neuromotorischen Erkrankungen resultiert aus einer Vielzahl von primären (fehlende selektive Muskelsteuerung, Muskelschwäche bei schlaffer und spastischer Lähmung), sekundären (Kraftimbalance der Muskeln über Gelenken), tertiären (Hebelarmdysfunktionen durch Kontrakturen und knöcherne Deformitäten) und kompensatorischen (überschießend stabilisierende Muskelaktivität) Veränderungen.
Sowohl bei spastischen als auch bei schlaffen Lähmungen führt die Schwäche der Muskulatur zu Hebelarm-Dysfunktionen, die unterschiedliche Auswirkungen auf das Gangbild zeigen. Typische Gangstörungen sind ein verlangsamtes Gehen, Zehenballengang, Einwärtsgang, Kauergang, Mal-alignment der Beinachse durch Knie-Einwärts- und Fuß-Auswärtsdrehung, „Stiff-Knee-Gait“ bei Oberschenkelspastik und fehlender Kniebeugung während der Schwungphase, aber auch bei kompensierend-stabilisierender Knieüberstreckung bei Lähmung der Oberschenkelmuskulatur.
Für jede Verbesserung des Gangbildes bei neuromotorischen Erkrankungen müssen diese Elemente der Gangstörung analysiert, die pathophysiologischen Mechanismen erkannt und ein individuelles Behandlungskonzept erstellt werden (Abb. 1 u. 2). An zerebralen Bewegungsstörungen sind typischerweise folgende Mechanismen beteiligt:
-
- reduzierte Muskelkraft
- verkürzte Hebelarme (z. B. Coxa valga)
- fehlrotierte Hebelarme (z. B. Femur, Tibia)
- instabile Gelenke (z. B. Plattfuß)
- abnorme Gelenkdrehpunkte (z. B. Hüftluxation)
Für die Behandlung neuromotorischer Gangstörungen kann die Differenzierung von „aktivem“ und „passivem“ Gehen oder Bewegen hilfreich sein:
- Aktives Gehen/Bewegen kann als „Gehen oder Bewegen mit eigener Kraft der tonischen Antischwerkraft- und der phasischen Antriebsmuskulatur mit stabilen Gelenken“ definiert werden.
- Passives Gehen/Bewegen kann als „Gehen oder Bewegen der Extremitäten durch dynamische Steh-Geh-Hilfen und Bewegungshilfen bei mangelhafter Muskelkraft, Muskelsteuerung und/oder pathologischer Gelenkposition“ bezeichnet werden.
Entwicklung von Hilfsmitteln für das Gehen
Spezifische Aufgaben eines orthopädietechnischen Hilfsmittels zur Gehtherapie bestehen darin,
- Fortbewegung mit Gewichtsübernahme zu erreichen,
- Spastik durch Stabilität zu reduzieren,
- Schmerzen vorzubeugen bzw. sie zu behandeln,
- lagerungsbedingten Druck zu verteilen bzw. Deformitäten zu vermeiden,
- das Wachstum zu lenken,
- Arme und Hände von Stütz- und Fortbewegungsaufgaben zu befreien sowie
- Entwicklung und Reifung, Selbstbewusstsein und Teilhabe zu fördern.
Ob ein orthopädietechnisches Hilfsmittel Einfluss auf die Lebensqualität hat, hängt von zwei Faktoren ab: von seiner biomechanischen Wirksamkeit und von seiner regelmäßigen Verwendung. Zur biomechanischen Wirksamkeit von Hilfsmitteln auf den natürlichen Verlauf bei neuroorthopädischen Erkrankungen gibt es keine Langzeitstudien. Bereits seit etwa 1920 (Phelps) besteht eine multimodale Behandlung, und es gibt daher nur wenige unbehandelte Patienten und nur wenige Untersuchungen zur Lebensqualität Erwachsener. Ob ein Hilfsmittel tatsächlich verwendet wird, hängt von der Passform, der tatsächlichen Funktionsverbesserung im Alltag, vom Selbstvertrauen der Betroffenen, von der Akzeptanz durch Freunde, vom Verstehen des Sinnes und von der Kommunikation im Behandlungsteam ab 3. Zur Unterstützung des aktiven Gehens werden Rollatoren verwendet. Sogenannte Anterior-Walker werden vor dem Körper geschoben und erlauben eine visuelle Kontrolle; Posterior-Walker werden hinter dem Körper hergezogen und erlauben eine bessere Aufrichtung des Rumpfes durch eine senkrechte Stützfunktion der oberen Extremitäten. Voraussetzung für die Verwendung ist eine ausreichende Stabilität des Rumpfes und der unteren Extremitäten mit aktiv stabilisierbaren Wirbel‑, Hüft‑, Knie- und Sprunggelenken.
Fehlt entweder Rumpf‑, Becken-Rumpf- oder Beinachsen-Stabilität, muss zusätzlich die Anpassung unterstützender orthetischer Maßnahmen wie einer LWS- oder Hüft-Orthese, einer hüftübergreifenden Beinorthese oder einer Unterschenkel-Funktionsorthese erfolgen. Ist die Muskelsteuerung oder die Kraft für die Vorwärtsbewegung zu schwach, kann ein reziproker Mechanismus diese Aufgabe übernehmen und eine passive Gehbewegung bzw. „Lokomotion“ auslösen.
Zur Unterstützung des passiven Gehens bzw. für die Lokomotionstherapie werden Robotik-Trainer verwendet, die eine reziproke Bewegung der unteren Extremitäten mit Beinführung und teilweiser oder kompletter Gewichtsübernahme ermöglichen. Passives Gehen kann beispielsweise mit einem „Lokomaten“ erfolgen. Dabei handelt es sich um einen elektrisch betriebenen Laufroboter, der mit Hilfe von Gehorthesen für beide Beine mit je einem Knie- und Hüftantrieb geführte Schritte in der Art eines Gangbildes ermöglicht. Eigene Muskelaktivität und Ganggeschwindigkeit können individuell für jeden Patienten reguliert werden. Ebenso kann ein Tragesystem das Körpergewicht des Patienten stufenlos übernehmen und damit die Gewichtsbelastung der Beine auf dem Laufband steuern.
Zur Wirksamkeit der Lokomotionstherapie existieren mehrere Studien. Aktuell konnten Druzbicki und Kollegen 4 eine Verbesserung von Geschwindigkeit, Ausdauer und Mobilität bei Patienten mit Schlaganfall nachweisen. Bei Kindern mit Zere-bralparese konnten sie bereits 2010 eine signifikante Verbesserung des Gleichgewichts 5 und eine signifikante Verbesserung der Hüftflexion, auch während der Schwungphase, nach einem Rehabilitationsprogramm mit dem Lokomaten 6 ermitteln. Borggraefe 7 und Zwicker 8 wiesen 2010 in ihren Untersuchungen eine Steigerung der Ganggeschwindigkeit nach, Letzterer auch Verbesserungen der Schrittlänge sowie der Seitschrittlänge nach einem mehrwöchigen Training mit dem Lokomaten.
Auch bei Verwendung eines einfachen Bewegungstrainers in sitzender Position (z. B. Motomed, Theramed etc.) konnte eine Verbesserung motorischer Funktionen nachgewiesen werden 9 10. Möglicherweise sind bereits passive reziproke Beinbewegungen wirkungsvoll. König ermittelte im Jahr 2008 einen positiven Einfluss eines virtuellen Gangtrainings mit dem Lokomaten auf die motorischen Fähigkeiten bei Kindern mit Zerebralparese 11: Je mehr Körpergewicht übernommen wird, umso stärker war der therapeutische Effekt. Willoughby stellte 2010 fest, dass für signifikante Verbesserungen der Ganggeschwindigkeit, des Bewegungsausmaßes und der Schrittlänge eine maximale Gewichtsbelastung der unteren Extremitäten notwendig ist 12.
Dies zeigt auch die Untersuchung von Käferle 13, die Funktionsverbesserungen bei Anwendung eines Lokomotions-Trainers (Innowalk) mit geführter reziproker Bewegung der unteren Extremitäten mit voller Gewichtsübernahme aufzeigen konnte, wobei die Wirkung von der Dauer der Therapie abhängig war: „Nach der dreimonatigen Intervention [mit dem Innowalk; d. Verf.] hat sich das Bewegungsausmaß der Hüftgelenke in allen drei Bewegungsebenen nachweislich vergrößert. Die Spastizität der Hüftadduktoren und der Ischiocruralen Muskulatur zeigten ebenfalls eine signifikante Verbesserung gegenüber der Kontrollgruppe. Somit ist ein direkter Einfluss des Bewegungstherapiegerätes auf das Hüftgelenk von Kindern mit Cerebralparese angezeigt. Auch im funktionellen Bereich konnten die Kinder der Versuchsgruppe vom zusätzlichen Angebot hinsichtlich ihrer sensomotorischen Entwicklung profitieren. Ausschlaggebend für die positiven Ergebnisse war die Dauer der Intervention. Der Innowalk bietet eine großartige Möglichkeit, Kinder mit cerebralen Bewegungsstörungen, GMFCS IV und V ausreichend und unabhängig von ihrer Körpergröße und ihrem Gewicht achsengerecht zu mobilisieren sowie die Beweglichkeit des Hüftgelenks zu erhalten oder sogar zu verbessern“ (Abb. 3).
Entwicklung von Gehtrainern
Die therapeutische Wirksamkeit der Lokomotionstherapie, abhängig von einer möglichst lang andauernden Gewichtsübernahme, und die sich daraus ergebende Notwendigkeit der Motivation der Anwender führte zur Entwicklung eines Hilfsmittels zur selbstbestimmten Steh- und Gehmöglichkeit für den Alltag mit Becken-Rumpf-Stabilisierung und orthetisch geführter reziproker Beinbewegung: zum Gehtrainer.
In den letzten 20 Jahren wurden international zahlreiche verschiedene Modelle von Gehtrainern entwickelt. Die heute gängigen Gehtrainer wie „NF-Walker“, „ProWalker“ oder „Thomy-Walker“ erfüllen die genannten Voraussetzungen. Es handelt sich dabei um an den Körper nach Maß angepasste Hilfsmittel zur Erleichterung der Gehfunktion durch Rumpf-Becken-Stabilisierung, Beinführung mit reziproker Schrittauslösung und (teilweiser) Gewichtsübernahme.
Eigenschaften der Gehtrainer
Unterschiedliche Modelle von Gehtrainern haben ein gemeinsames Grundkonzept: Sie bestehen aus einem leichten, mobilen, aber ausreichend stabilen Fahrgestell mit Pelotten im Bereich des Beckens und des Rumpfes, um Becken-Rumpf-Stabilität und Aufrichtung für das Stehen und Gehen zu gewährleisten und möglichst frei beweglich einsetzbare obere und stabile untere Extremitäten zu erreichen (Abb. 4). Einige Modelle, z. B. der NF-Walker, verwenden die Kombination eines schalenlosen Orthesenapparates, der mit einem ebenso leichten, mobilen Fahrgestell fest verbunden ist. Dieser Schienenapparat mit symmetrischen thorakalen und pelvikalen Stützen dient der Stabilisierung des Rumpfes und des Beckens. Eigenaktivität und Beweglichkeit werden so wenig wie möglich eingeschränkt, und die Orthese stützt nur an jenen Stellen, die für die ausreichende Aufrichtung für das Stehen und Gehen notwendig sind. Damit sind die oberen Extremitäten von Stütz- und Fortbewegungsaufgaben befreit und können gezielt eingesetzt werden.
Die Hüft- und Kniegelenke des Schienenapparates sind in der Sagittalebene individuell frei beweglich und erlauben Beugung und Streckung; die anderen Ebenen sind zur Vermeidung einer Instabilität gesperrt. Eine zu schwache Kniestreckkraft – und damit die Aufrichtung – wird durch einen individuell einstellbaren Seilzug in Richtung Kniestreckung unterstützt. Die Sprunggelenke werden durch eine gelenkige Verbindung zwischen Apparat und Stabilschuhen in Neutralstellung stabilisiert bzw. die Schuhe mit einem Adapter gehalten, z. B. beim ProWalker. Das Fahrgestell besitzt frei bewegliche, individuell sperrbare Räder, um eine optimale Beweglichkeit im Raum zu ermöglichen. Eine ventrale Armstütze kann als Lenker dienen. Die Verbindung des schalenlosen Orthesenapparates zum Fahrgestell ist als gefederte Aufhängung gestaltet, um die Mobilität in der Vertikalebene zu fördern und die Gewichtsübernahme zu modulieren. Bei einigen Modellen ist das Heben des Kindes mit dem Apparat erforderlich, bei anderen, z. B. beim Thomy-Walker, ist ein Einstieg von hinten möglich.
Gehtrainer sind in unterschiedlichen Größen für verschiedene Altersgruppen, Körpergrößen und Körpergewichtsklassen, also sowohl für Kleinkinder ab etwa 3 Jahren als auch für Jugendliche und Erwachsene bis 180 cm und 80 kg, erhältlich. Zusatzausstattungen wie Kopfstützen, Handgriffe, Tische oder Steuerungselemente sind je nach Modell verfügbar. Da in jedem Fall eine individuelle Anpassung erforderlich ist, bieten die Hersteller meist ein komplettes Versorgungskonzept inklusive Serviceterminen an. Der Vorteil dessen liegt in der längerfristigen Betreuung, der Nachteil in höheren Kosten und mitunter Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme.
Prinzipiell besteht durch die individuelle Anpassung der Gehtrainer eine hohe Flexibilität der Versorgung. Alle drei Modelle, NF-Walker, Pro-Walker und Thomy-Walker, sind grundsätzlich ähnlich aufgebaut, sodass Unterschiede vor allem durch diese individuelle Anpassung auftreten. Daraus folgt, dass aus neuroorthopädischer Sicht auch die Indikationsbereiche und Kontraindikationen für die drei Modelle gleich bewertet werden können.
Indikationen
Der Indikationsbereich der Gehtrainer umfasst Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene mit neuromotorischen Bewegungsstörungen, meist spastischen Lähmungen ohne Möglichkeit einer freien Gehfähigkeit oder einer stabilen aktiven Gewichtsübernahme. Gehtrainer können auch für frühe Phasen der postoperativen Mobilisation eingesetzt werden, wenn eine Einschränkung und Führung der Gelenkbeweglichkeit bei Gewichtsübernahme notwendig sind. Bei zahlreichen neuromuskulären Erkrankungen kann die Indikation für die Versorgung mit einem Gehtrainer gestellt werden. Es handelt sich dabei um seltene Krankheiten des Nerven- oder Muskelsystems, die mit einer ausgeprägten Einschränkung der Kraft oder Steuerung der Rumpf- und Beinbewegungen einhergehen.
Voraussetzung zur Verwendung des Gehtrainers sind eine ausreichende Kopfkontrolle, räumliche Wahrnehmung und fehlende oder nur wenig fortgeschrittene strukturelle Veränderungen des Bewegungsapparates der unteren Extremitäten, um eine weitgehende Normalstellung der Gelenke mit Hüft- und Kniestreckung sowie neutralem Sprunggelenk im Orthesenapparat erreichen zu können. Hinweise zu krankheits‑, alters- und ICF-spezifischen Indikationen geben die „Standards für die orthopädietechnische Versorgung von Menschen mit neuromotorischen Erkrankungen“ 14(Tab. 1).
Klinische Ergebnisse der Anwendung von Gehtrainern
In Zentren, die Kinder mit Zerebralparesen betreuen, konnten bereits seit Jahren Erfahrungen mit Gehtrainern während der Therapie und in der Verwendung zu Hause gesammelt werden. Eine Fallstudie von Smarnia aus dem Jahr 2012 15 beschreibt die Messung der kardiopulmonalen Funktionsverbesserung und die Förderung der sensomotorischen Entwicklung eines Kindes mit neurologischem Defizit. Die subjektiven Beobachtungen unterstützen die oben angeführten Publikationen zur Lokomotionstherapie (Abb. 5).
Ihre Beobachtungen zur psychomotorischen Förderung von Kindern durch die Verwendung von Gehtrainern schildert Kannegießer-Leitner 16: „Die entscheidende Frage in der Therapie eines Kindes mit schwerer Mehrfachbehinderung ist sehr oft diejenige, zu welchem Zeitpunkt man ein Kind zum unterstützten Stehen und Gehen bringen kann bzw. darf.
Die einzelnen Therapierichtungen beurteilen diese Frage sehr unterschiedlich. Während das sehr frühe Hinstellen auf die eigenen Füße bzw. die sehr frühe Vertikalisation die Gefahr der Skoliose birgt, läuft man bei einem Hinauszögern dieses Zeitpunktes Gefahr der Hüftreifungsstörung bis hin zur Hüftluxation, da die Hüfte zur korrekten Ausreifung entsprechende Reize benötigt. Insofern gilt es bei jedem Kind aufs Neue zu prüfen, ab wann mit der Vertikalisation, also der Aufrichtung in die Senkrechte, begonnen werden darf.
Ein Punkt, der in dieser Frage häufig viel zu wenig Beachtung findet, ist die Meinung des Kindes dazu. Nur wer schon einmal erlebt hat, wie ein Kind, welches entweder gar nicht oder nur mit schweren Mühen und unterstützt durch Helfer gehen kann, reagiert, wenn es in einer Gehübungshilfe die ersten selbständigen (mehr oder weniger vorsichtigen bzw. forschen) Schritte macht, kann verstehen, warum mir die Meinung des Kindes hierüber so wichtig ist. Auch Kinder, die so stark behindert sind, dass sie ihre Gefühle nicht mit sprachlichen Ausdrücken wie ‚das kann ich alleine‘ oder ‚gehen wie die anderen‘ belegen können, spüren diese hinzugewonnene Selbständigkeit und reagieren dementsprechend freudig darauf.“
Im Gegensatz zu den zahlreichen Anwenderberichten sind wissenschaftliche Studien zu Gehtrainern äußerst spärlich 17. Paleg und Livingstone 18 konnten 2015 in ihre Metaanalyse 17 Studien mit insgesamt 182 Kindern mit einer Bewegungseinschränkung einschließen. Die Gehtrainer wurden zu Hause oder in einer Schule verwendet, und das gemessene Studienergebnis bezog sich spezifisch auf die Verwendung des Gehtrainers. Zwei unabhängige Reviewer untersuchten Titel, Abstract und Volltextversion der Arbeiten.
Das Ergebnis der Analyse: Zwei Studien mit Evidenz-Level II mit kleinem randomisiertem Patientenkollektiv berichten von einer nicht signifikanten Tendenz zu einer verlängerten Gehstrecke bzw. einer größeren Anzahl von Schritten. Zwei Level-III-Studien zeigen eine signifikante Verbesserung der Mobilität bzw. der Verdauungsfunktion und einen Zusammenhang zwischen der Anwendungsdauer des Gehtrainers und der gemessenen Knochendichte auf. Die anderen deskriptiven Studien beschreiben durchgehend Verbesserungen von verschiedenen Mobilitäts-Scores, von Verhalten, Motivation und Teilhabe. Nachteile oder ungünstige Effekte der Verwendung der Geräte werden nicht berichtet.
Dies entspricht auch den Erfahrungen in der Klinik des Verfassers und den von ihm betreuten Einrichtungen mit allen drei genannten Modellen. Es ist durchweg eine hohe Akzeptanz der Geräte durch die Patienten und deren Familien nach einer kurzen Probezeit von wenigen Tagen festzustellen. Bei regelmäßiger Verwendung von täglich mindestens 30 bis 60 Minuten konnten Verbesserungen der Gelenkbeweglichkeit, der Gelenkentwicklung, der Motorik und der Alltagsaktivitäten abhängig von der motorischen Erkrankung, aber unabhängig vom verwendeten Modell festgestellt werden.
Der Autor:
Prof. Dr. Walter Michael Strobl MBA
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie
Schwerpunkte: Kinderorthopädie, Neuroorthopädie, Rehabilitation
Institut MOTIO für Kinder- und Neuroorthopädie
A‑1080 Wien, Breitenfelder Gasse 18–20
A‑1010 Wien, Schönlaterngasse 9/10b
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Strobl MW. Geräte zur selbstbestimmten Gehtherapie mit reziproker Beinführung – neuroorthopädische Empfehlungen. Orthopädie Technik, 2019; 70 (1): 27–33
- Der Verlag OT wünscht frohe Weihnachten! — 23. Dezember 2024
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
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